Venedig und die Angst vor den Fluten

Zu viel Wasser, zu wenig Touristen

21:34 Minuten
Das Foto zeigt den Markusplatz (Piazza San Marco) im Abendlicht als er während der außergewöhnlichen Flut am 17. November 2019 komplett unter Wasser stand.
Der Markusplatz unter Wasser: Venedig ist Hochwasser gewöhnt, nicht aber ein solches Ausmaß wie im November letzten Jahres. © Getty Images / NurPhoto / Marco Serena
Von Lisa Weiß  · 29.07.2020
Audio herunterladen
Venedig leidet unter den Hochwasserschäden des vergangenen Novembers. Sogar der Markusdom ist beschädigt. Viele Händler verloren ihre Waren und jetzt fehlen auch noch die Touristen. Ungewöhnlich für die Lagunenstadt. Und beängstigend.
Bunte Ketten, Ohrringe, Armbänder – der ganze Laden von Niccolò Sitto ist voller Schmuckstücke aus Murano-Glas. Seit rund fünf Jahren führt er das kleine Ladengeschäft am Markusplatz in Venedig, seine Eltern sind Kunsthandwerker – ein Familienbetrieb. Hochwasser sind sie hier in Venedig gewohnt, sagt Niccolò Sitto bei unserem Besuch im Februar. Aber das Hochwasser vom 12. November 2019 war schlimmer als die meisten zuvor. Es kam schneller, das Wasser stieg höher als sonst, erinnert sich Niccolò. Kniehoch stand es in seinem Geschäft.
Das Foto zeigt, wie das Hochwasser am 15. November 2019 das Gebiet von Cannaregio in Venedig überschwemmte.
Hochwasser sind die Händler in Venedig gewöhnt, allerdings nicht das Ausmaß der November-Flut.© Getty Images / NurPhoto / Giacomo Cosua
"Wir mussten das Wasser herausbringen mit allem, was wir hatten: Bürsten, Schwämme, Eimer. Es war ein großes Problem. Wir haben es nicht geschafft. Wir haben uns ohnmächtig gefühlt, wir konnten nichts tun, wir konnten nur zuschauen und hoffen, dass das Wasser möglichst bald zurückgeht."

Entschädigung kommt nicht an

Nach dem Hochwasser konnte Niccolò den Laden wieder öffnen, Venedig war zwischendurch wieder zurück in der Normalität – wenigstens auf den ersten Blick. Aber seit dem Hochwasser kamen merklich weniger Touristen nach Venedig. Und als dann noch Italien besonders schlimm von der Corona-Pandemie betroffen war, musste Niccolò seinen Laden sowie wieder schließen.
Erst seit Ende Juni ist er wieder geöffnet, die Schäden des Hochwassers sind immer noch zu erkennen. Zum Beispiel am Fußboden: Der ist fleckig geworden durch das Wasser, der Boden müsste dringend trockengelegt werden. Wegen der Pandemie war das bisher nicht möglich. Die Stromleitungen sind schon erneuert worden, auch die Kasse war kaputt.
"Wenn ich rechne, hier im Geschäft, vom Fußboden übers Licht bis hin zum Telefon, haben wir einen Schaden von etwa 10.000 Euro. Dazu kommt die Ware, die kaputtgegangen ist, etwa 7000, 8000 Euro."
Die Behörden hätten Entschädigung und Soforthilfen versprochen, erzählt er. Gesehen hat Niccolò davon immer noch nichts, er glaubt auch nicht mehr wirklich daran, dass sein Schaden ersetzt wird. Für den zerstörten Schmuck werde er kein Geld bekommen, das sei schon klar, sagt der Juwelier.
Ein Mann mit einer gigantischen Maske steht im Hochwasser nahe der Rialto-Brücke während der außergewöhnlichen Flut am 17. November 2019.
Die Schäden an öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen wurden auf rund 400 Millionen Euro geschätzt. © Getty Images / Awakening
"Ich habe mich informiert, wie man eine Entschädigung bekommt. Und sie haben mir gesagt, dass ich kein Anrecht darauf habe, weil wir Kunsthandwerker sind und daher keine Rechnungen für die Ware haben, die kaputtgegangen ist. Es ist eine Schande. Ich habe nichts machen können."
Die Bearbeitung der Schäden laufe gut, sagt dagegen Morris Ceron, der Bürochef des Bürgermeisters von Venedig bei unserem Besuch im Februar. Stolz führt er vor, wie und wo die Venezianer im Internet ihre Schäden melden konnten – einfach online ein Formular ausfüllen, alle benötigten Dokumente hochladen, fertig. Zeitersparnis für die Verwaltung, kein Vergleich zu den Papierbergen, die normalerweise immer nötig waren.
"Wenn man an die Erdbeben denkt – die Leute haben frühestens nach zwei Jahren ihr Geld bekommen. Ich weiß nicht, wann wir mit 7000 Anträgen fertig gewesen wären, wenn wir das so gemacht hätten wie immer."
7000 Anträge – so viele sind bis Ende Januar eingegangen, erklärt Ceron. Betroffen waren Privatwohnungen und Ladengeschäfte, bei manchen war die Küche überflutet, bei anderen stand das Schlafzimmer unter Wasser. Und dann immer wieder das gleiche Problem: Das Salzwasser hat in vielen Häusern die Elektroinstallation völlig zerstört.
"Die Häuser und vor allem die Geschäfte der Venezianer haben Steckdosen, die im Erdgeschoss weiter oben angebracht sind – im Vergleich zu uns auf dem Festland. Weil für sie der Krisenfall normal ist. Nur, dass diesmal das Wasser so hoch stand, dass auch diese Maßnahmen nicht ausgereicht haben."
Alle Anträge werden geprüft, bei Zweifeln schauen die Behörden vor Ort genauer nach. Das System kontrolliert sowieso automatisch, ob ein Antragsteller wirklich im Erdgeschoss eines betroffenen Hauses wohnt und nicht etwa im fünften Stock oder in einem Gebäude, das unversehrt geblieben ist.
"Betrüger kann’s geben, ja. Die kann es immer geben. Wenn wir jemanden erwischen, sind wir wirklich erbarmungslos."
Bis Ende Juni haben nach Angaben der Stadt Venedig gut 1500 venezianische Einwohner und Geschäftsleute Geld für die Schäden bekommen, Italien hat dafür Millionen Euro ausgegeben, ebenso wie für die Restaurierung öffentlicher Gebäude. Doch es sieht so aus, als ob einige Venezianer auf einem Teil ihres Schadens sitzen bleiben werden.
"Die Schäden an öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen werden auf rund 400 Millionen Euro geschätzt. Schäden von etwa 100 Millionen wurden von Privatleuten gemeldet. Insgesamt sind uns also Schäden in Höhe von etwa einer halben Milliarde Euro bekannt. Dann gibt es Schäden, die nicht erstattungsfähig sind, manche haben gar keinen Antrag gestellt, also in Wirklichkeit sind es mehr."

Markusdom braucht Schutz vor den Fluten

Zurück zum Markusplatz. Es ist sonnig, ein wunderschöner Tag Ende Februar. Von Hochwasserschäden erst mal nichts zu sehen. Aber es gibt sie, auch am Markusdom, das will Pierpaolo Campostrini beweisen. Er ist für die Erhaltung des Gebäudes zuständig.
Wir gehen durch die Kirche in die Krypta, sagt Campostrini, geht voran und steigt durch eine enge Treppe nach unten. Hier sind Venedigs Patriarchen begraben, erklärt er. Bis auf die, die Päpste wurden – die ruhen in Rom.
In der Krypta unter dem Markusdom riecht es nach Schimmel, die Luft ist feucht, es ist halbdunkel. Auch hier stand das Salzwasser, erzählt Pierpaolo Campostrini. Und das, obwohl die Krypta in den 1990er-Jahren renoviert und dabei eigentlich komplett gegen Hochwasser abgedichtet wurde.
"Wir waren auch ziemlich stolz, dass diese Krypta immer trocken geblieben ist. Aber am 12. November war es genau hier ziemlich angsteinflößend. Denn dieses Fenster hier, das auf den Innenhof geht, ist kaputtgegangen und Wasser ist eingedrungen, es war wie ein Fluss."
Auf den ersten Blick sieht man hier unten kaum Schäden, aber dann kratzt Campostrini relativ weit oben an einer Wand. Kleine Steinchen lösen sich. Er zerreibt sie, leckt daran – sie schmecken salzig, sagt er. Der Grund: Das Salzwasser hat sich durch die ganze Wand nach oben gesogen, ist dann getrocknet, aber das Salz ist geblieben. Jetzt zerstört es langsam das Mauerwerk, sagt Pierpaolo Campostrini.
"Wenn es ein Erdbeben gibt, entlädt sich sehr viel Energie in wenigen Sekunden. Man sieht sofort, was passiert ist. Hier geht alles langsamer. Das Material altert praktisch vorzeitig, vor allem Marmor und Ziegelsteine."
Campostrini führt zurück nach oben, in den Dom. Im gesamten Innenraum finden sich Mosaike, mit kunstvollen Ornamenten, mit Pfauen, eines schöner als das andere. Beim Hochwasser sind auch sie beschädigt worden, kleine Mosaiksteine haben sich durch den Wasserdruck gelöst, ein Teil der Steinchen ist weggeschwemmt worden.
"Bei den Schäden in Restaurants musst du einen neuen Kühlschrank kaufen, das kostet vielleicht 10.000 Euro. In unserem Fall ist das anders, wir können nicht auf Ebay die Mosaike nachkaufen, die beschädigt worden sind. Ich habe sie jedenfalls da noch nicht gefunden."
Eigentlich ist vor kurzem ein neues Entwässerungssystem gebaut worden, das dafür sorgen sollte, dass der Dom nicht mehr überflutet wird. Doch beim Hochwasser vom 12. November hat es nichts genutzt.

Jedes weitere Hochwasser kann verheerende Folgen haben

Man habe die Technologie, um auf den Mond zu fliegen, meint Campostrini. Dann müsse man doch auch Technologien haben, um Wasser vom Markusdom fernzuhalten. Als eine Art Übergangslösung soll der ganze Markusdom möglichst bald umzäunt werden, Kosten: etwa 3,5 Millionen Euro.
"Die Idee ist, eine Absperrung zu konstruieren, so ähnlich, wie die, die man jetzt schon sehen kann. Die hier ist gebaut worden, um die Leute daran zu hindern, sich auf die Stufen zu setzen und sie ist ehrlich gesagt ziemlich hässlich, sie ist auch ein Provisorium. Wir wollen diese Absperrung austauschen und ein bisschen zurückversetzen, aber in einem Material, das das Wasser zurückhält. Eine Ziegelwand wäre hässlich, deshalb wollen wir ein Material verwenden, das auch einen Bezug zur Geschichte Venedigs hat: Glas. Damit werden wir in der Lage sein, eine wasserundurchlässige Absperrung zu errichten, die aber die Sicht nicht stört."
Denn jedes weitere schlimme Hochwasser kann verheerende Folgen haben, meint Campostrini – weil das Mauerwerk schon vorgeschädigt ist.
Die Zeit drängt, sagt er. Fluten wie die vom 12. November, seien in den vergangenen Jahren häufiger geworden.
"Wenn euch jemand sagt, Hochwasser habe es doch schon immer gegeben, dann stellt ihn mir vor, ich werde ihn ohrfeigen. Weil es einfach nicht stimmt."
Doch was hat sich verändert in den vergangenen Jahren? Und warum war die Flut im November so verheerend, was ist da passiert?
Eine Antwort findet man hier, im Wettervorhersage- und Flutwarnungszentrum der Stadt Venedig, beim Physiker Alvise Papa. Über viele Bildschirme flimmern Daten von Messstationen und Satelliten. Papa und seine Kollegen berechnen jeden Tag eine Hochwasservorhersage. 187 Zentimeter war das Hochwasser im November, höher stand das Wasser nur im Jahr 1966. Aber bevor er über die Gründe spricht, will Alvise Papa noch etwas erklären, es ist ihm ein wirkliches Anliegen: 187 Zentimeter, das heißt nicht, dass auf dem Markusplatz das Wasser fast zwei Meter hoch stand. Denn die Stadt liegt nicht auf Höhe des Nullpunkts.
"Was heißt das? Der Markusplatz, einer der am tiefsten gelegenen Orte der Stadt, beginnt sich ab etwa 82 bis 90 Zentimeter mit Wasser zu füllen. Bis 90 Zentimeter kann man in der ganzen Stadt problemlos spazieren. Bei 90 Zentimeter macht nur der Markusplatz Probleme, bei 110 Zentimeter sind nur 10 Prozent der Stadt schwierig."
Touristen spazieren am 12. November 2019 in Venedig, Italien, auf der Piazza San Marco im Hochwasser.
187 cm war das Hochwasser im November, höher stand das Wasser nur im Jahr 1966. © Getty Images Europe / Awakening / Stefano Mazzola
Bei 187 cm sind allerdings schon weite Teile der Stadt überschwemmt. Aber, und auch das betont Alvise Papa: Hochwasser ist in Venedig von den Gezeiten abhängig – bei Ebbe zieht sich das Wasser aus der Stadt zurück.
"Acqua Alta, also ein Hochwasser über 110 Zentimeter, dauert im Durchschnitt eine Stunde, eineinhalb Stunden. Der Vorfall am 12. November hat 40 Minuten gedauert, nicht 40 Tage."
Dieser 12. November war aber ein absoluter Ausnahmetag, sagt Alvise Papa. Viele meteorologische Ereignisse sind zusammengekommen: Der Meeresspiegel war für die Jahreszeit sehr hoch, es war 2019 überhaupt sehr warm. Und dann ist auch noch ein Hochdruckgebiet mit Polarluft im Gepäck auf ein Tiefdruckgebiet getroffen. All das ging so schnell, dass sie nicht mehr mit großem Vorlauf warnen konnten, sagt Alvise Papa. Er selbst habe nicht einmal seiner eigenen Familie Bescheid sagen können.
"Was vor allem viele Schäden verursacht hat, war, dass ein tropischer Wirbelsturm über die Stadt Venedig und über das Becken von San Marco hinweggezogen ist. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ganz ehrlich, Mitte November, so etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nie gesehen."
Liegt das am Klimawandel? Alvise Papa zögert, sagt dann: Er sei Physiker, kein Klimaforscher im klassischen Sinne. Aber es habe sich etwas verändert mit dem Meer und mit dem Hochwasser in den letzten Jahren, schlimme Flutwellen kämen häufiger und schneller.
Der Physiker Alvise Papa vor Bildschirmen mit flimmernden Daten von Messstationen und Satelliten
Der Physiker Alvise Papa und seine Kollegen berechnen jeden Tag eine Hochwasservorhersage.© Lisa Weiß
Er werde uns etwas zeigen, sagt der Juwelier Niccolò bei unserem Besuch im Februar und setzt in seinem Schmuckgeschäft am Markusplatz eine schwere Eisenplatte in die Tür ein. Sie ist etwa kniehoch, dichtet die Ladentür komplett gegen Wasser ab. Die meisten Geschäftsleute hier am Markusplatz haben solche Platten, normalerweise verhindern sie Hochwasserschäden im Laden zuverlässig. Doch bei der Flut vom 12. November war die Platte komplett unnütz. Das Wasser sei einfach über die Platte ins Innere des Hauses gelaufen, sagt er. Das Klima verändert sich, ist sich Niccolò sicher. Nur: Was kann Venedig alleine dagegen ausrichten?
"Auf globalem Level ist vor allem die Umweltverschmutzung ein Problem, nicht nur für Venedig, sondern auf der ganzen Welt. Die Gletscher schmelzen, man muss so schnell wie möglich eine Lösung finden."
Eine Lösung, die hat auch Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro nicht parat. Nur eine Idee, wie und wo man anfangen könnte, nach ihr zu suchen.
"Es könnte hier eine große Agentur geben, die Klimaphänomene weltweit erforscht, mit besonderer Berücksichtigung des Wassers. Das wäre doch eine Gelegenheit, wie die Welt eine Antwort auf Greta und die ganzen Kinder und Jugendlichen geben könnte, die Angst haben. Die uns dazu zwingen, etwas zu ändern. Wir könnten ihnen zeigen, dass wir etwas tun."
Brugnaro entwirft ein Bild von jungen Menschen und bekannten Wissenschaftlern aus aller Welt, die nach Venedig kommen und gemeinsam forschen. Herausfinden wollen, wie man Hochwasser besser vorhersagen kann, wie man die Folgen abwenden kann. Man merkt, dass Brugnaro das Projekt am Herzen liegt – es würde schließlich Venedig Ansehen verschaffen und vermutlich auch Geld für die Stadtkasse bringen.
Mit der Coronakrise ist Geld für Venedig noch wichtiger geworden. Die Stadt, die früher voller Touristen war, ist jetzt so gut wie leer, die Menschen haben Angst, nach Norditalien zu fahren, in die Regionen, wo das Virus besonders schlimm gewütet hat. Hoteliers klagen über Einbußen, von Kreuzfahrtschiffen keine Spur. Venedigs Bürgermeister hat mittlerweile angekündigt, er wolle in Zukunft mehr auf einen neuen und intelligenten Tourismus setzen, auf Klasse statt Masse.
Wie das genau aussehen soll, ist unklar. Klar ist aber: Der Klimawandel und damit immer wieder Bilder von Überschwemmungen, kann Venedigs Stellung als internationales Tourismus-Ziel gefährden. Aber, und auch das fällt auf: Brugnaro scheint gar nicht mehr an eine grundsätzliche Lösung zu glauben, daran, dass der Klimawandel effektiv bekämpft wird.
"Wir stehen vor etwas Unberechenbarem. Es reicht nicht, nur zu sagen: Es gibt keine Veränderungen mehr. Wir müssen lernen, uns anzupassen."

Jahrzehntelanger Planungsvorlauf für Hochwasserschutz

Anpassen – wie soll das gehen? Luigi Brugnaro hofft auf Mose. Das Projekt mit dem biblischen Namen hat auch eine fast biblisch lange Vorgeschichte. Erste Überlegungen, die Lagune von Venedig zeitweise zu sperren, um zu verhindern, dass Hochwasser die Stadt überschwemmt, gab es schon in den 1980er-Jahren. Beschlossen wurde das Projekt in den 90ern, Baubeginn war in den 2000ern und dann: Korruption, Bauverzögerungen, diverse Gerichtsprozesse. Mose ist ein Symbol geworden für vieles, was falsch läuft in Italien. Viele Venezianer winken nur noch ab, wenn sie den Namen Mose hören. Doch jetzt soll das Projekt so gut wie fertig sein.
Ein Drohnenfoto zeigt die gelben Barrieren des Mose-Proekts.
Mose-Barrieren in Venedig: Das Hochwasserschutz-Projekt ist ein Symbol geworden für vieles, was falsch läuft in Italien.© Getty Images / NurPhoto / Giacomo Cosua
Auf einer künstlichen Insel am Rand der Lagune ist die Schaltzentrale von Mose. Wer wie wir im Februar 2020 hierhin möchte, muss einen Bauarbeiterhelm tragen, noch immer werden Anlagen gebaut, wird Material transportiert. Das Gebäude wirkt ziemlich verlassen, nur ein paar Computer stehen herum. Aber 2021 kann Mose in den Normalbetrieb gehen, verspricht Monica Ambrosini vom Consorzio Venezia Nuova, einer Firmengemeinschaft, die den Bau ausführt.
Der Gedanke hinter Mose sei eigentlich ganz einfach, sagt Ambrosini, nur die Ausführung sei kompliziert. Und erklärt: Venedig liegt in einer Lagune. Diese Lagune hat nur drei Einfahrten. An diesen Stellen sind auf dem Meeresgrund Metallschachteln angebracht. Bei starker Flut sollen die Schachteln als Barrieren dienen. Und dem Wasser den Weg in die Lagune versperren.
"Wenn es zu einer außergewöhnlichen Flut kommt, werden die Barrieren mit Druckluft befüllt. Diese Druckluft verdrängt das Wasser und die Barrieren, die ja Metallschachteln sind, steigen durch den Auftrieb nach oben und bilden einen schwimmenden Deich."
Wenn die Flut sich wieder zurückzieht, sollen die stehenden Metallschachteln wieder zurück auf den Boden sinken – die Lagune ist dann wieder mit dem Meer verbunden. Hochwasser wie das vom 12. November könnten, wenn das System funktioniert, bald der Vergangenheit angehören, verspricht Ambrosini.
Um zum Herz von Mose zu kommen, geht es nach unten. Sehr viele Treppen nach unten. Hier, unter der künstlichen Insel, 19 Meter unter dem Meeresspiegel, ist der Haupttunnel eines der Wehre. Der Tunnel ist niedrig, überall verlaufen glänzende Metallrohre. Die wichtigsten technischen Anlagen, die Mose zum Laufen bringen sollen, sind hier, erklärt Alessandro Sorru und zählt auf: mechanische Anlagen, elektrische Anlagen für die Automatisierung, die Klimaanlage. Die Details sind schwer zu erfassen für Leute ohne Ingenieursstudium, aber Alessandro Sorru geht es vor allem darum, zu zeigen: dass nichts dran ist an den Gerüchten, dass der Baubeginn schon so lange her ist, dass die Bauteile sich langsam zersetzen und das System gar nicht mehr funktionsfähig werden kann.
"Viele Leute glauben, dass das System nicht funktioniert, dass alles rostig ist und ich versuche zu erklären, dass es gar nicht so ist."
Hier im Haupttunnel sieht alles neu oder gut gewartet aus, ob aber zum Beispiel die Befestigungen der Metallschachteln am Meeresgrund verrostet sind, lässt sich von hier aus nicht erkennen. Es gibt auch noch viel grundsätzlichere Kritik an Mose: Nicht nur im Bau, sondern auch im Unterhalt werde Mose unabsehbar teuer, sagen die einen. Die anderen befürchten, dass durch die Dämme und die damit verbundenen Schleusensysteme die Einfahrt in die Lagune für große Schiffe schwieriger werden könnte – für Venedigs wichtigen Hafen ein Problem.

Retten wir die Lagune oder die Stadt?

Naturschützer warnen auch vor Schäden am empfindlichen Ökosystem der Lagune, wenn Mose aktiv ist und kein Wasseraustausch mehr mit dem offenen Meer stattfindet. Man merkt, dass Monica Ambrosini vom Consorzio Venezia Nuova all diese Kritik schon oft gehört hat. Sie fasst sich kurz: "Wer den Markusplatz retten will, will, dass Mose aktiv wird. Wer sicherstellen will, dass die Handelsschiffe einfahren können, will das nicht."
Und was ist mit den Folgen für die Lagune? Wenn Mose – so wie aktuell geplant – nur wenige Male im Jahr hochgefahren wird, wäre das kein Problem für das Ökosystem, sagt der Ozeanograf Georg Umgiesser vom Institut für Meereskunde in Venedig. Man riegele ja die Lagune dann auch nicht für Tage ab, sondern höchstens für einige Stunden. Problematisch könnte das alles aber in ein paar Jahrzehnten werden.
"Wenn wir uns überlegen, dass am Ende von diesem Jahrhundert der Meeresspiegel um 50 cm gestiegen ist, müssten wir den Mose 300 bis 400 mal im Jahr zumachen, das wäre ungefähr einmal pro Tag. Das ist natürlich nicht mehr möglich."
Das Foto zeigt Protestierende gegen das Mose-Projekt am 26. November 2019 in Rom.
Proteste gegen Mose in Rom: Naturschützer warnen vor Schäden am empfindlichen Ökosystem der Lagune.© Getty Images / NurPhoto / Andrea Ronchini
Längerfristig brauche es neue Ideen, sagt Umgiesser. Er blickt erst mal in die Vergangenheit, erinnert daran, wie Venedig immer weiter sank, weil viel Grundwasser aus dem Boden unter der Stadt abgepumpt wurde und sich die Erdschichten verdichtet haben. Und schlägt dann vor, sich diese Erfahrungen zunutze zu machen und mit dem Grundwasserspiegel zu experimentieren.
"So wie man vor Jahren Wasser entnommen hat und Venedig abgesackt ist, kann man Wasser wieder zurückpumpen und kann Venedig wieder anheben. Man kann es bis zu 30 cm anheben. Das würde bedeuten, dass wir fast 50 Jahre, 60 Jahre gewinnen würden."
Aber auch das ist keine dauerhafte Lösung. Für Georg Umgiesser gibt es, nach momentanem Forschungsstand, nur zwei Möglichkeiten: Entweder man erhält die Lagune. Dann muss man aber Venedig aufgeben, denn die Stadt wird langsam, aber sicher, im Meer versinken. Oder man schottet die Lagune dauerhaft vom Meer ab, macht sie zu einem Süßwassersee und erhält so die Stadt.
"Dann wird man eine ganz andere Lagune haben, man wird eine Frischwasserlagune haben, man müsste natürlich dann sich überlegen, was man mit dieser Lagune macht und was man nicht machen kann. Also man kann sie nicht verschmutzen, man braucht ein vernünftiges Kanalisationssystem, das noch nicht gebaut ist und vor allem, man müsste die Häfen aus der Lagune rausnehmen."
Was würde er selbst als Meeresforscher empfehlen? Da muss Georg Umgiesser nicht lange überlegen.
"Es gibt viele Lagunen auf der Welt, die sehr schön sind und die auch vielleicht ähnlich sind. Es gibt eine einzige Stadt, die Venedig heißt. Und deswegen würde ich sagen, dass die Entscheidung, was man retten sollte, sehr einfach ist: Ich würde wirklich sofort die Stadt Venedig retten. Und man müsste halt in Kauf nehmen, dass die Lagune geändert wird."
Mehr zum Thema