Weihnachtsgeschenke

Die Kraft der Dinge

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Geschenkekartons mit Geschenken darin (Illustration)
Ein Stückchen Sicherheit schenken: Dinge vermitteln ein Gefühl von Stabilität, meint die Ethnologin Petra Beck. © imago images / Westend61
Gedanken von Petra Beck · 22.12.2020
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Vielleicht wird der Gabenrausch dieses Weihnachten etwas gemäßigter ausfallen. Konsumkritiker mögen das begrüßen. Doch Dinge, sagt die Ethnologin Petra Beck, sind mit uns ganz besonders verbunden: Wir sollten sie achten.
Im Frühjahr 1790 wurde gegen den französischen Offizier Xavier de Maistre wegen eines verbotenen Duells ein 42-tägiger Hausarrest verhängt. De Maistre nutzte diese Zeit zwischen räumlicher Beengtheit und zeitlichem Freiraum für eine 42-tägige Reise durch sein Zimmer entlang seiner Dinge.
Sein Buch darüber wurde ein Bestseller und fand im ausgehenden 18. Jahrhundert viele Nachahmer, die solche Reisen ebenfalls antraten, die "nichts kosten und die auch die Ängstlichen nicht fürchten müssen". Durch die Haltung, im Hier und Jetzt das Vertraute mit anderen Augen wahrzunehmen, und durch das flanierende Tempo der Selbstbeobachtung begannen die Dinge zu sprechen und öffneten dem Reisenden Einsichten in ihre vielfältigen Bezüge zur Welt.

Während 2020 ein Virus die gesellschaftliche Ordnung der Außenwelt veränderte, entstand drinnen ebenso eine neue Innerlichkeit. Sie schärfte den Blick auf die Dinge. Dingoberflächen wurden nun als gleichsam belebte Orte gesehen, und das Fehlen der Dinge wurde genauso schmerzlich bemerkt wie der Überfluss der Konsumgesellschaft. Die erste Reaktion auf ein Bewusstwerden der eigenen Dingumwelt war vielfach sehr modern: Ordnung schaffen.

Ein Leben ohne Dinge gilt als erstrebenswert

Dabei wird der Blick auf die Dinge seit geraumer Zeit ideologisch geprägt. Bücher tragen Titel wie "Die Kunst des Wegwerfens" oder "Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert". Aussortieren ist in Mode und passt zu einer Gesellschaft, die Nachhaltigkeit will, dabei aber weiter hemmungslos konsumiert.
Wie der Longseller "Simplify your life" warnt, gilt es, die Dinge loszuwerden, bevor sie "sich derart vermehren, dass sie die Kontrolle über Sie übernehmen". Viele – auch die, die nicht danach handeln –, empfinden das zumindest als immanente Handlungsanweisung: "Ich sollte wirklich mal ausmisten." Es ist zu einem Statussymbol geworden, nur wenige, dafür aber sehr gute Dinge um sich zu haben.

Minimalismus muss man sich leisten können

Diesen Minimalismus muss man sich allerdings leisten können. Und er steht in einem ausgesprochenen Gegensatz zur klassischen Kulturtechnik des Haushaltens, bei der man Dinge für alle Fälle vorhält, statt sie bei Bedarf jeweils neu anzuschaffen. Der Begriff "haushalten" kommt vom mittelhochdeutschen "hūshalten", "ein Hauswesen führen". Was zum einen auf die Belebtheit des Haushalts verweist und zum anderen auf das andauernde Handeln, das zu seiner Erhaltung nötig ist.
Rainer Maria Rilke erzählt davon, wie er beim Abstauben der Möbel "mit einem gewissen schelmischen Anstand die Freundschaft, die einem die erholten, gut behandelten Dinge zuwarfen", erwidert.

Über unsere Dinge uns selbst erfahren

Dinge ermöglichen und erfordern ein aktives und kreatives Tun, bei dem das Selbst sich über seine Dinge neu verhandelt. In einer sich ständig verändernden Welt vermittelt das ein Gefühl von Stabilität und von Autonomie. Das wird in der Praxis des Aufräumens und Aussortierens besonders deutlich sichtbar. Für welchen Fall – also für welche Zukunft – wird etwas wo aufbewahrt? Was wird noch gebraucht? Was kann entsorgt werden? Oder: Wer könnte das noch brauchen?
Eine Frage, die unmittelbar das gesamte Netzwerk des Fragenden ins Bewusstsein ruft: Wer gehört zu meiner Dingwelt dazu? Dieser Moment macht das komplexe Beziehungsgeflecht sichtbar zwischen dem Fragenden und all seinen Beziehungen zu Menschen und Dingen des Jetzt, der Vergangenheit und der Zukunft. Es umfasst seine Erinnerungen und seine Projektionen.
Wenn wir jetzt im Lockdown eine Reise durch unsere Zimmer machen, erfahren wir, was die Beziehung zu unseren Sachen gewiss nicht ist: sachlich. Man muss die Dinge nicht vergöttern – aber man sollte ihnen für einen Moment zuhören.

Petra Beck ist Europäische Ethnologin und Kulturanthropologin. Sie forscht zu Mensch-Ding-Beziehungen im urbanen Kontext, Mensch-Ding-Umwelten und Dingräumen wie zum Beispiel Selfstorage-Häusern. Als visuelle Anthropologin war sie in den letzten Jahren an mehreren künstlerischen Projekten beteiligt.

© Beat Presser
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