Valeria Parella: "Liebe wird überschätzt"

Liebe und andere Lügen

Das Buchcover von Valeria Parellas "Liebe wird überschätzt" vor dem Panorama von Neapel.
Einige der Geschichten von Valeria Parella spielen in Neapel. © dpa / picture-alliance / Hansa-Literaturverlag
Von Maike Albath · 03.11.2017
Mitten im von der Camorra bestimmten Neapel gibt eine Nonne ein fremdes Baby als ihr eigenes aus. Eine Sportlehrerin hat eine heimliche Liason. In diesen und anderen Kurzgeschichten spürt Valeria Parella den verborgenen Konflikten der Liebe nach.
Neapel ist seit jeher das Pflaster, auf dem die Erzählungen von Valeria Parrella spielen. Die Schriftstellerin, 1974 geboren und 2005 mit dem Band "Die Signora, die ich werden wollte" bekannt geworden, kennt den Menschenschlag der Neapolitaner aller Gesellschaftsschichten in- und auswendig. Sie versteht es immer wieder, daraus nicht nur das Personal ihrer Kurzgeschichten, sondern auch eine spezifische Energie zu gewinnen.
Gewitztheit, eruptive Gewalt, zäher Überlebenswille, kleinbürgerliche Verlogenheit, schrankenlose Brutalität und dann wieder überwältigende Menschlichkeit – all dies kennzeichnet Parrellas Figuren und befeuert die Autorin in ihrer Wirklichkeitserkundung.
Neben Neapel gibt es in ihrer neuen Sammlung "Liebe wird überschätzt" auch andere Schauplätze wie Manchester oder Mailand, aber das Neapolitanertum blitzt immer wieder auf.

Eine Nonne im camorraverseuchten Neapel

Auch wenn der Titel "Liebe wird überschätzt" wie eine lapidare Feststellung klingt, beweisen die Geschichten genau das Gegenteil. Es geht es um die unterschiedlichsten Spielarten dieses komplexen Gefühls und darum, welche untergründigen Konflikte sich an die Liebe binden, welche Dynamiken sie in jedem Alter entfacht. So handelt eine der schönsten Geschichten von einer Nonne, Äbtissin eines Klosters in einem camorraverseuchten Teil von Neapel, die einer hochschwangeren Osteuropäerin Obdach gewährt. Das noch minderjährige Mädchen ist unbelehrbar und verschwindet kurz nach der Niederkunft. Die Situation ist rechtlich kompliziert, und die Nonne beschließt, das Neugeborene kurzerhand als eigenes Kind auszugeben, ihr Habit abzulegen und nach zwanzig Jahren wieder ein Leben außerhalb des Klosters aufzunehmen.
In einer anderen Erzählung entdeckt eine vermeintlich abgeklärte Lehrerin in den Wechseljahren, was es heißt, begehrt zu werden. In der geschickt konstruierten Titelgeschichte steht eine verheiratete Sportreporterin im Mittelpunkt, die jahrzehntelang eine Liaison mit einem anderen Mann vor ihrer Familie verheimlicht, vorgeblich, um ihre Tochter zu schützen. Dass die Heranwachsende die Lebenslügen der Eltern längst durchschaut hat und nichts als Verachtung spürt, fällt ihr nicht auf.

Amerikanische und italienische Einflüsse

Parrella versteht sich auf das Genre der Kurzgeschichte, arbeitet mit einem Wechsel aus Beschreibungen, knappen Dialogen und inneren Monologen, kann Spannung schüren und Pointen setzen. Etliche der Erzählungen sind durchaus originell und entwickeln eine eigene Schärfe.
Dabei merkt man, dass Valeria Parrella zu der Generation italienischer Schriftsteller gehört, die ebenso durch die amerikanische Tradition mit Raymond Carver, Alico Munro und David Foster Wallace geprägt ist, wie durch die italienische. Nach dem einfühlsamen Roman "Zeit des Wartens" über eine Frau, die nach einer Frühgeburt in den Limbus der Intensivmedizin für Säuglinge geriet, verknüpft Parrella in ihrem neuen Buch hier alte und neue Fertigkeiten. Die Liebe bleibt eben ein unerschöpfliches Thema.

Valeria Parrella: Liebe wird überschätzt. Erzählungen.
Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki.
Carl Hanser Verlag München 2017, 140 Seiten, 18 Euro

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