Utopie heute

Von Matthias Eckoldt · 30.11.2005
Rudolf Bahro war sicherlich der populärste Regimekritiker der DDR. Mit seinem Buch "Die Alternative" rechnete er radikal mit dem realexistierenden Sozialismus ab. Zugleich aber eröffnete Bahro eine neue Utopie, an deren Verwirklichung er nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik arbeitete. Aus dem Reformkommunisten Bahro wurde ein Ökospiritualist. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Grünen, wendete sich aber bald von jeder Form der Parteipolitik ab.
Bahro: " Die ökologische Krise ist eigentlich nicht der Ausgangspunkt meines Denkens. Die ist ein Anlass, der gerade durch den Druck, den sie uns macht, eine Chance bietet. Die öffnet uns die Chance, einen Weg einzuschlagen, zu dem wir schon immer bestimmt gewesen sind. Für mich ist die Einrichtung der Gesellschaft keine Notmaßnahme, sondern das ist die gesellschaftliche Form für Befreiung. Und zwar Befreiung nicht wovon, sondern wozu! Und der Inhalt der Befreiung ist eigentlich der Schritt ins Überbewusste hinein. Unsere Wiedereingliederung … in die kosmischen Strukturen. "

So orakelte Rudolf Bahro Anfang der neunziger Jahre. In seinem Buch "Die Logik der Rettung" hatte er den Weg zum Ausstieg aus der Megamaschine, wie er die Industriegesellschaft nannte, skizziert. Er plädierte eindringlich für die Abwendung von den äußeren Werten, die in der Konsumgesellschaft zum neuen Heiligtum erhoben wurden. Bahro wollte ein Ende des expansiven, zerstörerischen Immer-Mehr des modernen Kapitalismus. Dagegen setzte er den Weg nach Innen. Ein Weg, der mit Meditation und Einkehr den Kontakt des Menschen zu sich selbst und seinen eigentlichen Bedürfnissen wiederherstellt.

Kurt Seifert: " Also der Ausstieg aus der Megamaschine, der geht natürlich nicht von heute auf morgen."

Kurt Seifert, Co-Autor der großen 600-seitigen Bahro-Biografie, die 2002 unter dem Titel "Glaube an das Veränderbare" erschien.

Seifert: "Bahro war in dem Sinn auch kein Aussteiger, sondern er hat versucht, in der Gesellschaft selber diese Gedanken, diese Fragestellungen zu verbreiten und den bestehenden Konsens - also dass man so weitermacht wie bisher - diesen Konsens zu untergraben, zu sprengen, in Frage zu stellen. "

Aus Anlass des 70. Geburtstages von Rudolf Bahro am 18. November 2005 organisierte Seifert in Zusammenarbeit mit dem Bahro-Archiv an der Berliner Humboldt-Universität ein Symposion zu Ehren des großen Utopisten. Im Titel der Tagung ist die zentrale Fragestellung bereits präsent: "Integration - Natur, Kultur, Mensch. Sozialökologische Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise."

Seifert: " Was wir diskutieren im Symposion ist die Frage des Umsteuerns: Also wie kommen wir von diesem Kurs, der auf Zerstörung der Lebensgrundlagen hinausläuft, wie kommen wir von diesem Kurs weg. Wie können wir auch lebendige Alternativen entwickeln - zunächst erst einmal von den Gedanken - wie kann sich das auch umsetzen in der Praxis an verschiedenen Orten. Wie können wir diesen Gedanken, der ja auch in anderen Bewegungen aktuell ist, dass es eine Alternative gibt - ich erinnere an das Weltsozialforum - das würde Bahro wahrscheinlich heute sehr unterstützen, würde aber gleichzeitig sagen, wir müssen uns ganz kritisch auseinandersetzen mit all diesen Ideen, die heute entwickelt werden."

Damit sind zwei Kernelemente von Bahros utopischem Denken markiert: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegebenen und das Ringen um eine Alternative. Insofern war der Titel des Buches, das ihn in Ost- wie West-Deutschland berühmt gemacht hat, programmatisch:

Die Alternative. Zur Kritik des realexistierenden Sozialismus.

Bahro, überzeugter Kommunist, Parteimitglied der SED, in frühen Jahren enthusiastischer Funktionär, war von dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968 in der CSSR so schockiert, dass er das realsozialistische Projekt grundsätzlich infrage stellte. Neun Jahre saß er am Manuskript der "Alternative", das Freunde schließlich in die Bundesrepublik schmuggelten, wo es 1977 in einem gewerkschaftsnahen Verlag erschien.

Der Soziologe und Philosoph Oskar Negt zu Bahros Ausgangspunkt:

"Der Begriff "kommunis", das Gemeinsame, das Gemeindechristentum, also vieles, was auf Vergemeinschaftungsbildung geht, ist in diesem Bahroschen Begriff von Kommunismus enthalten. In diesem Sinne, glaube ich, hatte er so etwas wie ein authentisches Element dessen, was Kommunismus im Denken von Marx war und auch der vormarxschen Utopisten wie Owen und Saint-Simon, die diese Gemeinschaftsidee hatten. "

Bahros Argumentation im ersten Teil der "Alternative" läuft folgendermaßen: Im realexistierenden Sozialismus ist das Privateigentum an Produktionsmitteln zwar überwunden. An die Stelle des Unternehmers aber tritt nicht der Arbeiter, sondern der Staat. Aus Privateigentum wird nicht Volkseigentum, sondern Staatseigentum. Diese neue Form der Produktionsverhältnisse ist nicht mehr kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch im Marx’schen Sinn. Bahro bezeichnet sie als proto-sozialistisch.

Das Problem dieser Eigentumsform ist nun, dass der Staat als Alleineigentümer nicht, wie Marx es entwickelte, nach und nach abstirbt, sondern immer weiter wächst und gewaltige bürokratische Strukturen anlegen muss, um alle Lebens- und Arbeitsbereiche verwalten zu können. Die Arbeiterklasse wird so nicht befreit, sondern komplett entmachtet. Über sie herrscht nicht mehr, wie noch zu Marxens Zeiten, der Unternehmer, sondern das Politbüro der Partei. Das Projekt der Befreiung der Massen ist in sein Gegenteil umgeschlagen.

Bahro: " Mit der "Alternative" wollte ich denen was liefern, das die ebenso traf, wie mich die Panzer getroffen haben in Prag. Das war die Stunde des Hasses gewesen - dieser 21. August. Und ich hab eigentlich die ganzen Jahre bis 77 … damit zu tun gehabt, den Hass zu transformieren, wieder objektiv zu werden. Heute denke ich, dass die Vernichtung dieses Experiments, dass das schon die Weichenstellung war. Seitdem kommen wir zu spät. ... Der Prager Frühling hätte sicher auch zur Einführung von Marktmechanismen geführt. Aber mit Würde der ganze Prozess. "

Einstweilen hat sich herausgestellt, wir bauen die alte Zivilisation nach, wir setzen in einem tiefsten, nicht politischen, sondern kulturellen Sinne einigermaßen zwanghaft, d.h. unter sehr realen Zwängen, "den kapitalistischen Weg" fort. Aus unserer Revolution ging ein Überbau hervor, der nur dazu gut zu sein scheint, dies so unentrinnbar systematisch und bürokratisch geordnet wie möglich zu tun. Wie eigentlich alle Beteiligten wissen, hat die Herrschaft des Menschen über den Menschen nur eine Oberflächenschicht verloren. Die Entfremdung, die Subalternität der arbeitenden Menschen dauert auf neuer Stufe an.

Im zweiten Teil seines Buches entwickelt Bahro seine Alternative zu dem realsozialistischen sowie zum realkapitalistischen Dilemma und formuliert drei Hauptforderungen: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Aufhebung der kapitalistischen Arbeitsteilung. Und, daraus folgend, die Vernichtung der Staatsmaschine.

Bahro stellt sich eine Art große Kommune gleichgesinnter Individuen vor. Die Avantgarde der Bahroschen Alternative soll der von ihm so genannte Bund der Kommunisten sein. Ein Zirkel von im Bahroschen Sinne geläuterten Menschen, die das Gesellschaftsideal vorleben. Hier spricht nicht mehr der DDR-Regimekritiker Bahro, sondern bereits der Utopist Bahro, der für die grün-alternative Bewegung und später für die spirituelle Sensibilisierung wichtig werden wird.

Insofern ist Bahros Entwicklungsweg vom Kommunisten zum Spiritualisten hier schon vorgezeichnet. Die Nietzsche-Kennerin Renate Reschke findet mit der Vokabel des aktiven Nihilismus eine Beschreibungsmöglichkeit für das bis heute wirkende utopische Potential in Bahros Denken:

"Das, was Nietzsche unter aktivem Nihilismus verstanden hat, das ist möglicherweise etwas, was auch für Bahro zutreffen würde. Denn unter aktivem Nihilismus hat Nietzsche verstanden, bis an die Wurzel gehen: Man muss den Mut haben, zu Ende zu denken. ... Diesen Mut, nicht das Ende, sondern bis ans Ende zu denken, wirklich bis in die letzten Konsequenzen hinein zu überlegen und durchzuspielen, was wird, wenn ich in einer bestimmten Situation bin und unter bestimmten Konstellationen agieren muss, das ist etwas, das schon etwas mit einem aktiven Nihilismus zu tun hat.

... Das geht natürlich prinzipiell davon aus, dass man die eigene Zeit so kritisch sehen muss, das man immer das sieht, was Ideologie gern übersieht, nämlich die potentielle innere Katastrophalität und das Desaster, das in jeder Zeit steckt, aber die einkalkuliert, kann man handlungsfähig werden. Und das ist eine Form von aktivem Nihilismus. Und das ist etwas, das im tiefsten Bahro um- und angetrieben hat. "

Eine Demonstration dessen, was es konkret heißt, bis ans Ende zu denken, gab Bahro in der Auseinandersetzung mit der Grünen Bewegung. Wenige Wochen nachdem er in die Bundsrepublik ausreiste, sprach Bahro auf dem Gründungsparteitag der Grünen. Das war 1980. In der ökologisch orientierten Bewegung scheinen am ehesten seine Vorstellungen von der Befreiung des Menschen durch eine von Innen angeregte und nicht von Außen oktroyierte Emanzipation aufzugehen.

1983 wird Bahro sogar in den Bundesvorstand gewählt. Eine Partei-Karriere auf höchster Ebene steht ihm bevor. Doch schon 1985 erklärt er seinen Parteiaustritt, nachdem er für sich das Projekt "Grüne Partei" zu Ende gedacht hat. Wie visionär seine Gedanken waren, zeigt sich an seiner Austrittserklärung:

"Die GRÜNEN sind - kritisch - mit dem Industriesystem und seiner politischen Verwaltung identifiziert. Sie wollen nirgends raus. Sie helfen die Risse im Konsens kitten. Es sah einmal so aus, als hinge von uns etwas Rettendes ab. Es wird nichts anderes übrig bleiben als eine normale Partei neben den anderen. Ich kann damit nicht weiter."

Bahro ging es nicht um den Ausbau von Vogelschutzgebieten und die Erhaltung von Feuchtbiotopen. Er kam zu der Einsicht, dass nur ein radikaler Ausstieg aus der Industriegesellschaft, die in die Logik der Selbstausrottung hineingeraten ist, ein wirklicher Ausweg ist. Angetrieben von der Eigendynamik des Marktes sieht Bahro die Menschheit auf die Apokalypse zurasen.

Das parteigrüne Projekt bedeutet ihm keine Hilfe in dieser Situation, sondern bestenfalls ein Symptom für die Krise. In diesem Sinne ist auch sein Buch "Die Logik der Rettung" zu verstehen, das Bahro geschrieben hat, nachdem er sich neuen Erfahrungsbereichen wie Yoga, Bioenergetik und Meditation geöffnet hat.

Bahro: " Wo man dabei ist, Orte, die früher einfach Teiche hießen, als Ökotope zu retten, da ist alles verloren. Jetzt als Konzeption. … Da gehen mehr Teiche kaputt als Ökotope zu retten sind. Wenn ich das sage, dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass uns alles, was uns als Kulturkatastrophe im umfassenden Sinne begegnen kann, das haben wir gemacht. Ich habe gesagt: Psychodynamik steckt hinter jeglicher historischen Dynamik.

… Dann habe ich die Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu begreifen: Die Logik der Selbstausrottung draußen, woher rührt die drin? In uns? Und habe deshalb gezeigt, dass die Richtung der Rettung in Selbstveränderung liegt. … Logik der Rettung das meint, nur wenn es denn möglich sein sollte, dass wir noch davon kommen, dann hängt das von einer Umkehr in der menschlichen Existenz ab. Und zwar nicht in Brasilien oder in Afrika, sondern hier. "

Bahros utopisch-kritische Denkweise wirkt bis heute nach. Besonders über seine Schüler wie Kurt Seifert:

Kurt Seifert: " Es ist ja so, dass viele heute drauf setzen, dass Wachstum die Voraussetzung dafür ist, damit wir hier weiterkommen. Und da würde Bahro ganz kritisch fragen: Haben wir nicht schon genügend materielle Güter? Eine andere Frage ist natürlich, wie sind diese Güter verteilt und was soll eigentlich produziert werden? Geht es nicht vielmehr darum, dass wir unsere Kräfte darauf konzentrieren, die Entwicklung nach innen zu betreiben.

Der Weg der Menschheit kann nicht mehr wie bisher nach außen gehen, expansiv, auf Kosten der Natur und der Lebensgrundlagen, sondern der muss in Richtung einer Entwicklung nach Innen verändert werden. Da ist das ... mit den meditativen Praktiken, das war auch für Bahro immer ein Mittel, um sich auf einen anderen gesellschaftlichen Weg einzustimmen. Was wollen wir eigentlich? Wozu sind wir auf dieser Erde und was ist der Sinn unserer Existenz?"

Johannes Heinrichs, der aus Königswinter zum Symposion nach Berlin kam, ist mehr als ein Schüler von Bahro. Er setzte sich seit Ende der achtziger Jahre mit ihm auseinander. Ging schließlich, nach dem Ende der DDR, zu Bahro nach Berlin. Für den Ex-Dissidenten hatte die Berliner Humboldt-Universität einen Lehrstuhl für Sozialökologie eingerichtet. Als Bahro 1997 an den Folgen seiner Krebserkrankung starb, führte Heinrichs den Lehrstuhl noch fünf Jahre weiter, bevor er endgültig abgewickelt wurde.

Heinrichs gelang es, die vielfältigen verstreuten Ideen, die Bahro für eine neue gesellschaftliche Utopie in Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen geäußert hatte, zu sammeln, weiterzudenken und schließlich in eine eigene Theorie münden zu lassen. Dank seiner Ausarbeitungen kann man heute tatsächlich von einer realen Utopie sprechen, die von Bahro angeregt wurde.

Heinrichs: " Der Bezug zu Bahro liegt nun darin, dass Bahro ein Oberhaus der Weisen, im Grunde ein Oberhaus für Ethik und die spirituellen Grundlagen der Gesellschaft bejahte und danach suchte. Er sprach sogar von einem Fürsten der ökologischen Wende. Mir genügte aber nicht diese Zweiheit: Oberhaus dort und da die reale Politik, obwohl das vielleicht der erste Schritt wäre. ...

Aber systemtheoretisch von einer modernen Sozialtheorie aus gesehen gibt es eben die vier Ebenen: Wirtschaft, Politik im engeren Sinne - das muss eben unterschieden werden von der Wirtschaft mit Konsum, Produktion, Handel, Geldsystem und wiederum unterschieden werden von dem kulturellen System als Drittem mit Pädagogik, Wissenschaft, Kunst, Publizistik. Und das muss noch mal unterschieden werden von dem Grundwertesystem ..., das so genannte Legitimationssystem der Gesellschaft also Weltanschauung, Ethik, Religion und Spiritualität. ...

Einigkeit mit Bahro besteht in der Bedeutung der spirituellen Ebene, auch wenn er diese nicht gegliedert hat. Und mir scheint das auch ein Schlüssel für die Weiterentwicklung der Demokratie zu sein, weil diese religiösen, spirituellen Energien befreit werden müssen. "

Heinrichs Theorie der Vier-Gliederung der Gesellschaft macht etwas, das in den Sozialwissenschaften lange außer Mode gekommen ist: Sie gibt Handlungsanweisungen. Anders als etwa die Luhmannsche Systemtheorie, zu deren Selbstverständnis es gehört, die Gesellschaft zu beschreiben, gibt es bei Heinrichs eine Vision von einer neuen Gesellschaft und konkrete Pläne zur Umsetzung dieser Vision.

Hauptanliegen der Konzeption ist es, die gesellschaftlich beherrschende Rolle der Wirtschaft zurückzudrängen und anderen, außerökonomischen Werten wieder Gehör zu verschaffen. Heinrichs betont in seinem Konzept immer wieder die Trennung der Ebenen und die damit verbundene Sachlichkeit, die dann Einzug in die sozialen Verhältnisse der Menschen finden soll:

Heinrichs: " Das ist eine Handlungsanweisung, wie wir die parlamentarische Demokratie so weiterentwickeln können, dass sie sogar die Anliegen der direkten Demokratie aufnimmt - besser als es eine direkte Demokratie könnte. Denn mit JA/NEIN-Abstimmungen ist der Demokratie auch nicht geholfen. Hier ist gemeint ein jährliches Plebiszit über einen Sachbereich - Wirtschaft, Politik, Kultur, Grundwerte - wo sich dann konkurrierende Gruppen, also Sachparteien, Parteien ganz neuen Typs zur Wahl stellen können mit konträren Positionen. Und der Wähler weiß, was er wählt, während er jetzt nicht weiß, was er wählt, wenn er eine Partei wählt. Manchmal ganz widersprüchliche Dinge. ... Das braucht gar nicht zusammen zu passen. Das ist ein ständiges Dilemma, diese Allround-Parteien. Strukturelle Unsachlichkeit nenne ich das., während wir zu Sachparteien müssen. Und das ist wirklich möglich. "

Bahro schrieb kurz vor seinem Tod noch ein Nachwort für Heinrichs Buch "Sprung aus dem Teufelskreis". Es klingt wie ein weltanschauliches Testament:

"Wie steht es um die Chancen der Verwirklichung des "Sprunges aus dem Teufelskreis" des Ökonomismus? Die sozusagen konfuzianische Forderung nach Berichtigung der Begriffe, nach der logischen und systematisch adäquaten Gliederung des politisch-sozialen Ganzen ist, obgleich Mitbedingung einer Rettungsbewegung, nicht das hinreichende Mittel. Nachträglich kann der durchgegangene instrumentelle Machtverstand nur durch eine Revolution eingeholt werden, bei der der Blitz von oben induziert, von unten durch alle Ebenen schlägt. Die Kraft "von oben" kann nur aus dem geistigen Erwachen der menschlichen Wesenskräfte "von unten" oder durch den äußersten Schrecken der Geschichte kommen. En masse ist der Schrecken wahrscheinlich unerlässlich. Wie Schiller wusste: Die Menschen finden sich in ein verhasstes Müssen weit besser als in eine schwere Wahl."

Wieweit die Realutopie von Johannes Heinrichs in der Realpolitik eine Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin gibt es hoffnungsvolle Zeichen, wie den Kommentar vom Bundestagsabgeordneten Ernst Ulrich von Weizsäcker zu Heinrichs Buch "Revolution der Demokratie":

"Ich finde es wichtig, dass Ihr Buch weite Verbreitung findet. In jedem Fall werde ich Ihr Buch in die Sitzung der SPD-Grundwertekommission mitnehmen."

Sicherlich ist aus heutiger Sicht die strenge Vierteilung von Parlament und Gesellschaft unvorstellbar. Doch spricht das im Kern für Heinrichs Konzeption. Schließlich zeichnet sich ja utopisches Denken gerade dadurch aus, dass es Visionen entwirft, die auf einen radikal anderen Entwurf von Wirklichkeit zielen.

Somit ist es auch verständlich, dass sich ein Utopist wie Rudolf Bahro nie davon hat beeindrucken lassen, dass seine Vorstellungen von einer anderen Gesellschaftsordnung nie in die Tat umgesetzt wurden. Weder in der DDR unter Honecker, noch in der Bundesrepublik bei den Grünen, aber auch nicht im sich vereinigenden Deutschland der Wendezeit.

Damals hoffte Bahro, dass nach dem moralischen wie monetären Bankrott der SED-Regierung ein Nullpunkt erreicht sei, von dem aus man neu starten könnte. Bahro entwarf über Nacht eine Konzeption, nach der das marode Ostdeutschland gar nicht erst den Weg in die westliche Industriegesellschaft gehen sollte, sondern sich stattdessen in Kommune-Strukturen vorwiegend durch Landbau selbst versorgt und spiritualistischen Praktiken widmet. Kommunitäre Subsistenzwirtschaft nannte Bahro diese Art der ökologisch verträglichen, überschussfreien, unkapitalistischen Produktionsweise. In einem Memorandum schrieb er seine Hoffnungen nieder:

"Nur bei einem auf Subsistenzwirtschaft gegründeten Lebensstil freiwilliger Einfachheit und sparsamer Schönheit können wir uns, wenn wir außerdem unsere Zahl begrenzen, auf der Erde halten. Lasst uns darüber nachdenken, wie wir uns unabhängig von der Großen Maschine nähren, wärmen, kleiden, bilden und gesund erhalten können. Beginnen wir daran zu arbeiten, ehe sie uns vollends durchgesteuert, einbetoniert, vergiftet, erstickt und eher früher als später atomar total vernichtet hat. "

Reschke: " Ich halte dies eigentlich für eine Fehleinschätzung der Grundsituation in den End-Achtziger-Jahren in der DDR. Jetzt sage ich es mal positiv: Ich glaube, es hätte die DDR-Bürger überfordert ein solches Konzept, weil es ihre Befindlichkeiten nicht getroffen hat, sowohl die realen Befindlichkeiten, aber auch die ideellen und intellektuellen Befindlichkeiten nicht. Das hängt zusammen mit dem, was Bahro ja verfolgt hat - dieses spiritualistische Moment, das dann doch sehr abhebt von den realen Gegebenheiten. Und die waren über weite Strecken nicht die Grundlage seines analytischen Blicks gewesen.

Das ist mir aufgefallen ... vor allen Dingen auch in dem, was er programmatisch versucht hat zu formulieren, welchen Sinn und welche Notwendigkeit seine Vorlesungen und sein Institut an dieser Universität haben sollten. Es hat sich ja erwiesen, dass dieses Institut eigentlich von der Würdigung seiner Person gelebt hat. ... Es war vielleicht die Referenz an eine große Utopie. Und das hat auch so ein tragisches Moment, dass also genau das, was er gedacht hat, was nach dieser Wende mit der DDR, welches Potential daraus erwachsen könnte, das ist ja alles nicht eingetroffen. "

Es ist die Tragik des Utopisten, dass seine Utopien an der Wirklichkeit scheitern. Das aber bedeutet weder, dass der Utopist auch eine tragische Figur sein muss, noch bedeutet es, dass nicht allein schon durch das Vorhandensein einer Utopie bereits eine Veränderung eingetreten ist. Insofern hat das Symposion an der Berliner Humboldt-Universität auch sein Ziel erreicht. Bahros Visionen wurden erneut besprochen, weiterführende Ideen wie die von Johannes Heinrichs wurden vorgestellt, und es gab viele Antworten auf die Frage nach der Aktualität von Bahro.

Heinrichs: " Für mich ist es wohltuend, ihn im Rücken zu wissen. Auch wenn ich die einzelnen intellektuellen Sachen selbst verantworten muss. Aber dass da einer ist, und ich wüsste kaum jemanden sonst, der so radikal gefragt hat. … Diese Radikalität gibt mir selbst Kraft. Er hat die richtigen Fragen gestellt und mit den Antworten muss man sich selbst weiterhelfen. So sehe ich das. Es ist ein Impulsgeber. Es ist mehr eine Kraft als eine Lehre. "

Oskar Negt: "Gewiss. Er war auch ein Träumer und in dem Sinne auch ein Utopist. Ich würde nie das Wort "Scheitern" so einfach verwenden für Projekte, die unausgetragen sind. Ich würde eher sagen, wenn Experimente Anstoß bleiben für Lernprozesse, also Lernprovokationen bleiben, dann bleiben sie auch aktuell. Und darin liegt meines Erachtens auch ein Dokument produktiven, intellektuellen Lebens, das ganz zweifellos Bahro für sich in Anspruch nehmen könnte: zu experimentieren, zu suchen, sich zu irren und vielleicht irgendein Wahrheitsfaden zu erwischen. In diesem Sinne bleibt er eine interessante intellektuelle Persönlichkeit. "

Reschke: " Auf Anhieb würde ich eher den Gestus hervorheben. Diese Art von Radikalität eines Wissenschaftlers. Unabhängig jetzt vom Inhalt, unabhängig auch von der weit in die Zukunft reichenden Wirksamkeit einer Utopie, sondern die Haltung eines Wissenschaftlers, jede Situation, in der man lebt oder in der Menschen gezwungen sind zu leben, immer kritisch zu hinterfragen und sich dieses kritische Potential zu bewahren, also nicht in Opportunismus zu kippen, der Bequemlichkeit und Einfachheit wegen, das ist so eine Haltung, die ganz wichtig ist. ..... Egal in welchen Situationen man denkt, das eigene Denken nicht in Ideologie verkommen zu lassen. Das ist etwas, das mit dem Namen Bahro verbunden ist und auch bleibt."

Kurt Seifert: " Eine Gesellschaft, die Rücksicht nimmt auf die Naturzusammenhänge, die wird nur möglich sein, wenn in ihr Menschen leben, die auch ihre eigene Natur zur Kenntnis nehmen, die ihre eigene Natur nicht abspalten und mit der ausbeuterisch umgehen, sondern liebevoll. "

Bahro: "Der Traum, dass die Industrie zu Glück führt, hat sich ja wohl zerschlagen. Der Jäger in der Urzeit konnte ja zu sich kommen auf der Jagd. Aber wir jagen von uns fort. "
Der erste Vorstand der Grünen im Jahr 1980
Der erste Vorstand der Grünen im Jahr 1980.© AP Archiv
Strohballen auf einem Feld in Brandenburg
Bahros Utopie für Ostdeutschland war "kommunitäre Subsistenzwirtschaft".© AP