USA und Iran

Hoffnungsschimmer für den Nahen Osten

Der Schriftsteller Navid Kermani
Der Schriftsteller Navid Kermani © dpa / picture alliance / Ingo Wagner
Navid Kermani im Gespräch mit Ulrike Timm · 17.06.2014
Für den Schriftsteller Navid Kermani ist eine Vermittlung zwischen USA und Iran nicht nur ein Schlüssel für den Irak-Konflikt, sondern für die ganze Region und Syrien. Alte Konfliktlinien im Nahen Osten hätten ein sunnitisch-schiitisches Gewand angenommen.
Ulrike Timm: Sie haben es in den Nachrichten gehört: Die Regierung im Irak sichert die Ölfelder, Bagdad wird zum Bollwerk vor den islamistischen Isis-Kämpfern, die den halben Irak überrennen. Die schiitische Regierung von Präsident Maliki scheint, diesen Kämpfern wenig entgegensetzen zu können. Isis ist wesentlich geprägt von der sunnitischen Minderheit im Land, die die Schiiten als Ketzer betrachten.
Wir wollen mit dem Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani darüber sprechen, wo die kulturellen Kampflinien verlaufen und warum der Hass untereinander derart erbittert ist. Schönen guten Morgen, Herr Kermani.
Navid Kermani: Guten Morgen.
Timm: Nun weiß man ja, die schiitische Mehrheit unter Präsident Maliki hat die Sunniten im Irak isoliert, nicht mit einbezogen. Unter Saddam Hussein war das umgekehrt, da fühlten sich die Schiiten von den Sunniten unterdrückt. Woher aber rührt so ein abgrundtiefer Hass zwischen zwei Gruppen im selben Land, die sich doch beide auf dieselbe Religion, den Islam berufen?
Kermani: Zunächst muss man natürlich sagen, dass dieser abgrundtiefe Hass relativ neu ist. Das heißt, bis vor einigen Jahren oder Jahrzehnten spielte das im Alltag keine so große Rolle. Es ist wie bei so vielen Konflikten, denken Sie nur an den Jugoslawien-Konflikt, dass dann, wenn politische, soziale Situationen sich ändern, Konflikte, auch ganz alte, überwunden geglaubte Konfliktlinien aufbrechen, und so ist das auch hier. Das ist eigentlich eine Überraschung für alle Menschen im Irak und in der Region, dass dieser Konflikt zwischen Sunna und Schia nun eine derartige Dramatik hat.
Und wenn Sie nach dem Ursprung fragen, dann muss man natürlich zurückgehen ins 7., 8. Jahrhundert. So lange reicht dieser Konflikt zurück. Da ging es um die Nachfolge des Propheten Mohammed. Die Schiiten werfen, um es ganz kurz zu sagen, der damaligen Kalifen-Dynastie der Umayyaden vor, die alte vorislamische Aristokratie restauriert zu haben, und sie haben dieses Kalifat, das Umayyaden-Kalifat nie anerkannt.
Sie haben die zwölf direkten Nachfahren des Propheten als Imame anerkannt, und aus diesem Urkonflikt, der auch im Irak seinen lokalen Ort hat, in Karbala, in der Schlacht von Karbala, als die Umayyaden den Schiiten-Imam Hussein niedergemetzelt haben, so weit reicht dieser Konflikt zurück.
Timm: Das macht die Sache für mich eigentlich noch bestürzender, denn ich frage mich, wenn das wirklich Jahrhunderte zurückgeht, ob denn der einzelne Sunnit, der einzelne Schiit noch wirklich weiß, was damals war, oder ob das so ähnlich ist wie beim 30-jährigen Krieg, wo am Schluss ja auch niemand mehr so richtig wusste, wofür oder wogegen man einfach kämpfte, aber man kämpfte.
Kermani: Ja. Das mit dem 30-jährigen Krieg, das taucht in meinen Gedanken auch immer wieder auf. Das kann man schon sehr vergleichen. Das heißt, auch dort ist ein konfessioneller Konflikt, der aber dann sehr bald sich verselbständigte, wo dann einfach kriminelle Banden, Warlords hier und dort noch unter dem Namen der Religion, aber mit wechselnden Allianzen gekämpft haben.
Wenn Sie jetzt schauen, dass etwa die Isis, diese sunnitische Miliz offenbar unter aktiver Unterstützung, wie die neuen Dokumente auch belegen, des schiitischen oder alewitischen Assad-Regimes wirken konnte, dass Assad die Isis stillschweigend unterstützt, um die anderen Oppositionellen, die säkularen und gemäßigten Oppositionsgruppen in Syrien zu schwächen, dann sehen Sie auch hier, wie schnell hier die Allianzen wechseln.
Nur das muss ich auch sagen: Ich bin seit 20 Jahren oder 25 Jahren in der Region unterwegs, zunächst als Student, später als Reporter. Ich bin aufgrund meiner iranischen Herkunft Schiit, und ich hatte in all den Jahren niemals irgendwo die geringsten Probleme, wurde nie angemacht, wurde nie beleidigt. All das tauchte einfach überhaupt nicht auf.
Nur klar: Offenbar war das die Oberfläche und jetzt, wenn es Konflikte gibt, wenn Not da ist, dann orientiert man sich nach der eigenen Gruppe, und diese Gruppe mag dann auch irgendwie konstruiert sein, aber das spielt dann im Alltag keine Rolle, und der Hass ist sehr leicht entflammbar und sehr, sehr schwer zu überwinden.
Timm: Herr Kermani, Ihr Schriftstellerkollege Najem Wali, der irakische Wurzeln hat und auch noch viele Kontakte ins Land, der ist sich sicher: Spätestens wenn die Islamisten die schiitischen Heiligtümer in Karbala, die Sie ja eben auch angesprochen haben, angreifen, dann gibt es einen Krieg zwischen Irak und Iran. Teilen Sie diese Ansicht?
"Der Konflikt ist ja schon jetzt im vollen Gange"
Kermani: Ich kenne mich natürlich im Irak viel weniger aus als Najem Wali, und ich war auch noch nicht im Irak. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass die Schiiten und vor allem auch die Iraner das zulassen würden – die Isis, das sind ja nicht viele Leute; das sind offenbar 2000, 3000 Leute, insgesamt 10.000 Mann einschließlich der Soldaten in Syrien -, dass die da ernsthaft weiter vordringen könnten, in schiitische Gebiete eindringen könnten.
Aber natürlich: Der Konflikt ist ja schon jetzt im vollen Gange. Das ist ja kein Konflikt wie früher zwischen Iran und Irak, wo Staaten sich bekämpfen, sondern jetzt, wie in Syrien, wie in anderen Teilen der Welt, sind es einzelne Milizen, die aufgrund des Chaos, aufgrund der Regierungslosigkeit, aufgrund von Staaten, die einfach keine Staaten mehr sind, wo die Regierungsgewalt zusammengebrochen ist, dann mit relativ wenig Truppen die Macht an sich reißen und diese Macht mit äußerster, mit schier unglaublicher, auch wirklich nie gekannter Brutalität verteidigen.
Das ist ein Terrorregime im wahrsten Sinne des Wortes, das sich auch seinen diplomatischen Lösungsmodellen entzieht, weil sie einfach nicht die Sprache der Diplomatie sprechen. Insofern kann man eigentlich nur hoffen, dass sich aus der Not geboren auch neue Allianzen der Vernunft bilden, damit man dieser wirklichen Barbarei auch Einhalt gebietet, die auf dem Rücken der Bevölkerung stattfindet. Es ist ja nicht so, dass die Iraker jetzt glücklich wären mit dieser Isis.
Timm: Hunderttausende sind ja auf der Flucht.
Kermani: Das zeigt ja nicht, dass hier ein abgrundtiefer Hass zwischen den Sunniten, den Schiiten da ist, sondern dass eine Art von Rechtlosigkeit, von Anarchie herrscht - und da wirklich vergleichbar wie im 30-jährigen Krieg -, in der sich einzelne Milizen die Macht einfach nehmen und sie mit den Mitteln der äußersten Brutalität und mit dem Geld, was sie sich erbeutet haben oder das sie zur Unterstützung bekommen haben, diese Macht auch verteidigen.
Timm: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani. Herr Kermani, nun kommt es ja im Nachbarland zu einer Annäherung unter Feinden, sage ich mal. Die USA und der Iran nähern sich einander sehr vorsichtig an, angesichts der Situation im Irak. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Kermani: Ja, das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer. Wenn Sie die ganzen Konflikte in der Region sehen, auch Syrien - man kann ja den jetzigen Irak-Konflikt nicht verstehen ohne das Versagen, das wirklich allseitige Versagen so ziemlich aller beteiligten Staaten in Syrien, dieser Konflikt in Syrien, der ja eigentlich ein friedlicher war, ein säkularer Protest zu Freiheit, der dann aufgrund des Wegsehens und des Einwirkens äußerer Mächte wie Russland, wie Iran, wie den Golf-Staaten, wie USA und so weiter, Türkei und so weiter und so fort auf eine ganz schlimme Weise eskaliert ist.
Dieser Konflikt ist eigentlich im Kern ein amerikanisch-iranischer oder, wenn man so will, auch amerikanisch-russischer Konflikt. Das heißt, hier werden Stellvertreterkriege veranstaltet, und die Iraner und die USA haben sich nach der Revolution von 1979 im Iran, die eine antiamerikanische Revolution war, mit den Sunniten im Nahen Osten verbündet und haben die Allianz mit Saudi-Arabien aufgebaut, und das ist wiederum nun der größte Förderer radikaler sunnitischer Kräfte im Nahen Osten.
Das heißt, indirekt haben sich die USA mit dem sunnitischen Extremismus verbündet. Zu einem bestimmten Teil auch sind das oft die Geister, die man rief und jetzt nicht mehr los wird. Und umgekehrt: Iran spielt nicht nur die eigene Karte, sondern vertritt hier auch die russischen Interessen, und hier dieser alte Konflikt, die alten Konfliktlinien haben hier ein sunnitisch-schiitisches Gewand angenommen, und um sie aufzulösen, wäre natürlich eine Vermittlung zwischen USA und Iran wirklich ein Schlüssel - nicht nur für Irak, sondern über Irak hinaus für die gesamte Region, speziell Syrien.
Timm: Nun zeichnen Sie da eine geostrategische Gemengelage von riesiger Dimension, immer durchwirkt von, ich sage mal vorsichtig, konfessionellen Streitigkeiten, die in Kriege münden. Vor diesem Hintergrund gibt es ja Leute, das sind nicht unbedingt Spinner, die zeichnen vor ihrem inneren Auge schon Landkarten.
Man müsste das einfach ausdifferenzieren: Dort sollen die Sunniten wohnen, dort die Alewiten, dort die Schiiten. Das ist doch eigentlich eine traurige Vorstellung, denn in dieser Region hat man ja über Jahrhunderte auch zusammengelebt. Das darf man ja nicht vergessen.
"Das ist ein einziger Albtraum"
Kermani: Ja! Das ist ein einziger Albtraum, und das Schlimme ist, wir sind mitten in diesem Albtraum. Syrien hat schon diese albtraumhaften Dimensionen, Irak ist dabei. Es ist ja nicht so, dass die Sunniten, die Schiiten, die Alewiten, die Christen, dass die hier getrennt leben. Nein, die leben Tür an Tür oder lebten Tür an Tür.
Wir sehen jetzt mit hundertjähriger Verspätung im Nahen Osten das, was im Westen zu den ganzen Weltkriegen geführt hat: dieser Furor des Nationalismus, der ethnischen Dimension, dass man glaubt, der Nachbar ist deshalb schlecht, weil er eine andere Herkunft hat oder einen anderen Glauben hat, weil er ein anderes Aussehen hat.
Das sehen Sie plötzlich im Nahen Osten, und das macht natürlich das Leben in dieser Region ganz fürchterlich, weil die Menschen leben zusammen. Auch Iran ist ein Vielvölkerstaat. Nur 55 Prozent der Iraner sind Perser, 45 Prozent der Iraner sprechen als Muttersprache eine andere Sprache.
In der Türkei ist es nicht so viel anders. Das heißt, diese gesamte Region ist eine multikulturelle, multikonfessionelle Region. Wenn hier der Furor des Konfessionalismus, des Nationalismus, der Ethnie hinein gerät, dann hat das fürchterliche Konsequenzen, deren Ausmaß wir gerade erst übersehen können.
Wenn da nicht entschlossen Einhalt geboten wird, wenn das überhaupt noch möglich ist, dann wird sich die Landkarte des Nahen Ostens wirklich sehr verändern, und es werden die Menschen leiden, und es wird sich nicht zum Positiven verändern.
Timm: Das befürchtet der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani. Ganz herzlichen Dank fürs Gespräch, und wir bitten um Entschuldigung für die nicht ganz glückliche Telefonleitung. Das konnten wir so schnell nicht mehr ändern. Vielen Dank, Herr Kermani, alles Gute, guten Tag.
Kermani: Ja! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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