USA-Türkei

Erdogans doppelbödige Politik

Das Weiße Haus in der Stadt Washington
Der türkische Präsident Erdogan wird bei seinem Washington-Besuch nicht im Weißen Haus empfangen © picture-alliance / dpa / Arno Burgi
Wolfgang Gieler im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 29.03.2016
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht diese Woche Washington, wird aber von US-Präsident Barack Obama nicht empfangen. Die Visite habe deshalb vor allem auf türkischer Seite für einigen Unmut gesorgt, sagt der Politologe Wolfgang Gieler.
Weil der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Menschenrechte und Pressefreiheit missachte, hätten einige frühere US-Botschafter Präsident Barack Obama dazu bewegt, diesen persönlich nicht zu empfangen, sagte der Politologe Wolfgang Gieler über den bevorstehenden Washington-Besuch im Deutschlandradio Kultur. Die Visite diene dazu, die türkische Strategie im Syrienkrieg zu erläutern, am Gipfel über nukleare Sicherheit teilzunehmen und wirtschaftlichen Interessen. "Hier finden Gespräche mit 25 Großunternehmen statt", sagte Gieler. Dabei gehe es um ein Investitionsvolumen von rund einer Milliarde US-Dollar.

Theaterschauspiel für die Öffentlichkeit

Gieler betonte, dass sich die Türkei als regionale Führungsmacht verstehe und sich zukünftig auch weltweit, beispielsweise in internationalen Organisationen, noch stärker profilieren wolle. Das Land wolle zu einer der zehn stärksten Volkswirtschaften aufsteigen. Der Politologe sprach von einer "Doppelbödigkeit" der türkischen Außenpolitik. Einerseits sei zum hundertjährigen Bestehen der Republik 2023 eine EU-Mitgliedschaft vorgesehen. Jedoch sei längst klar, dass die türkisch-europäischen Beziehungen eine reine Zweckpartnerschaft seien. Ankara verfolge vielmehr die Rolle einer türkischen Großmacht unter dem Erdogan-Regime. "In diesem Kontext besteht sicherlich kein Interesse, einen Teil der nationalen Souveränität an die EU abzutreten oder etwa ihre Macht mit zerstrittenen Unionsmitgliedern zu teilen", sagte Gieler. "Gerade die Beitrittsverhandlungen EU-Türkei sind daher meines Erachtens zu einer Farce degeneriert." Es werde ein "Theaterschauspiel" für die Öffentlichkeit inszeniert. Dabei werde die Türkei unter dem Autokraten Erdogan wohl kaum der EU beitreten.

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Gerade war er in den Schlagzeilen als Nebenkläger im Prozess gegen die Journalisten Dündar und Gül, der regierungskritischen Zeitung "Cum Hürriyet", denen wegen ihrer Veröffentlichungen über Waffenlieferungen der Türkei an die Terrormiliz IS lebenslange Haft droht. Dann war er der Partner der Europäischen Union, die der Türkei sechs Milliarden Euro zahlt, damit sie ihr die Flüchtlinge vom Hals hält, und schließlich erfuhren wir, dass er wegen einer NDR-Satire bei "Extra Drei" den deutschen Botschafter einbestellt haben soll. Recep Tayyip Erdogan.
Ein Song, der den türkischen Präsidenten so wütend gemacht haben soll, dass er den deutschen Botschafter zu sich zitiert haben soll. Heute reist er in die Vereinigten Staaten. Erdogan als Außenpolitiker – was dort auf seiner Agenda steht, das wollen wir von Wolfgang Gieler wissen. Der Politikwissenschaftler und Ethnologe forscht derzeit an den Universitäten Kassel, Jena und Vechta. Professor Gieler, schönen guten Morgen!
Wolfgang Gieler: Einen schönen guten Morgen!

Unmut vor der Washington-Visite

Brink: Was will Erdogan in Washington erreichen?
Gieler: Zunächst sollte erwähnt werden sicherlich, dass der bevorstehende Besuch von Recep Erdogan in den USA im Vorfeld für einigen Unmut insbesondere auf türkischer Seite geführt hat. Hier ist darauf hinzuweisen, dass einige ehemalige US-amerikanische Botschafter im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten und Pressefreiheit in der Türkei Präsident Obama bewegt haben, den türkischen Präsidenten nicht persönlich zu empfangen. Das sorgte für einigen Unmut.
Der Besuch dient erstens aus türkischer Perspektive, nochmals die eigenen Standpunkte in Bezug auf den Krieg in Syrien zu verdeutlichen. Hier laufen die türkischen Ansinnen sicherlich der US-Strategie völlig zuwider. Zweitens wird Staatspräsident Erdogan im Rahmen seines Besuchs am nuklearen Sicherheitsgipfel teilnehmen, und drittens dient der Besuch handfesten außenwirtschaftspolitischen Eigeninteressen. Hier finden Gespräche mit 25 US-Großunternehmen statt im Rahmen eines investitionsvereinbarenden Volumens von rund einer Milliarde US-Dollar.

Beitrittsverhandlungen mit der EU als Farce

Brink: Das sind ganz handfeste Wirtschaftsinteressen. Wie steht es denn nun aber um das außenpolitische Profil Erdogans? Die Europäische Union behandelt ihn ja derzeit äußerst zuvorkommend, und er selbst legt gern mal den Finger in die Wunde, wenn wir nur an die belgischen Fehler vor dem Attentat von Brüssel denken. Wie verlässlich ist Erdogan denn als internationaler Partner.
Gieler: Ich denke, hier müsste erst sicherlich auch auf die Grundlinien der türkischen Außenpolitik nochmals verwiesen werden, die vom jetzigen Ministerpräsidenten Davutoglu formuliert wurden, dass die Türkei sich als führende Macht versteht, zumindest im regionalen Bereich, aber auch zukünftig im internationalen Bereich, dass die Türkei in allen internationalen Organisationen eine führende, bestimmende, prägende Rolle einnehmen soll, und dass sie drittens auch zu einer der zehn stärksten Volkswirtschaften aufsteigen soll.
Die Verlässlichkeit bezüglich der außenpolitischen Partnerschaft mit der Türkei wird nach meinem Dafürhalten aber sehr deutlich durch die Agenda 2023, die Doppelbödigkeit insbesondere der türkischen Außenpolitik. Diese sieht unter anderem zum hundertjährigen Bestehen der Republik eine EU-Mitgliedschaft zwar weiterhin vor, jedoch ist längst klar, dass das türkisch-europäische Beziehungsgeflecht eine reine Zweckpartnerschaft darstellt und die Türkei keineswegs weiterhin einen EU-Beitritt nach meiner Einschätzung favorisiert, sondern eher Vorstellungen einer Großmacht, vermeintlichen türkischen Großmacht unter dem Erdogan-Regime artikuliert.
In diesem Kontext besteht sicherlich kein Interesse, etwa einen Teil der nationalen Souveränität an die EU abzutreten oder etwa ihre Macht mit zerstrittenen Unionsmitgliedern zu teilen. Gerade die Beitrittsverhandlungen EU-Türkei sind daher meines Erachtens zu einer Farce degeneriert. Aktuell wird ein Theaterschauspiel für die Öffentlichkeit inszeniert. Jeder, der sich mit der Türkei beschäftigt, wird sicherlich zustimmen können, dass die Türkei unter dem Autokraten Erdogan kaum der EU beitreten wird.
Brink: Einschätzungen waren das von Wolfgang Gieler, Politologe und Ethnologe, der derzeit in Deutschland an den Universitäten Kassel, Jena und Vechta arbeitet, vor dem Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan in den Vereinigten Staaten, wo er nicht Präsident Obama treffen wird. Ich danke Ihnen, Herr Professor Gieler!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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