USA

Kehrtwende in der Armutsbekämpfung

Der 36. Präsident der USA: Lyndon B. Johnson
Der 36. Präsident der USA: Lyndon B. Johnson © picture alliance / dpa / Schulmann-Sachs
Von Regina Kusch und Andreas Beckmann · 17.09.2014
Die von US-Präsident Lyndon B. Johnson Mitte der 1960er-Jahre eingeführten Sozialprogramme waren revolutionär. Doch seine Nachfolger Nixon und Reagan nahmen einiges davon zurück. Bis heute hält sich die Skepsis vieler Amerikaner gegenüber dem Staat.
"This administration today, here and now declares unconditional war on poverty in America."
Ein amerikanischer Präsident erklärt der Armut den Krieg. Lyndon B. Johnson war das, 1964. Und er meinte nicht die Armut in irgendwelchen fernen Regionen, sondern daheim, im reichsten Land der Welt. Seine Kriegserklärung gab er vor Studenten der University of Michigan ab.
Amerikas Jugend erinnerte sich damals daran, dass nicht nur das Streben nach Freiheit zu jenen Grundwerten der Nation gehörten, für die berühmte Vorfahren gekämpft hatten und sogar gestorben waren, sondern auch das Verlangen nach Gerechtigkeit.
Der Kampf für soziale Rechte – für die etwas älteren weißen Amerikaner schien dieses Thema der Vergangenheit anzugehören. Hatten doch die USA in der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre, anders als die europäischen Länder, einen sozial verträglichen Ausweg aus der Krise gefunden. Im Rahmen ihres "New Deal" hatte die Regierung Roosevelt die Rechte der Gewerkschaften gestärkt und mit Konjunkturprogrammen die Nachfrage angekurbelt. Auf diesen Sieg über die große Depression war diese Generation ebenso stolz wie auf ihren Triumph über Hitler.
Viel Armut trotz New Deal
Not und Elend schien es allenfalls noch in den Vierteln der Schwarzen zu geben. Doch da schaute man lange niemand hin, bis 1962 der Politologe Michael Harrington sein Buch "Das andere Amerika" publizierte. Plötzlich entdeckten auch Reporter des neuen Massenmediums Fernsehen jene Millionen US-Bürger, die immer noch in Armut lebten und von denen die meisten, aber längst nicht alle dunkelhäutig waren.
"The poor are still there. A vast sad army of them. ... 17 and a half million people. ... The jobs are bad, the living is bad, the schooling is bad, the future hardly even exists."
"Es gab eine Bereitschaft das anzuerkennen, ... es hat auf jeden Fall eine Bewusstseinsentwicklung angestoßen, dass es viel Armut in der Gesellschaft gibt."
Michael Fichter unterrichtet an der "Global University of Labor" Gewerkschafter aus allen Kontinenten, besonders aus Deutschland und den USA, in politischer Wissenschaft. 1964, als junger Student in Kalifornien, unterstützte Fichter die Politik von Präsident Johnson. Nicht nur, weil der mit dem Civil Rights Act die formale Diskriminierung der Schwarzen im Süden der USA verboten hatte. Sondern weil Johnson mit dem Krieg gegen die Armut auch die materielle Ungerechtigkeit verringern wollte.
"Für Präsident Lyndon Johnson war es eine Möglichkeit, das Thema anders anzugehen als nur zu sagen, es ist ein Problem des Rassismus. Es ist ein viel breiteres Problem. Und dadurch konnte er ganz andere Unterstützung mobilisieren, als wenn er das nur als Bürgerrechtsproblem gesehen hätte."
The Great Society – Wohlstand und Freiheit für alle
"In a land of great wealth families must not live in hopeless poverty. ... This is what America is all about."
Für eine Politik, die allein ethnische Minderheiten förderte, hätte Johnson kaum die Unterstützung der weißen Mehrheit gefunden. Deshalb legte er den Feldzug gegen die Armut als ein Programm an, das an den populären New Deal anknüpfen sollte. Dafür erfand er ein ähnlich einprägsames Schlagwort wie einst Roosevelt: The Great Society.
"The Great Society rests on abundance and liberty for all."
Johnson versprach Wohlstand und Freiheit für alle, indem er sozialpolitische Lücken schließen wollte, die der New Deal offen gelassen hatte. Zum Beispiel bei der Altersarmut.
Der New Deal hatte zwar die "Social Security" geschaffen, eine Rentenversicherung für alle, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch einzahlten. Aber eine gesetzliche Krankenversicherung gab es nicht. Die Gewerkschaften hatten durchgesetzt, dass Arbeitgeber ihre Beschäftigten auf Kosten des Unternehmens versichern mussten. Sozialpolitik per Tarifvertrag, davon profitierten die, die Arbeit hatten, nicht aber nicht Arbeitslose und Rentner.
Medicare, eine Krankenversicherung für Rentner, war eine der ersten Institutionen, die der Krieg gegen die Armut schuf. Zusammen mit Medicaid, einem Programm zur Gesundheitsfürsorge für Arme.
Berühmte Paten für die neuen Programme
Um symbolisch an den New Deal anzuschließen, lud Johnson zur Unterzeichnung der notwendigen Gesetze Harry S. Truman ein, Roosevelts Vizepräsident. Truman wurde Mitglied Nummer 1 in Medicare.
An die Zeit große amerikanischer Erfolge sollte auch die Wahl des obersten Feldherrn im Krieg gegen die Armut erinnern: Johnson beauftragte den Weltkriegsveteran Sargent Shriver.
"It was typical for all of us ... to think of this war, the War Against Poverty, in terms just like the war against Hitler."
Genau so wie einst im Krieg gegen Hitler, versprach Shriver, werde der Staat alle Ressourcen mobilisieren, um die Armut zu besiegen.
"We were accustomed to thinking in terms of the United States being able to do big things."
Aber: Wenn eine Regierungsbehörde ankündigt, Milliarden für ein politisches Ziel auszugeben, provoziert das in den USA fast zwangsläufig Widerspruch. Seit den Zeiten der ersten Kolonisten gehört es zum guten Ton, sich von Big Government keine Vorschriften machen lassen zu wollen.
Republikanischer Gegner der Armutshilfen
Schon im Wahlkampf 1964 stand Johnson einem Gegenkandidaten gegenüber, der diese traditionelle Stimmung aufgriff, dem republikanischen Senator Barry Goldwater.
Goldwater: "You know, that’s the big trouble with big inflationary government. It takes more and more of your earnings. ... I ask you to join me in helping to restore the individual freedoms and initiatives this nation once knew. ..."
Sprecher: "In your heart, you know he’s right – Vote for Barry Goldwater"
"Er wollte nur sagen, der Staat soll klein bleiben. Seine Meinungen waren: kleinerer Staat, weniger Steuern, aber starke Verteidigung."
Andrew S. Gross stammt aus Goldwaters Heimat Arizona. Seine Tante setzte als Kommunalpolitikerin der Demokraten jene Sozialprogramme um, gegen die Goldwater wetterte.
"Er war bekannt, sagt man, er war ein native son, sagt man. ... Er war sehr reich, die Goldwaters haben ein Verkaufshaus gehabt in Arizona, die haben eine Kette gehabt und er hat die geerbt. Er hat ganz viel Geld gehabt, ganz privilegiert ist er aufgewachsen, in diesem Laden oder dieser Kette war er Chef und dann hat er entschieden, in die Politik zu gehen"
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Der republikanische Senator Barry Goldwater im Präsidentschaftswahlkampf 1964 in New York. Er war gegen Johnson Sozialprogramme.© APF FILES
Das Pathos, mit dem er für die Freiheit stritt, machte Goldwater populär, nicht nur in Arizona. Doch die Stimmung drehte sich gegen ihn, die Jugendbewegung machte sich über ihn lustig.
"Es gab diese Autoaufkleber, Amerikaner haben das sehr gerne. 1964 - seine Gegner haben einen Aufkleber gehabt: 'Goldwater 1848'. Sie haben ihn als sehr altmodisch gesehen. Sie meinten okay, er ist nett, er meint das gut, aber er ist einfach aus einem anderen Jahrhundert, sehr altmodisch."
Niederlage für die Republikaner
Geradezu missionarisch wetterte Goldwater gegen den Sozialstaat als totalitäre Verirrung. Selbst dann, wenn er im Sonnenstaat Florida vor Rentnern auftrat, die sich dort mit den Schecks der Rentenversicherung einen schönen Lebensabend machten.
Die Präsidentschaftswahlen 1964 endeten mit einer erdrutschartigen Niederlage für Goldwater und die Republikaner.
"Johnson, ... nach Kennedys Ermordung, war unantastbar. ... Kennedy war der Held, der Märtyrer, ... Johnson war sein Nachfolger. Und er hat diesen Zeitraum, ... benutzt, ganz viel durchzuschieben, ... Civil Rights Act, Educational Act, 1964,65, ... Medicare. ... Er konnte einfach sagen, das wollte Kennedy machen, aber er kann es nicht, er ist tot. Und er konnte diese Sachen durchziehen. Ganz viele Leute haben davon profitiert. Ganz viele haben das unterstützt, aber es gab nie einen Konsensus, es war immer umstritten."
Der Krieg gegen die Armut konnte aber nicht in Washington gewonnen werden, das hatte Sargent Shriver früh erkannt. Er musste in den sozialen Brennpunkten der Städte entschieden werden, mit "Community Action", mit kommunalen Hilfsprogrammen.
"A community action ... is local action. We depend completely on local communities to come to Washington with there own programs."
Fichter: "Ende der 1960er, 1970er Jahre, gab es durch verschiedene Maßnahmen, z.B. … weil die Nachbarschaften in den Städten rassenmäßig getrennt waren und auch ethnisch getrennt waren, hatte man versucht, durch die Einsetzung von Transportmöglichkeiten mit Bussen Schwarze in Weißenviertel zu bringen, und Weiße in schwarze Viertel."
Große Hoffnungen in Kommunalpolitiker
Schwarze und weiße Kinder sollten gemeinsam zur Schule gehen, damit alle die gleichen Bildungschancen bekämen und später ähnlich gute Jobperspektiven hätten.
Fichter: "Das gab große Probleme und Auseinandersetzungen in den Städten, … die nicht immer friedlich gelaufen sind in der Zeit. Es gab Schwierigkeiten für viele Städte und Gemeinden, die Kosten aufzubringen für diese ganzen Maßnahmen, die zu mehr Gleichheit führen sollten, die Bundesprogramme waren teilweise unterfinanziert."
Johnson und Shriver sahen die Kommunalpolitiker in den großen Städten als ihre Verbündeten an. Fast alle waren Demokraten, viele gestählt in den oft gewalttätigen Streiks und Fabrikbesetzungen der 1930er-Jahre, die die Durchsetzung des "New Deal“ begleitet hatten. Damals hatte sich die Zweite Generation von Einwanderern - unter anderem aus Italien und Osteuropa - ihren Anteil am amerikanischen Traum erkämpft.
Die politische Philosophie ihrer Protagonisten ruhte auf drei Säulen: hohe Steuern, hohe Sozialleistungen, hohe Verteidigungsausgaben. Für die alten Kämpen der Demokraten gehörten diese drei Elemente zusammen, denn Roosevelts prestigeträchtige Infrastrukturprojekte der 30er-Jahre wie der Hooverdamm oder die Golden Gate Bridge hatten Amerikas Wirtschaft nicht nachhaltig wiederbelebt, sondern erst der Weltkrieg und der Rüstungsboom der 40er-Jahre.
Der mächtigste unter den US-amerikanischen Stadtfürsten war Richard Dailey, zwei Jahrzehnte lang Bürgermeister von Chicago.
Präsidentschaftskandidat Humphrey ignorierte Bürgerrechtsbewegung
1968 rief die Friedensbewegung zu Massenprotesten gegen den Vietnamkrieg in Chicago auf, als dort der Konvent der Demokraten stattfand. Richard Dailey ließ die Demonstrationen draußen auf der Straße zusammenknüppeln. Drinnen in der Parteitagshalle zog er die Strippen, um Humbert Humphrey als Präsidentschaftskandidaten durchzusetzen.
Humphrey war ein Liebling der Gewerkschaften, denn er hatte mehr sozialpolitische Gesetzesinitiativen eingebracht als je ein anderer Senator. Er war stets stramm für alle Kriege entgegentreten, egal ob gegen Hitler oder in Korea und Vietnam oder gegen die Armut. Aber er hielt Distanz zur Bürgerrechtsbewegung, die auch für die juristische und materielle Gleichberechtigung der Schwarzen kämpfte.
Fichter: "Die Verbindung zwischen dem Krieg gegen die Armut und Gewerkschaften ist da. Also die Gewerkschaften haben das unterstützt. Sie haben es politisch unterstützt, aber die Frage ist, ob sie ... sich geöffnet haben auch für Schwarze."
Wenn, dann erst sehr spät. Humphrey ließ die Bürgerrechtsbewegung links liegen. Folgerichtig bekam er kaum Stimmen von Jungwählern. Vier Jahre später versuchten es die Demokraten mit dem Vietnamkriegsgegner George McGovern. Diesmal blieben die traditionellen Gewerkschaftswähler zu Hause. Der Wahl-Sieger hieß 1968 wie 1972 Richard Nixon.
"It´s time to quit pouring billions of dollars into programmes that have failed in the United States."
Unter Nixon sinkt Glaube an sozialen Ausgleich
Zentrale Institutionen des Sozialstaats wie Rentenversicherung oder MediCare tastete Nixon nicht an, davon profitierte schließlich auch seine weiße Klientel. Aber Johnsons Programme zur Bildungsförderung oder Stadtteilsanierung strich er radikal zusammen.
Die Mittelschicht betraf das nicht mehr. Nach den oft gewalttätigen Aufständen der Schwarzen Ende der 60er-Jahre war sie aus den Innenstädten in die Vororte geflohen. Die Jugendbewegung wandte sich nach dem Ende des Vietnamkriegs von der Politik ab und individuellen Selbstverwirklichungsprojekten zu.
Fichter: "Es hatte ein Gefühl sich entwickelt in der Bevölkerung, dass der Staat nicht in der Lage war, die Probleme tatsächlich anzugehen und dass es vielleicht nur begrenzte Möglichkeiten gibt, diesen sozialen Ausgleich wirklich zu schaffen."
Mitte der 60er-Jahre noch gemischte Viertel wie die New Yorker Bronx verwandelten sich in Ghettos für Minderheiten. Dort führt der Staat seit den 70er-Jahren andere Kriege als Johnsons Krieg gegen die Armut: den war on drugs etwa oder den war on crime. Die neuen Regierungsprogramme nehmen nicht mehr die Armut ins Visier, sondern jene, die in Armut leben.
Vom War on poverty zum War on crime
In den vergangenen 40 Jahren, seit der Kehrtwende im Krieg gegen die Armut, hat sich die Zahl der Straffälligen in den USA verfünffacht. Die überwältigende Mehrheit von ihnen ist jung und schwarz. Sieben Millionen sitzen ein oder bewegen sich nur auf Bewährung auf freiem Fuß. Unter allen Industriegesellschaften wies nur die Sowjetunion mit ihrem Gulag-System eine höhere Rate an Verurteilten auf als heute die USA.
Ronald Reagan: "My friends, some years ago, the federal government declared war on poverty. And poverty won.""
Andrew Gross: "1980 gewann Ronald Reagan. ... Die Republikaner behaupten, das ist ein Witz, ... dass er hat eigentlich den Wahlkampf gewonnen 1964. Aber es hat 16 Jahre gedauert, die Wahlzettel auszuzählen. Und ganz viele Leute behaupten, dass eigentlich Goldwater hat diese Reagan-Revolution, ... er hat das alles vorbereitet."
Ronald Reagan war einer der wenigen Republikaner, die 1964 den damals aussichtslosen Kreuzzug von Barry Goldwater gegen den war on poverty unterstützten, während gemäßigte Parteifreunde wie Nelson Rockefeller sich bedeckt hielten. Deshalb wurde Reagan 1980 als Erbe Goldwaters tituliert.
Goldwater, der gute Arbeitgeber
Reagan verdankte seinen Wahlsieg vor allem Wählerschichten, die aus den alten Industrieregionen im Norden in den sogenannten Sunbelt abgewandert waren, in die Süd- und Südweststaaten der USA.
Gross: "Die sind dorthin gekommen, um in den neuen Industrien zu arbeiten. Die waren nach dem Krieg meistens Elektronik, Motorola, Flugzeugbau, Alcoa, die haben Aluminiumersatzteile gebaut, ... Honeywell, diese ganze Rüstungsindustrie. Und Barry Goldwater hat das sehr aktiv unterstützt. ... Die haben ganz viele Staatsgelder bekommen, ... aber die wollten keine Regulierung haben. … Die haben immer behautet, wir brauchen keine Unterstützung, aber eigentlich gemeint haben sie: wir brauchen keine Regulierung."
Goldwater wie Reagan meinten darüber hinaus: Wir brauchen keine Gewerkschaften.
"Goldwater dachte, eine große Gewerkschaft ist genauso problematisch wie ein großer Staat, genau aus demselben Grunde. Das ist eine große Bürokratie. Es gibt ganz viele Möglichkeiten für Korruption. Er wollte dagegen kämpfen. Er war auch Ladenbesitzer, er war auch Arbeitgeber. .. Aus seiner Perspektive als Arbeitgeber waren die Gewerkschaften unnötig. Er war eigentlich ein sehr guter Arbeitgeber. Er hat einen Rentenplan für seine Mitarbeiter gehabt, Urlaubsplan, die konnten auch shares from the store kaufen, Miteigentümer werden. Er war eigentlich ein sehr guter Arbeitgeber. ... Aber er war auch ein bisschen naiv. Er dachte, alle Leute sind wie ich, alle Arbeitgeber meinen es gut. Wir brauchen keine Gewerkschaften."
Selbstorganisation der Arbeitnehmer
Das Recht auf gewerkschaftliche Organisation war ein Herzstück des New Deal. Anders als in Deutschland garantiert der Sozialstaat in den USA weniger materielle Ansprüche wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder eine Krankenversicherung, sondern "freedom of speech". Das bedeutet in diesem Zusammenhang eine Rechtsposition, um selbsttätig für seine sozialen Forderungen einzutreten. Für Arbeitnehmer besteht die in erster Linie darin, in ihrem Unternehmen einen Betriebsrat wählen zu dürfen.
Die prächtig mit Staatsgeldern versorgten Hightech-Unternehmen im Südwesten konnten Löhne und Sozialleistungen anbieten, die über den tariflichen Sätzen lagen. Also glaubten viele Belegschaften, auf einen Betriebsrat verzichten zu können. Im Nordosten dagegen, wo die Gewerkschaften in Branchen wie der Stahl- und Autoindustrie stets stark waren, mussten sie seit den 80er-Jahren häufig Lohnzugeständnisse machen und konnten dennoch nicht verhindern, dass Millionen Jobs gestrichen wurden.
Reagan senkte massiv die Steuern und förderte einen Dienstleistungssektor mit Billiglöhnen. Millionen Menschen wurden zu arbeitenden Armen, aber viele Angehörige der Mittelschicht fanden hier einen Zweit- oder Drittjob, mit dessen Hilfe sie ihren Lebensstandard halten konnten.
Als er 1984 zur Wiederwahl anstand, konnte Reagan tatsächlich einen Aufschwung vorweisen, auch wenn der auf Pump finanziert war.
Charles Murrays These vom schädlichen Sozialstaat
Im selben Jahr erschien wieder ein einflussreiches Buch eines Politologen: Charles Murray behauptete in "Loosing Ground", der Sozialstaat schade in Wahrheit den Armen, weil er sie an öffentliche Zuwendungen gewöhne und so abhängig mache.
"Why would we ever want to return to where we were less than four short years ago?"
In den 90er Jahren wetterte selbst Bill Clinton wie einst Barry Goldwater gegen "Big Government" und beschränkte die Bezugszeiten von Sozialleistungen auf wenige Lebensjahre. Die Ideologie des Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman, nach der der Wohlfahrtsstaat das Wachstum bremse, war auch bei den Demokraten angekommen. An Lyndon B. Johnsons Krieg gegen die Armut zu erinnern, passte nicht mehr in den Zeitgeist.
Die langfristigen Folgen sind heute sichtbar. Fast die Hälfte aller Amerikaner lebt unter finanziellem Stress und könnte aus eigener Kraft im Notfall kurzfristig nicht einmal 400 Dollar aufbringen. Das geht aus einer Studie der US-Notenbank vom August 2014 hervor. Gleichzeitig besitzt das reichste eine Prozent der Bevölkerung mehr als ein Drittel allen Vermögens.
Skepsis gegenüber Gewerkschaften
Armut ist zu einem Massenphänomen geworden, das längst nicht mehr nur Afroamerikaner betrifft. Im Auftrag der Automobilarbeitergewerkschaft UAW hat Michael Fichter im Winter die Arbeiter im VW-Werk in Chattanooga bei dem Versuch unterstützt, einen Betriebsrat einzurichten. Das Unternehmen unterstützte diesen Plan sogar.
"Die Gegner waren im politischen Bereich. Senatoren von Tennessee, andere Parlamentsvertreter aus der Republikanischen Partei in Tennessee haben klar gemacht, dass wenn die Mitarbeiter für eine Gewerkschaft sind, dass sie nicht mehr bereit wären, mit VW über Infrastrukturmaßnahmen, über Steuernachlässe und solche ähnlichen Sachen zu verhandeln."
Fast die Hälfte der Beschäftigten wollte den Versuch dennoch wagen, aber eine knappe Mehrheit entschied sich dagegen.
"Die ArbeitnehmerInnen haben nach der Wahl in Gesprächen mit der Gewerkschaft, also viele haben gesagt, es war diese Kampagne, die sehr großen Druck auf die einzelnen Leute ausgeübt hat. Viele Arbeitnehmer waren dann unsicher, ob die Gewerkschaft ihnen wirklich weiterhelfen könnte. Und sie waren dann unsicher, ob VW sich zu diesem Standort auch bekennen würde."
Es wäre der erste Betriebsrat in einem Autowerk in einem Südstaat gewesen.
Staatsausgaben fördern den Kapitalismus
"Union Busting", also das Zerschlagen von Gewerkschaften, war in den USA bis in die 30er-Jahre an der Tagesordnung. Seit Reagans Präsidentschaft ist es wieder salonfähig geworden. Schon in seinem ersten Amtsjahr reagierte er auf einen Arbeitskampf der Fluglotsen mit der Auflösung von deren Gewerkschaft mit der Begründung, Beschäftigte im Öffentlichen Dienst dürften nicht streiken. Wer nicht binnen 48 Stunden an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, wurde fristlos entlassen.
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Mitglieder der US-amerikanischen Post-Gewerkschaft demonstrieren in New York vor einer Filiale von Staples, einem Einzelhandelskonzern für Bürobedarf, gegen ein Abkommen ihrer Gewerkschaft mit dem Unternehmen.© picture alliance / dpa / Justin Lane
Viele Politiker, vor allem im Süden, wetteifern seither darum, ihren Staat gegenüber Investoren als gewerkschaftsfrei ausweisen zu können.
"Die Löhne sind in den USA seit den 70er- Jahren nicht mehr gestiegen, also die Reallöhne. Das hat natürlich damit zu tun, dass man in den USA systematisch die Gewerkschaften zerstört hat."
Ulrike Herrmann zeigt in ihrem 2013 erschienenen Buch "Der Sieg des Kapitals", dass sich Unternehmen am Ende zu Tode siegen, wenn die Armen immer ärmer werden. Weil sie immer weniger Geld ausgeben können, bröckelt die Nachfrage und das gesamte System gerät in die Krise. Wenn Gewerkschaften diese Entwicklung nicht stoppen können, sieht Ulrike Herrmann den Staat in der Pflicht.
"Steuern steuern tatsächlich. Und deswegen gibt es sie auch. Und man muss, das klingt erstmal für einen Kapitalisten hart, aber man muss die Kapitalisten besteuern, damit der Kapitalismus überlebt. Denn es ist eben so, das kann man auch jetzt wieder sehen, dass die Reichen dazu neigen, ihren Reichtum nicht auszugeben, sondern zu sparen. Damit wird aber Nachfrage entzogen. Das fehlt. ... Das heißt, man muss die Reichen besteuern, das Geld muss beim Staat landen, denn der Staat hat einen Vorteil, der wird viel zu wenig gewürdigt, der Staat spart garantiert nicht, sondern alles, was er einnimmt, wird auch wieder ausgegeben. Das führt aber dazu, dass der Staat eine zentrale Rolle bei der Gesamtnachfrage in der Gesellschaft hat."
Im New Deal und auch noch in den 50er- und 60er-Jahren wussten das die Politiker in Washington und gaben viel Geld aus – oft für Rüstung, aber auch für die Straßen und Brücken, Schulen und Wissenschaft. Ähnliches wäre auch heute wieder möglich, die USA hätten im internationalen Vergleich viel Spielraum für Steuererhöhung, nicht nur auf Einkommen und Vermögen, sondern etwa auch auf Energie.
Viele sehr Reiche, viele sehr Arme
Aber für die konservative Tea-Party-Bewegung sind solche Überlegungen Teufelswerk. Bisher stemmt sie sich erfolgreich dagegen, obwohl sie nur etwa ein Viertel aller Amerikaner repräsentiert. Und obwohl selbst viele Reiche wie der Milliardär Warren Buffet rufen: "Tax me!", "Besteuert mich!".
Andrew Gross: "Ganz viel wird darüber gesprochen, geschrieben, debattiert, aber man sieht kaum etwas auf der parlamentarischen Ebene. ... Die USA ist gespalten wie nie vorher. Jeder redet über die große Spaltung zwischen sehr, sehr Reichen - sehr, sehr Arme, und viele reden darüber, dass diese Mittelschicht, was für Amerika sehr wichtig war, dass es schrumpft und verschwindet. Jeder weiß das. … Aber was ist die Lösung? Occupy denkt, man soll etwas gegen die sehr reichen Leute machen. Die Tea Party denkt, nee, eigentlich mehr Handelsfreiheit brauchen wir."
50 Jahre, nachdem der Kampf gegen die Armut ausgerufen wurde, versuchen schlecht bezahlte Beschäftigte wieder unter großen Mühen, sich zu organisieren.
Fichter: "Die Kampagne bei Wal Mart oder die Kampagnen, die laufen bei der Fast-Food-Industrie, McDonalds oder Burger King, das sind soziale Bewegungen, die von den Gewerkschaften unterstützt werden, aber keine direkte, unmittelbare Gewerkschaftskampagne. Die Menschen, die in diesen Fast-Food-Restaurants arbeiten, wollen bessere Arbeitsbedingungen und vernünftige Löhne haben. Im Moment ist es fast unmöglich für jemanden, der in so einem Restaurant arbeitet, eine Familie mit dem Einkommen zu ernähren. Dazu kommt, dass die Arbeitszeit sehr unregelmäßig ist."
Temporäre Arbeiterbündnisse
Betriebliche Selbstorganisationen von unten sind typisch für die Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung. Anders als in Deutschland gab es nicht einen Gewerkschaftsverband, der seit der Industrialisierung fortdauernd existiert hätte und Sicherheit vermittelte, aber manchmal auch bürokratische Lähmung. Stattdessen gründeten sich in den USA immer wieder neue Komitees, die den aktuellen Bedürfnissen der oft gerade erst eingewanderten Arbeiter entsprachen – und lösten sich wieder auf, wenn sie ihre wichtigsten Ziele erreicht hatten.
Im 19. Jahrhundert verbündeten sich Handwerker als "Knights of Labor", um gegen die Entwertung ihrer Qualifikationen zu kämpfen. Anfang des 20. Jahrhunderts organisierten die "Industrial Workers of the World", zu denen übrigens auch Joe Hill gehörte, Minen- und Eisenbahnarbeiter, die mindestens 20 verschiedene Sprachen sprachen, um sich gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen zu wehren. Und in den 1930er-Jahren setzte der "Congress of Industrial Organizations" in militanten Streiks und Fabrikbesetzungen die Koppelung der Löhne an die Entwicklung der Produktivität durch. 2011 formierte sich die Occupy-Bewegung, die aber schnell wieder versandete.
Fichter: "Es ist nie zu spät."
Obamas Verdienste
Immerhin: In der gegenwärtigen Krise sind die USA eines der wenigen Länder, die mit bescheidenen sozialpolitischen Korrekturen reagieren. Barack Obama hat die Bezugszeiten für Arbeitslosenunterstützung wieder verlängert und damit wenigstens einige der Kürzungen der Clinton-Jahre rückgängig gemacht. Und er hat eine allgemeine Krankenversicherungspflicht durchgesetzt, ein Vorhaben, für das Amerikas Linke ein ganzes Jahrhundert lang gekämpft hatten.
US-Präsident Barack Obama 2009 bei Malerarbeiten in einem Haus für obdachlose und vernachlässigte Jugendliche in Washington.
US-Präsident Barack Obama 2009 bei Malerarbeiten in einem Haus für obdachlose und vernachlässigte Jugendliche in Washington.© dpa / picture alliance / epa Joshua Roberts/Pool
Sein "Yes, we can" mag inzwischen ein wenig schal klingen, aber es erinnert an das, was Präsident Johnson 1964 am Beginn des Krieges gegen die Armut versprach: dass Amerika eine Gesellschaft schaffen könne, die allen gerecht werde.
Johnson: "There are those tenant souls who say that this battle can not be won ... I do not agree. We have the power to shape the civilisation that we want."
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