US-Poetin

"Ein permanentes verbales Feuerwerk"

Der Times Square in New York
In Manhattan leben kaum noch Dichter, dort sind die Wohnungen zu teuer. © picture alliance / dpa
Moderation: Stephan Karkowsky · 10.06.2014
New York verbreite das Gefühl, dass die Stadt wichtiger sei als man selbst, sagt die Dichterin Alice Notley über ihre Heimatstadt. Notleys Gedichte bilden die rasende Geschwindigkeit des Alltags in der Großstadt ab.
Stephan Karkowsky: Wie lange kann eine Poetin ein Geheimtipp bleiben? Wie viele Jahrzehnte kann sie Buch auf Buch veröffentlichen und noch immer als Avantgarde gelten? Das sind Fragen, mit denen sich Alice Notley nie beschäftigen musste. Sie ist ein Poet's Poet, also eine Frau, die von anderen Dichtern bewundert wird für ihre Kunst und ihr Konsequenz, denn Alice Notley wollte nie etwas anderes sein als eine Poetin – so steht es zumindest in ihrem Wikipedia-Eintrag. Ob das stimmt, können wir sie nun selbst fragen. Alice Notley, guten Tag, welcome to the show!
Alice Notley: Thank you!
Karkowsky: Unter Dichtern also kennt man Sie, auf dem Internationalen Poesiefestival 2014 in Berlin ist sie einer der Stars der Szene. Mehr als 30 Lyrikbände hat sie in ihrer Heimat, den USA, veröffentlicht. Gibt es darin etwas, was alle Ihre Gedichte gemein haben?
Notley: Sie haben alle meine Stimme gemeinsam. Es ist etwas, das allen Dichtern zu eigen ist, von Buch zu Buch, die ja unterschiedlich sind, bleibt immer die Stimme des Dichters. Jeder hat eine einzigartige Stimme und ein einzigartiges Bewusstsein. Und jeder Dichter hat aber auch bestimmte Talente, die überwiegen. Das ist wie bei einem klassischen Komponisten. Es ist eine sehr ausführende Kunst, sowohl physisch als auch geistig. Ich suche gerade nach den Worten, aber ich denke, ich finde sie.
Karkowsky: Welche Einflüsse fließen ein in Ihre Gedichte?
Notley: Es ist alles, was ich tue. So lebe ich. Ich schreibe jeden Tag. Ich schreibe jeden Tag Gedichte, ich mache nichts anderes. Das ist mein Leben. Als ich anfing, Gedichte zu schreiben, war ich noch sehr jung, und ich musste noch einige andere Sachen machen. Aber ich wusste sehr früh, dass all das andere weniger werden musste, dass das Dichten mehr in den Vordergrund treten musste, dass die Lyrik sozusagen zu meiner Vollzeitbeschäftigung werden sollte. Ich kann das schwer beschreiben. Es ist etwas, was dich nimmt, es ergreift Besitz von dir. Man gibt sich ihm hin – das klingt jetzt vielleicht sehr romantisch, aber das ist es nicht. Es heißt ja auch immer, dass es so viele Leute gibt, die Gedichte schreiben, aber es sind nicht sehr viele, auch wenn man immer so tut, als ob.
"Alles, was um einen herum geschieht, geschieht sehr schnell"
Karkowsky: Sie werden unter Lyrikfreunden der New Yorker Schule zugeordnet mit Dichtern wie Frank O'Hara, John Ashbery und auch Ihrem verstorbenen Ehemann Ted Berrigan. Was ist das genau, was diese Schule auszeichnet?
Notley: Die New York School of Poetry besteht aus verschiedenen Generationen. Ich denke, zur ersten Generation haben Frank O'Hara gehört, John Ashbury und Kenneth Koch. Und zur zweiten würde ich vielleicht meinen verstorbenen Ehemann Ted Berrigan rechnen und mich selbst vielleicht, und Anna Waltman. Was diese Schule der Dichtung ausmacht, würde ich sagen, ist vor allem eine starke Reaktion auf das Leben in New York. Man merkt, wenn man dort lebt, dass die Stadt wichtiger ist als man selbst. Sie ist so intensiv. Alles, was um einen herum geschieht, geschieht sehr schnell. Die Menschen handeln und leben sehr schnell, sie reden sehr schnell, sie reden sehr klug, sehr geistreich. Das ist eine sehr lebendige Umgebung, mit der man sich konfrontiert sieht, ein permanentes verbales Feuerwerk. Die Leute unterhalten sich, und es geht auch darum, die Leute zu unterhalten. Man muss ihre Aufmerksamkeit binden, fesseln, und das muss man eben machen, indem man sich sehr bemüht, klug zu sein, schnell zu sein, klar zu sein, geistreich zu sein. Es ist also eine intelligente Dichtung, aber auch eine sehr lustige Art der Dichtkunst.
Karkowsky: Erzählen Sie uns von den Anfängen. Mitte der 70er-Jahre waren Sie bereits eine bedeutende Stimme in der New Yorker Lower Eastside. Wie hat sich in dieser Zeit die Poetry-Szene verändert?
Notley: Es gibt immer mehr Lyriker, immer mehr Leute, die Gedichte schreiben. Aber es ist inzwischen so teuer geworden, in New York zu leben, dass nicht mehr viele von ihnen im East Village leben. Viele leben jetzt in Brooklyn oder in der Bronx oder überall über die Stadt verteilt. Aber es gibt in Manhattan durchaus noch viele Lesungen, die Szene ist noch lebendig und es gibt auch viele Literaturereignisse in Brooklyn. Ich habe zum Beispiel zwei Söhne, die Dichter sind, und die könnte man jetzt vielleicht auch zur New York School dazurechnen. Man könnte auch Allen Ginsberg noch dazu rechnen. Mein älterer Sohn hatte mit Allen Ginsberg studiert, bevor er starb. Also diese ganze Beat-Generation könnte man vielleicht auch noch mit dazurechnen. Man muss das eigentlich erst hinterher herausfinden. Es dauert manchmal 30 Jahre, bis man weiß, wer in Wirklichkeit Dichter war und wer nicht, weil auch so viel unterwegs verloren geht. Es ist sehr schwierig.
"Schnell gelernt, wie man arm leben kann"
Karkowsky: Sie hören im Radiofeuilleton die US-amerikanische Poetin Alice Notley, die zu Gast ist beim Internationalen Poesie-Festival in Berlin. Frau Notley, wie sehr wird denn die Poesie in den USA gefördert. Sind junge Dichter wie Ihre Söhne da allein abhängig von ihren Buchverkäufen oder gibt es so was wie eine staatliche Kulturförderung?
Notley: Nein. Das gab es für mich allerdings auch nicht. Ich habe schnell gelernt, wie man arm leben kann. Aber jetzt ist es viel schwieriger, weil die Mieten viel teurer geworden sind. Das heißt, Leute, die als Poeten leben wollen, müssen auch noch andere Jobs haben heutzutage. Viele unterrichten. Es ist sehr verknüpft mit den Akademien, mit den MFA-Programmen und so weiter. Die Poesieschulen schießen aus dem Boden, man kann es offiziell studieren, und dann kommt man nach Hause mit einem Poetry-School-Zertifikat und kann sich nun offiziell Poet nennen. Und alle denken, oh, sehr her, da kommt ein Dichter. Und er kann unterrichten, und man weiß eigentlich gar nicht, wer das ist und was er macht. Einer meiner Söhne unterrichtet zum Beispiel auch, der andere ist Redakteur.
Man muss sich immer überlegen, wie kann man als Dichter überleben. Schon in den 70er-Jahren war es so, dass mein Mann und ich morgens aufwachten und überlegt haben, hm, wie kriegen wir das Geld für den heutigen Tag zusammen. Also haben wir versucht, selber zu verkaufen. Wir haben Pakete von Büchern geschnürt und sind damit zu den Buchläden gegangen und haben den Buchhändlern diese Bücher angeboten und so ein bisschen Geld bekommen. Geld, das dann für den Tag gereicht hat, für seine Zigaretten, für seine Pepsi und für mein Bier. Das ist ganz typisch gewesen für die 70er-Jahre. In den 80ern hat sich das dann verändert, weil auch die Wirtschaft sich verändert hat. Reagan kam an die Macht, mit ihm die Reaganomics. Alles wurde härter und schwieriger im Überlebenskampf. In den 90ern wurde dann alles transnational, so wie wir es heute kennen. Und diese Form der Wirtschaft erschwert es einem sehr, einfach nur als Poet überleben zu können.
Karkowsky: Haben Sie denn Ihre Söhne nie gewarnt? Haben Sie nie ihnen geraten, werdet lieber Anwalt oder Arzt?
Notley: Nein! Es ist mir nie eingefallen, dass sie irgendetwas werden könnten. Ich habe sie einfach großgezogen und das genossen, dabei auch schwierige Erfahrungen gemacht, schwierige Situationen durchlebt, aber das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Eddy hat ab dem Alter von sechs oder sieben Jahren angefangen zu schreiben, und Anselm erst mit 19, aber es war klar, dass beide Poeten waren. Das war es, was sie machen wollten. Das machte für sie die Ernsthaftigkeit im Leben aus. Ted und ich nahmen das sehr ernst, und ihre Art, sich mit der Welt in Verbindung zu setzen, war es Gedichte zu schreiben oder ist es, Gedichte zu schreiben. Und sie haben beide das Talent dazu.
Bewegung, Ton und Klang stehen im Fokus
Karkowsky: Ich darf unseren Hörern verraten, dass sie sich immer sehr amüsieren über unsere deutsche Übersetzung, wobei wir wirklich auch bei diesem Thema sind. Ihr jüngstes Buch "Le baiser de la negativité" ist auf Französisch erschienen. Auf Deutsch gibt es Ihre Bücher allerdings nicht. Wie ist das denn für Sie nun, in ein Land zu kommen, in dem man Sie bisher nur im Original lesen kann?
Notley: Es war sehr interessant, hier auf Englisch zu lesen, und ich wusste anfangs auch nicht, ob die Leute mich verstehen würden, ob irgendjemand mich verstehen würde. Aber es scheint doch einiges anzukommen, denn ich kann mich lesend eigentlich auch sehr gut verständlich machen. Ich denke, ich bin eine sehr gute Leserin. Es gab da auch einen koreanischen Dichter, dessen Worte wirklich niemand verstand, aber es gab eine deutsche Übersetzung. Aber allein die Form der Worte ließ etwas erkennen, man konnte ihm trotzdem folgen. Es war ein großes Vergnügen, diesem Menschen zuzuhören, auch, wenn man den exakten Sinn nicht verstanden hat. Und mit meinen Worten mache ich im Prinzip dasselbe, wenn ich etwas vorlese.
Man kann das auf einer anderen Ebene verstehen als das, was direkt auf dem Papier steht. Und was man mit Bewegung und Ton und Klang vermitteln kann, ist noch immer etwas anderes, als die Seite an sich hergibt. In meinem Buch "Negativity's Kiss" kann man das vielleicht auch erkennen. Ich lese, wenn ich Romane lese, ja immer nur Krimis, und keine anderen Bücher, und so habe ich praktisch einen Krimi in Gedichtform verfasst. Die Kapitel sind Gedichte, und das Buch pendelt zwischen New York und Paris. Es ist nicht ganz klar, wann es wo spielt, und es wechselt den Schauplatz und es wechselt auch die Charaktere, und eine heißt Ines Geronimo, kommt aus einem anderen kulturellen Hintergrund als ich. Dann gibt es einen Polizisten, der ist sowohl weiß als auch schwarz, das ist auch nicht so ganz klar. Ich habe das Buch 2005, 2006 geschrieben, und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, und mitten beim Schreiben geschah dann dieser Hurricane, Hurricane Katrina, und es ist ein lustiges Buch, aber trotzdem spürt man beim Lesen immer noch im Hintergrund diese Umweltkatastrophe, diese große Katastrophe, die da stattgefunden hat.
Karkowsky: Alice Notley, die US-amerikanische Dichterin ist zu Gast auf dem Internationalen Poesiefestival Berlin. Das Buch, über das wir zuletzt gesprochen haben, ist auf Französisch erschienen unter dem Titel "Le baiser de la negativité", auf Englisch heißt es "The Kiss of Negativity". Und das wollen wir Ihnen gerne noch ans Herz legen: Am Freitag geht das Poesiefestival zu Ende. Frau Notley, Danke, dass Sie bei uns waren! Thanks for being our guest!
Notley: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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