Urteile im Nürnberger Prozess 1946

Neues Rechtsdenken in der Welt

29:48 Minuten
Blick auf die Richterbank im Nürnberger Justizpalast während der Verlesung der Urteilsbegründung, v.l.n.r.: Wolchkow, Nikitschenko (UdSSR), Birkett, Lawrence (GB) und Biddle (USA)
Nach einem Verhandlungsmarathon von 216 Tagen: Urteilsverkündung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess © picture-alliance / akg-images
Von Winfried Sträter · 29.09.2021
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Das Verfahren war ein Novum der Weltgeschichte: 1945/46 mussten sich Hauptschuldige nationalsozialistischer Kriegsverbrechen vor Gericht verantworten. Nach über zehn Monaten verkündete der alliierte Militärgerichtshof am 1. Oktober 1946 die Urteile.
Nach dem spektakulären Prozessauftakt am 20. November 1945 und einem Verhandlungsmarathon von 216 Tagen hatten die Richter der vier Alliierten wochenlang um die Urteile gerungen. Sie wollten unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, dass nicht rechtsstaatlich geurteilt werde. Tatsächlich sprachen sie drei der 21 Männer auf den Anklagebänken frei, und einige der schuldig Gesprochenen kamen mit langjährigen Haftstrafen davon.
"Hier sitzen die Schuldigen, die Schuldigen an der Zerstörung und Verwüstung fast eines ganzen Erdteils, die Verantwortlichen für all das Leid und Elend, das ihre Herrschaft allen Völkern, jeder Familie, jedem Einzelnen gebracht", so berichtete Markus Wolf aus dem Nürnberger Justizpalast.
Wolf, der spätere Chef der DDR-Auslandsspionage, war am 30. September und 1. Oktober 1946 Berichterstatter für den Berliner Rundfunk.

Verschwörung zum Angriffskrieg

Das Verfahren hatte der Weltöffentlichkeit ungeheuerliche Verbrechen bekannt gemacht.

Der Nürnberger Prozess 1945/46 - Recht statt Rache

"Die wahre Klägerin ist die Zivilisation", sagte der US-Chefankläger Robert Jackson 1945 in Nürnberg. Fünf Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft mussten sich Hauptverantwortliche des Regimes vor Gericht verantworten. Das Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher sollte eine welthistorische Zäsur sein. Doch nach spektakulärem Auftakt zeigte sich: Die Rechtsfindung war schwierig.

Historische Farbaufnahme der Angeklagten während des Prozesses gegen die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal IMT, bei dem 22 Anführer von Nazi-Deutschland vor Gericht standen.
© imago images / Reinhard Schultz
Die moralische Schuld stand außer Zweifel. Trotzdem war es schwierig, die NS-Größen auf der Grundlage von geltendem Recht zu verurteilen.
Immerhin: Angriffskriege waren nach internationalem Recht verboten. Um aber einzelne Angeklagte belangen zu können, bedurfte es einer juristischen Konstruktion: Die Richter warfen ihnen Verschwörung zu einem Angriffskrieg vor.
Hermann Göring war der Erste, den das Gericht zum Tod durch den Strang verurteilte, elf weitere Todesurteile folgten. Auffällig war die Zurückhaltung der Richter gegenüber Hitlers Rüstungsminister Albert Speer.
Obwohl ein Gutachten ihn für mannigfache Verbrechen verantwortlich machte, kam er mit 20 Jahren Haft davon. Speer hatte das Gericht durch eine sehr gebildete Verteidigungsstrategie beeindruckt, zu der auch das Eingeständnis eigener Schuld gehörte.
"Mit der Urteilsbegründung zieht noch einmal die ganze Geschichte des Nazi-Regimes, die Vorgeschichte und die Entfesselung des Krieges und die nach einem wohldurchdachten Plan ausgeführten Verbrechen, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat, an uns vorüber", berichtete Markus Wolf aus dem Gerichtssaal.

Görings Hände zitterten

Der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave Gilbert beobachtete, wie sich die Verurteilten verhielten, als ihr Schicksal besiegelt war:
"Göring kam als erster herunter und ging mit langen Schritten und starrem Gesicht und vor Entsetzen hervorquellenden Augen in seine Zelle. ‚Tod‘, sagte er, als er sich auf die Pritsche fallen ließ; er griff nach einem Buch. Obwohl er versuchte, lässig zu wirken, zitterten seine Hände."

Die NS-Elite beim Nürnberger Prozess - Lügen, leugnen, Selbstmitleid

Von November 1945 bis Oktober 1946 wurde der Führungselite der Nationalsozialisten für ihre Verbrechen an Millionen von Menschen in Nürnberg der Prozess gemacht. Die Tyrannen waren plötzlich Angeklagte, die sich wie gewöhnliche Mörder und Verbrecher vor einem ordentlichen Gericht verantworten mussten. Sie vollführten ein erbärmliches Schauspiel.

Anklagebank im Nürnbergers Prozess am 20.11.1945: 1. Reihe v.l., Göring, Hess, Ribbentrop, Keitel; 2. Reihe, v.l., Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel und Jodl.
© picture-alliance / akg-images
Am 16. Oktober 1946 wurden vor Tagesanbruch die Todesurteile vollstreckt. Göring allerdings kam dem Strang durch Selbstmord zuvor.
"Nürnberg ist nicht das Ende, sondern der Anfang des neuen Rechtsdenkens in der Welt. … Darin sieht der Neutrale den tieferen Sinn des Prozesses von Nürnberg, der einen ersten Schritt zur Schaffung eines internationalen Strafrechts darstellt, dem alle Regierungen, auch jene der heutigen Sieger, unterworfen sein werden."
So kommentierte ein Schweizer Korrespondent die Urteilsverkündung im Hauptkriegsverbrecherprozess hoffnungsvoll.
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