Ursprungsforschung

Vom "Aum" zum Urknall

Von Antje Stiebitz · 26.04.2014
Vor wenigen Wochen haben Physiker mit neuen Daten bestätigt, dass an der Theorie des Urknalls als Beginn von Zeit und Raum viel dran ist. Die meisten Religionen haben aber ihre eigenen Erklärungen. Besonders klangvoll dabei: der Hinduismus.
Avnish Lugani sitzt auf einem Sofa in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Der gelernte Tierarzt stammt aus Indien und lebt seit 47 Jahren in Berlin. In der indischen Diaspora gilt der 80-Jährige als Spezialist für vedische Religion. Er demonstriert wie die Welt entstanden ist. Dafür holt er tief Luft:
"Aummmmm ... "
Das erste Wort, erklärt er, sei "Aum" gewesen. "Aum" sei ein Name Gottes, sei Klang. Und aus diesem Klang sei die Welt entstanden. Das könne man in etwa mit der Urknall-Theorie vergleichen. Avnish Lugani erzählt eine Passage aus der indischen Mythologie:
"Es wird gesagt, dass die goldene Gebärmutter, in der Gebärmutter sind alle Partikel, alle Atome, alles da, normalerweise schläft. Am Anfang, wenn die Kreation anfängt, ist es in einer Art Schlaf. Und wenn es kommt, ein Wunsch, dass ich mich möchte vermehren, dann fangen diese Atome an, sich zu bewegen. Und durch diese Bewegung kommt der große Klang. Und dieser Klang war Aum."
Melitta Waligora, Indologin am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität, betrachtet den Klang als grundlegend für das Denken im indischen Kulturraum. Bereits die alten indischen Seher, die Rishis, hätten die höchste Gottesvorstellung brahman, mit dem Klang gleichgesetzt. Und durch das rituelle Singen der Mantren wurde die Welt geschaffen:
"Brahman ist in seiner ursprünglichen Form, meint auch Wort, Klang, Mantra. Und die Idee im indischen Weltbild, ich weiß jetzt nicht, ob man dazu Philosophie oder Religion sagt, ist eben geschaffen aus dem Klang. Die Welt ist sozusagen aus den Vibrationen der frühen Worte der Rishis entstanden. Aus dem Klang und durch die Vibrationen, die durch den Klang sozusagen initiiert wurden."
Ob Klang, Silbe oder Wort - in der indischen Religionsphilosophie handelt es sich hierbei um Vak. Vak ist das Sanskrit-Wort für Sprache und leitet sich vom Wortstamm "vach" ab, was soviel wie "sprechen" oder "sich äußern" bedeutet. Vak steht für das abstrakte philosophische Prinzip der Rede, ist aber gleichzeitig auch personifizierte Gottheit, eine weibliche Gottheit. Im Rgveda, einem Text aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus, gibt es bereits eine Hymne zu Ehren der Göttin Vak. In den Brahmanas, Schriften aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, verknüpft man Vak dann mit Sarasvati. Einer Göttin, die heute zu den populärsten Hindu-Göttinnen gehört. Hell und strahlend verkörpert Sarasvati Sprache, Weisheit und Kunst. Deshalb gilt sie auch als Schutzherrin aller Schüler, Studenten, Musiker, Maler und Autoren.
Ein zerrissenes Heftchen in einer Klarsichtfolie
Die indische Gedankenwelt ist äußerst vielschichtig, deshalb kommt der Göttin Sarasvati noch eine weitere Bedeutung zu. Denn das hinduistische Frühlingsfest Vasant Panchami ist ebenfalls unter dem Namen Sarasvati Puja bekannt und gilt als der höchste Feiertag zu Ehren der Göttin Sarasvati. An diesem Festtag im Frühjahr legen ihr die Gläubigen Hefte, Bücher und Stifte zu Füssen und erhoffen den Segen der Göttin. An Vasant Panchami feiern die Hindus die Fruchtbarkeit der Natur, ebenso wie die schöpferische Kraft der Wissenschaft, der darstellenden Künste, der Musik und der Literatur.
Abbilder der Göttin zeigen sie immer mit der Vina, einem indischen Seiteninstrument, im Arm. Sarasvati kann der Vina den Urton Aum entlocken. Zusätzlich hält sie das heilige Buch und eine Gebetskette in den Händen. Ihre charakteristische Farbe ist weiß oder gelb. Formal ist ihr der Gott Brahma zugeordnet. Obwohl Brahma mythologische Schöpfergottheit ist, spielt er in der alltäglichen Verehrung der Hindus kaum eine Rolle. Sarasvati hingegen, erklärt Avnish Lugani, ist unentbehrlich:
"Wir fangen unsere Arbeiten, Projekte, neue Projekte am Sarasvati-Tag an, das ist mit Erfolg, an dem Tag ist immer erfolgreich, wenn wir am Sarasvati-Tag machen. Ohne diese Sarasvati können wir nichts anfangen, ohne Wort."
Aus der Klarsichtfolie fischt er ein zerlesenes Heftchen. Langsam, beinahe vorsichtig, liest er die Mantren, die heiligen Worte für die Göttin des Wortes.
In den Mantren stecke die Bitte um einen guten Intellekt, erklärt Avnish Lugani: Damit er Konstruktives ins Leben bringen könne. Spreche oder singe man Mantren, wirkten sie wie eine Festung um den Körper und den Geist und schützten auf diese Weise vor Problemen. Allerdings können Mantren auch eine Gefahr bergen, auf die Melitta Waligora aufmerksam macht:
"Die Worte die im Ritual gesprochen werden, der Klang ist wichtig und die richtige Aussprache, die richtige Reihenfolge ist wichtig. Wenn man da einen Fehler macht, ist das Opfer umsonst und kann das Gegenteil bewirken, wofür man es eigentlich ausgeübt hat."
Der Klang als Energieprinzip
Melitta Waligora erwähnt noch eine weitere wichtige Dimension des Klangs:
"Der Klang ist ein Energieprinzip. Vielleicht ähnelt es auch der Chaostheorie mit den Strings. Die sozusagen das Universum durchdringen, Klang formulieren, Vibrationen erzeugen, Energieströme sein können, nicht? Und dass, dadurch sozusagen, durch dieses Energieprinzip, der Kosmos, überhaupt erst entsteht. Wir haben es dann später, spezifischer in der Religion ausgeprägt, dass dieses Energieprinzip dann die Shakti wird."
Shakti bedeutet auf Sanskrit "Kraft" oder "Energie". Shakti steht für die weibliche Urkraft, die sich in jeder Göttin verkörpert. Meistens geben die Göttinnen diese Kraft an einen ihnen zur Seite gestellten Gott ab.
Anders Sarasvati: "Interessanterweise steht Sarasvati in der Hindu-Mythologie für sich. Viele Göttinnen sind ja verheiratet. Sie nicht. Sie gehört zu den alleinstehenden Göttinnen und verfügt damit eben über diese Urkraft, für sich selbst. Da gibt es eine Reihe von Göttinnen, die nicht verheiratet sind und eigentlich das kosmische Prinzip für sich vertreten. Und damit verfügen sie auch immer über die Kraft des Klangs."
Der Klang funktioniert durch die Energie der Vibration und in der Sprache steckt die Kraft des Klangs. Doch trägt die Sprache jenseits des Klangs auch noch eine Bedeutung. Gibt es einen Punkt, an dem der Klang einer Silbe plötzlich einen Sinn hat? Wo ist der Unterschied zwischen dem reinem Klang und einer Wortbedeutung? Da hilft der Sanskrit-Begriff Shabda, der ähnlich wie Vak, "Rede" oder "Wort" bedeutet.
Melitta Waligora: "Unter Shabda versteht man ein Wort und das hat eine Bedeutung. Essentieller ist der Klang an sich. Wort, also Wort mit Bedeutung, das ist dann schon eher eine geistige Durchdringung der Welt. Ein Verstehen der Welt. Aber nicht Schöpfen."
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