Ursachen von Depressionen

Leben in einer Leistungsgesellschaft

30:50 Minuten
Illustration: Eine Frau liegt auf dem Boden und weint.
Sind es gesellschaftliche, körperliche oder psychische? Die Ursachen von Depressionen sind nach wie vor unklar. © imago images / fStop Images / Malte Müller
Von Carina Schroeder · 30.12.2021
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Allein in Deutschland erkranken pro Jahr etwa fünf Millionen Menschen an Depressionen. Bei der Suche nach den Ursachen für das psychische Leiden geraten zunehmend auch gesellschaftliche Umstände in den Fokus. Macht unsere Leistungsgesellschaft krank?

Die Depression ist nicht eine abwegige Eigenart des Sonderlings, sondern Reaktion auf die als kafkaesk erlebte Gesellschaft.

Stefan Rogal, Autor, Herausgeber und Kolumnist

Depression in Worte zu fassen, ist schwer. Noch schwieriger ist, sie zu erklären.

Für mich sind Depressionen, dass das Lesegerät für die Welt, das jeder von uns im Kopf hat, nicht mehr richtig funktioniert.

Benjamin Maack, Journalist und Autor

Ich bin auf die Suche gegangen. Wollte verstehen, warum wir als Gesellschaft oft so sprachlos sind, wenn es um Depressionen geht. Warum wir so schlecht vermitteln können, was diese Krankheit bedeutet, für den Einzelnen und für uns alle.
Ich habe viele Antworten bekommen. Von Medizinern, Psychologen, Soziologinnen, Kulturwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern. Sie versuchen, Depression erzählbar zu machen, alle auf ihre Weise.

Mehr als traurig sein

"Nicht sexy". "Ein Schatten". "Passiv bis zur Lebensbedrohlichkeit". So lauteten einige Beschreibungen und Definitionsversuche. Sie erklären noch nicht viel, aber deuten an, was oft übersehen wird: Depression – das ist viel mehr als traurig sein.
“Ich kann die Gedanken, die so in mich reinkommen, gar nicht steuern. Alles, was dann kommt, ist irgendwie negativ. Ich bin nicht im Hier und Jetzt. Ich bin entweder in der Vergangenheit und hadere damit oder ich bin in der Zukunft und habe Ängste davor“, erzählt Sarah Spieker. Es ist ein kühler Tag Ende November. Mit einem heißen Getränk sitzen wir an einem großen Esstisch im Wohnzimmer, mit Blick auf Häuser und einen herbstlichen Wald.
Ich bitte die junge Frau sich vorzustellen. Was zeichnet sie aus? „Ich bin Sarah Spieker, 37 Jahre alt. Ich wohne im Sauerland, und ich mag die Natur und deshalb lebe ich auch gerne hier.”
Ich merke, wie nervös Sarah Spieker ist. Sie spricht nur leise ins Mikrofon und zögert bei ihren Antworten. Und sie stellt sich nicht mit ihrem Beruf vor, so wie das viele Menschen üblicherweise tun. Klar, sie könne das machen, antwortet sie auf meine Nachfrage. „Obwohl gleichzeitig der Job für mich nicht so eine extreme Identifikation ist. Deshalb ist das auch, glaube ich, immer so etwas, was ich nie so in den Vordergrund stelle.”

Koffer packen: unmöglich

Das spielt vermutlich eine Rolle für die Erkrankung. Aber das ist mir hier, während wir miteinander sprechen, noch nicht bewusst. Sarah arbeitet an einem Digitalisierungsprojekt in Nordrhein-Westfalen, hat Informatik und Automatisierungstechnik studiert.
Ein zentraler Moment ihrer Biografie: der Abschluss ihres ersten Studiums. “Ich hatte mit meinem damaligen Freund geplant, ins Sauerland zu meinen Eltern zu fahren, um Essen zu gehen“, erinnert sie sich. „Ich hatte dann über den Tag ein paar Stunden Zeit und das hat mich völlig gestresst. Ich wusste überhaupt nicht, was ich mit mir anfangen soll.”
In den folgenden Wochen, erzählt Sarah, kann sie sich auf nichts konzentrieren, ist unruhig, beschreibt sich als weinerlich. Eine Sprachreise, die sie geplant hatte, um ihren Studienabschluss zu feiern, scheitert schon an einer eigentlich einfachen Sache: am Kofferpacken.

Gefühl der Überforderung und Ausweglosigkeit

Da ist Sarah Mitte 20. Sie sucht sich professionelle Hilfe. “Ich habe dann auch sehr schnell bei einem Psychologen einen Termin bekommen, der mit mir Gespräche geführt hat und mich dann auch medikamentös behandelt hat.“
Der Psychologe stellt eine mittelgradige, wiederkehrende Depression fest. Passiv nimmt Sarah die Diagnose hin. Ihr Kopf wird von einem anderen Gedanken beherrscht. “Eigentlich könnte ich auch gleich von einer Brücke springen.”
Sarah ist damals froh, dass jemand sich um sie kümmert, hinterfragt die Behandlung mit Psychotherapie und Antidepressiva nicht. Die sonst so kopflastige Frau erkennt sich selbst nicht wieder. “Da war dann so ein Gefühl der völligen Überforderung, Ausweglosigkeit.“ Selbst einfache Dinge wie eine Waschmaschine anstellen oder Einkaufen hätten sie völlig überfordert. „Die Entscheidung zu treffen, kaufe ich jetzt Birnen oder Äpfel?”

Eine häufige, lebensbedrohliche Krankheit

Eine Depression wird üblicherweise anhand dreier Hauptsymptome festgestellt: gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und Interessenverlust. Antriebsminderung mit erhöhter Ermüdbarkeit – und Aktivitätseinschränkung. Dazu kommt eine Vielzahl weiterer Begleitsymptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Lebensüberdruss bis hin zu Selbstmordgedanken. Sie können einige Wochen oder auch Monate anhalten, können auch jederzeit wiederkommen.
Ulrich Hegerl, Vorsitzender der deutschen Depressionshilfe, definiert Depressionen so: “Häufige, schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankungen.“ Häufig heiße, dass in Deutschland jedes Jahr etwa acht Prozent der erwachsenden Bevölkerung unter einer behandlungsbedürftigen Depression leiden. „Schwer heißt, dass es keine andere Erkrankung gibt, bei der so viele Menschen das Leiden nicht mehr aushalten und Suizidversuche und Suizid begehen.”
Der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, in seinem Arbeitszimmer in Leipzig.
Die Krankheit ist "lebensbedrohlich", warnt Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.© picture-alliance/ Peter Endig
In Deutschland ist etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann im Laufe des Lebens einmal von einer Depression betroffen. Die Lebenserwartung von Menschen mit Depressionen, so Ulrich Hegerl, ist im Schnitt um zehn Jahre reduziert. “Das zeigt, dass wir es hier mit einer wirklich schweren Erkrankung zu tun haben und nicht mit einer Befindlichkeitsstörung.”
Ich erzähle Ulrich Hegerl von Sarah. Wie kommt es soweit, dass ein junger, scheinbar gesunder Mensch wie sie so in sich zusammenfällt? Es könne Auslöser geben, höre ich – Schicksalsschläge etwa oder Partnerschaftskonflikte. Aber: Ohne Veranlagung erkranke man nicht. „Da gibt es alle möglichen Veränderungen im Gehirn, die mit der depressiven Krankheitsphase einhergehen.“ Die Stresshormone seien verändert, Serotonin sei in einigen Aspekten verändert. „Viele Veränderungen. Wobei man nicht genau weiß: Was ist Ursache, was ist Folge?”

Mögliche physische Ursachen für Depressionen

“Studie findet Biomarker für Depressionen”, “Depression: Entzündungen als möglicher Auslöser”, “Depressionen, Reizdarm, Serotonin: Wie der Darm unsere Psyche beeinflusst”: Seit einigen Jahren gibt es regelmäßig Schlagzeilen: Hormone, Gene – immer neue Indizien, die auf physische Ursachen für Depressionen hindeuten. Einen endgültigen Beweis dafür gibt es bisher aber nicht.
Dabei ist die Idee, dass etwas im Körper nicht stimmt, wenn jemand depressiv ist, nicht neu. Im Gegenteil: “Die Erscheinungen, die wir heute mit Depression in Verbindung bringen, die sind so alt wie die Medizingeschichte, würde ich sagen“, erklärt Heinz Schott, Professor für Medizingeschichte im Ruhestand. Erste Schriftzeugnisse darüber gab es bereits in der Antike. Allerdings unter anderem Namen.
“Der klassische Begriff ist die Melancholie, das kommt vom griechischen ‚melas‘, schwarz, und ‚cholé‘, die Galle. Also die Schwarzgalligkeit, wörtlich übersetzt.“ In der Antike glaubten die Menschen, dass wir aus vier Kardinalsäften bestehen: gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Blut.
“Man hatte die Vorstellung, dass die schwarze Galle als einer der vier Körpersäfte hier überhandgenommen hat und das Gehirn verdunkelt, und durch diese Verdunklung diese schlimmen Gedanken oder diese Niedergedrücktheit kommen.”

Antidepressiva: keine Wunderpillen

Dass Depressionen auf körperliche Ursachen zurückzuführen sind – diese Vermutung erhärtet sich noch einmal Mitte des 19. Jahrhunderts: Bei Tests von Medikamenten, die gegen Tuberkulose und Schizophrenie eingesetzt werden sollen, zeigt sich, dass einige von ihnen die Stimmung der Probanden aufhellten und Antrieb auslösten. Die Antidepressiva waren entdeckt.
Eine Wunderpille sind die allerdings nicht, betonen Experten. Und seit einigen Jahren sind zunehmend skeptische Stimmen zu hören, die zur Vorsicht bei Antidepressiva raten. Eine Strömung warnt sogar vor der sogenannten „biomedizinischen Blase“.
“In der Psychiatrie haben wir nach wie vor – weil es eben eine medizinische Disziplin ist – eine weit überwiegende Mehrheit, die der Auffassung ist, das müsste doch die ursächliche Richtung sein. Wir haben nur noch nicht gefunden, was es ist, vielleicht noch nicht ausreichend gute Methoden, eines Tages werden wir das finden“, sagt Jürgen Margraf. Er ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum.
Wenn man körperliche, messbare Indikatoren wirklich nachweisen könne, sagt er, dann könnten diese auch für die Diagnose genutzt werden. Bisher aber läuft es anders ab: “Der Patient oder die Patientin schildert seine Beschwerden. Dann wird vom Fachmann oder der Fachfrau das Ganze angeschaut und bewertet. Das nennt man klinisches Urteil. Dann sagen die: Ja, aus meiner Sicht ist das wirklich eine Depression.”

Fehldiagnosen kommen häufig vor

Das sei auch einer der Gründe, warum die Depression noch immer so schwer greifbar ist. “Die Kategorien sind erstaunlich unzuverlässig.“ Studien – auch von Jürgen Margraf und seinem Team – zeigen etwa, dass verschiedene Ärztinnen und Ärzte häufig zu verschiedenen Ergebnissen kommen, wenn es darum geht, Depressionen festzustellen.
“Die Fehldiagnosen-Rate ist doch ziemlich hoch, etwa bei der Depression so im mittlerem Bereich.“ Auch bei der Borderline-Störung und bei der generalisierten Angststörung habe es ziemlich viele Fehldiagnosen gegeben. „Wohingegen das bei Zwangsstörungen vergleichsweise gering war.”
Arzt-Patienten-Gespräche zur Depressionsdiagnose sind fehleranfällig. Warum? Unter anderem, so Jürgen Margraf, weil das Diagnose-Gespräch oft nur einen bestimmten Zeitpunkt beleuchtet. Der Arzt drückt sozusagen auf den Auslöser einer Kamera.
Das Bild zeigt dann einen Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen mit Depression. Dabei gehöre dazu in der Regel eine ganze Lebensgeschichte. “Es ist so, dass bereits 50 Prozent der Menschen, die man irgendwann mal mit einer psychischen Störung diagnostiziert, dass bei denen diese Probleme schon bis zum Alter von 14 Jahren da sind. Bis zum Alter von 24 Jahren sind drei Viertel aller Fälle schon da.”

Rassismus und Depressionen

Der Blick auf die Lebensgeschichte und Lebensumstände von Menschen mit Depressionen kann helfen, die Erkrankung zu erklären. Hinweise darauf lieferte in den letzten Jahren vor allem die interkulturelle Psychologie. “Wichtig anzumerken ist, dass Depressionen weltweit vorkommen, nicht nur in den industrialisierten Ländern, sondern wirklich überall“, sagt die Soziologin und Kulturethnologin Amina Trevisan. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit den kulturellen Hintergründen von depressiven Menschen – inspiriert durch ihre eigene Biografie. “Ich bin in den 1970er-Jahren geboren und bin in der Schweiz aufgewachsen. In einer Zeit, als die italienische Bevölkerung rassistisch angefeindet wurde. Das hat mich sehr geprägt in meiner Selbstwahrnehmung, in meinem Selbstbild.”
Während ihres Studiums erkrankt Amina Trevisan an einer Depression. Damals denkt sie, sie sei weniger wert – heute betont sie die Rolle der Anfeindungen, denen Migrantinnen und Migranten seit den 1950er-Jahren in der Schweiz ausgesetzt waren, auch Trevisans Eltern.
Dass Erfahrungen von Ausgrenzung dazu beitragen, dass Migrantinnen und Migranten besonders anfällig für psychische Probleme sind, darauf weisen inzwischen einige Studien hin.
Amina Trevisan selbst hat kürzlich die Biografien von 17 in die Schweiz migrierten Frauen aus Lateinamerika ausgewertet, Ergebnis: “Dass die Auseinandersetzung mit den emotionalen Aspekten von Rassismus-Erfahrungen aus der Sicht der Betroffenen essenziell ist, um ihre Depressionserkrankung zu verstehen. Rassismus darf als Risikofaktor für die psychische Gesundheit nicht ausgeblendet oder gar unterschätzt werden.”
Depressionen in einen Kontext zu setzen, in dem individuelle Werte und Lebenserfahrungen durch eine Mehrheitsgesellschaft auf- oder abgewertet werden – das schärft den Blick auf psychische Erkrankungen auch in einer weiteren Hinsicht: Sie werden von den Betroffenen – je nach kulturellem Hintergrund – anders beschrieben.
“Das ist ein wesentlicher Punkt. Es wird unterschiedlich darüber gesprochen“, so Trevisan. „Eine Frau in meiner Forschung dachte, sie sei vom Teufel besessen, weil sie sehr katholisch erzogen war und dachte, sie hätte etwas Schlechtes gemacht. Sie konnte ihre Depression nicht einordnen.”

Depressionen gibt es in allen Kulturkreisen

Wie sich Depressionen in verschiedenen Kulturen verschieden äußern – das untersucht Yan Leykin von der Palo Alto University in den USA. Angefangen hat er vor gut zwölf Jahren mit dem “Mood Screener”: einer Webseite, auf der Menschen sich mit Hilfe eines Fragebogens auf Depressionen testen lassen können.
Gefragt wird dort unter anderem, ob man sich traurig fühlt, wie der Antrieb ist oder ob das Gewicht sich verändert hat. Ein standardisiertes Screening – ohne Therapeut, aber mit direktem Feedback. „Es sagt vielleicht sowas wie ‘Oh, Ihnen geht es heute ziemlich gut’ oder ‘Sie haben einige Symptome, Sie sollten sich Hilfe suchen‘ oder ‘Es scheint so, als seien Sie heute depressiv’.”
Die Seite hat über die Jahre immer mehr Daten generiert, ist heute eine der größten Datensammlungen dieser Art. Zunächst konnten nur englischsprechende Menschen mitmachen. Mittlerweile sind die Sprachen Spanisch, Russisch, Chinesisch und Arabisch dazugekommen – und mit ihnen die Erkenntnis, dass sich „Depression“ nicht einfach übersetzen lässt.
“Die erste Frage ist zum Beispiel: Hat sich eine Person ‚sad, blue or depressed’ gefühlt“, erzählt Yan Leykin. „Das Wort ‘blue’ ergibt aber nur im Englischen einen Sinn. Wenn wir ins Deutsche wörtlich mit ‚blau‘ übersetzen würden, wäre das eine ganz unsinnige Frage, weil ‚blau‘ dort nichts mit der Stimmung zu tun hat.”

Kulturelle Ausprägungen der Krankheit

Für eine aktuelle Studie hat Yan Leykin etwa 7000 Depressions-Patientinnen und –Patienten nicht nur nach ihrer Sprache, sondern auch nach ähnlichen kulturellen Hintergründen gruppiert. Ziel der Untersuchung: “Wir wollten verstehen, ob bestimmte Depressionssymptome in bestimmten Kulturen häufiger zusammen auftreten als in anderen. So können wir besser nachvollziehen, welche Vorstellungen die Kulturen von Depressionen haben und wie diese sich jeweils ausdrücken. Das könnte es leichter machen, Depressionen zu erkennen – und auch spezifischer zu behandeln.“
Im englischen Sprachraum etwa äußert sich eine Depression vor allem durch den Verlust von Interessen und Niedergeschlagenheit. In Mittel- und Südamerika ist es anders: “In der lateinamerikanischen Gruppe fällt besonders auf, dass das Gefühl, sich wertlos oder schuldig oder sündig zu fühlen, mit suizidalen Gedanken zusammenhängt.”

Eine mögliche Erklärung, so Yan Leykin: Diese Länder seien oft stark katholisch geprägt. Müdigkeit ist – außer im russischen Sprachraum – nahezu überall auf der Welt eine Begleiterscheinung von Depressionen und vor allem in Südasien und China werden auch Konzentrationsprobleme mit der Erkrankung verbunden. Hier gelten psychische Erkrankungen zudem häufig als Charakterschwäche und sind besonders stigmatisiert.

Druck von außen, Druck von innen

Charakterschwäche. Schuld. Sünde. Ein Muster, das immer wieder durchscheint: Wer von einer Depression betroffen ist, sucht die Ursachen dafür oft in irgendeiner Form von eigenem Fehlverhalten oder persönlichem Defizit. Auch Sarah Spieker wünscht sich heute, sie wäre als Kind offener gewesen, weniger schüchtern. Dann, glaubt sie, hätte sie es einfacher gehabt.
Aber: Sie ist schon immer fleißig. Nach ihrer Depressionsdiagnose macht sie die erste Therapie, arbeitet an sich und verfolgt ihre Karriere. Zielstrebig, scheinbar unerschütterlich.  
Definitiv habe es „ein großes Druckgefühl von außen“ gegeben. „Dadurch habe ich dieses eigene innere Druckgefühl aufgebaut. Da würde ich jetzt auch gar keinem die Schuld geben. Ich komme aus einem akademischen Umfeld, auch in der entfernten Verwandtschaft sind extrem viele Akademiker – und für mich gab es irgendwie nichts Anderes.” Sarahs Zielstrebigkeit schützt sie nicht vor Rückschlägen. Ihre Depression kommt immer wieder. Trotzdem schafft sie ihren Master, findet einen Job, kommt an, wo sie hinwollte.
Aber: Sarah hadert, mit sich, ob es der richtige Weg ist. Sie ignoriert die innere Stimme aus Angst, den Job zu verlieren. Aber gerade das ist riskant. “Irgendwann bin ich dann auf Arbeit mehr oder weniger zusammengebrochen und konnte mich überhaupt nicht mehr konzentrieren, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.“
Dieser Rückfall reißt Sarah den Boden unter den Füßen weg. Sie hat Freunde vernachlässigt, Hobbys, sich selbst, hat alles für den Beruf gegeben, mit dem sie sich nicht identifiziert. Es folgen 15 Wochen Klinik. “Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und uns ist einfach bewusst in dem Moment, wo ich irgendwie ausfalle, bin ich halt ersetzbar“, sagt Sarah. „Ich merke: Selbst bei einer Grippe oder so ist es mir unangenehm, dass ich jetzt die Grippe habe, und stelle mir auch schnell die Frage: Hätte ich das vermeiden können? Oh Gott, mein armer Arbeitgeber.”

Unsere Leistungsgesellschaft

Laut der deutschen Depressionshilfe ist jeder fünfte Berufstätige schon einmal an einer Depression erkrankt, 15 Prozent aller Beschäftigten haben einen Suizid oder Suizidversuch eines Kollegen erlebt.
Der ständige Zwang, Geld zu verdienen, Leistung zu bringen, oft einfach die schiere Menge an Arbeit, die Arbeitsbedingungen, der Zeitdruck: All das ist nicht unbedingt förderlich für die psychische Gesundheit. Nur: Leidet jemand, der an Depressionen leidet, an diesen Umständen? Oder eher an dem Gedanken, dass er ihnen aufgrund eigener Defizite nicht gewachsen ist?
“Ich habe jetzt hier auf Rekord gedrückt und die Kamera ausgeschaltet, weil das sonst für mich ein bisschen Reizüberflutung ist.“ Till Huber ist Vertretungsprofessor an der Universität Hamburg, Spezialgebiet: Darstellung von psychischen Krankheiten in der Literatur. Zusammen mit Immanuel Nover von Universität Koblenz-Landau arbeitet er an einem Sammelband über das Thema.
Seit etwa 20 Jahren haben Depressionen in der Literatur Hochkonjunktur, sagt er – in sogenannten Pathographien. “Ein Beispiel für diese depressive Innensicht ist eindrücklich ganz aktuell bei Benjamin Maack zu finden: ‘Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein‘.”
November. Der Monat, in dem das Wort “Herbstdepression” häufig in Gesprächen vorkommt. Ich bin bei Benjamin Maack in Hamburg, in der Küche einer Freundin. Der Tisch ist reich gedeckt. Benjamin Maack hat extra Zimtschnecken geholt.
“Fangen wir mal ganz entspannt an und fragen: Was ist eine Depression? Der Kopf ist unser Abspielgerät für die Welt. Wenn man eine Depression hat, dann ist das Abspielgerät kaputt. So ein kaputtes Abspielgerät kann einem dann die Welt ergrauen.” Unbestreitbar sitzt jemand vor mir, der versucht, Bilder für die Depression zu finden. Ich bin begeistert – er tut es ab. “Ich bin Autor.”
Klassisches Verhalten von Depressiven, sagt Benjamin Maack. Er kann nicht mit Komplimenten umgehen, versteckt sich hinter kleinen Witzen und knetet beim Reden die Unterarme. Dabei spricht er häufig über seine Depression, gibt Interviews, hat 2020 ein Buch veröffentlicht: „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein.“ Einblicke in seine Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, mittlerweile eine Hand voll.

Ohne Lebensgeschichte

Gedankenfetzen, manchmal seitenweise nichts als das Wort „Fuck“. Eine Tür in seinen Kopf, sagt Benjamin Maack – Depressionen seien auch für Betroffene schwer zu erklären. Unter anderem, weil sie die Lebensgeschichten eines Menschen zerstörten.
“Jeder von uns erzählt sich ja eine Geschichte, eine Lebensgeschichte. Man steht irgendwie morgens auf und sagt: ‚Hey, ich habe Kinder, hey, ich habe einen tollen Job, und irgendwie ergibt das alles Sinn, es ist schön, ich habe Freunde und alles Mögliche. Sobald die Depression anfängt, verliert der Mensch die Fähigkeit, sich diese Geschichten zu erzählen. Er wird praktisch geschichtslos. Sein Leben zerfällt zu einzelnen Dingen, zu Dingen, die abgehakt werden müssen.”
Arbeiten, sich um die Kinder kümmern, einkaufen: Während einer Depression sind solche Aufgaben für Benjamin Maack nicht zu bewältigen. Außerhalb einer funktionierenden Lebensgeschichte fehlt ihnen schlicht der Sinn. “Mittlerweile nenne ich das meinen inneren Fleischwolf. In den kommt so alles rein, was gut sein könnte oder was ich bin. Das wird einmal durchgehäckselt, bis ich kaum noch da bin.”
Porträt des Schriftstellers Benjamin Maack
Wenn die Welt ergraut: Der Schriftsteller Benjamin Maack hat sein Leben mit einer Depression beschrieben.© picture alliance / dpa
Wer schreibt die individuellen Lebensgeschichten? Wer gibt ihnen ihren Sinn? Man selbst? Oder sind es eher die Erwartungen von außen, gesellschaftliche Normen, denen man – oft ganz unhinterfragt – folgt?
Benjamin Maack sagt, ähnlich wie Sarah Spieker, auch er habe immer versucht zu funktionieren, für alles und jeden. Auch er wollte ein Mensch sein, auf den sich alle verlassen können, der keine Probleme macht, sondern der erfüllt – oder besser noch – übererfüllt, was von ihm erwartet wird. Der „seinen Mann steht“.
“Ich glaube, es gibt viele von diesen in der Gesellschaft so gut ankommenden Depressiven, die einfach unglaublich hart immer arbeiten, weil sie ebenso so Selbstbildprobleme haben. Meistens kommen die dann auch recht weit und manche brechen vielleicht auch nie zusammen. Aber die werden dann wahrscheinlich auch niemals richtig glücklich.”

Depression als Problem des Individuums

Höher, weiter, schneller. Wer nicht rastet, bekommt auch keine Depression. Statt sich mit den gesellschaftlichen Umständen zu beschäftigen, die Depressionen begünstigen, wird sie als Problem ins Individuum hineinverlagert. Das hat sich dann auch darum zu kümmern, dieses Problem zu lösen. Auch Sarah Spieker empfindet das so: “Auf alle Fälle enttäuscht, wütend. Da war das Gefühl von Scham. Ich habe auch in jeder Episode nach außen ein bisschen so getan, als wäre es jetzt das erste Mal, auch für mich. Weil ich eigentlich immer dachte: Ja, ich bin ja schlau genug. Wenn ich viel reflektiere und Therapien mache, dann habe ich es überwunden. Mir selber einzugestehen, dass es wiederkommen kann, ist mir immer sehr schwer gefallen, bis heute.“
Auch um ihre Depression zu besiegen, glaubt Sarah Spieker, muss sie nur hart genug arbeiten. „Privatisierung von Stress“ nannte der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher dieses Phänomen. Die Ursache sah Fisher – der selbst unter Depressionen litt und sich 2017 das Leben nahm – vor allem in einer Glorifizierung von Eigeninitiative und Selbstverantwortung.
Eigenschaften, denen umso mehr Bedeutung zugeschrieben wird, je weniger sich ein Individuum darauf verlassen kann, sozial abgesichert Teil einer Solidargemeinschaft zu sein. “Wenn diese Privatisierung von Stress sich normalisiert, dann werden noch mehr junge Menschen depressiv. Aber wen schert es? Dann heißt es eben: Depressiv sein ist Teil des Lebens. Aber der Zuwachs von Depressionen unter jungen Leuten ist schockierend", so Kulturwissenschaftler Fisher.
Für Deutschland zeigen Daten der Krankenkassen, dass die Zahl der Depressionsdiagnosen zwischen 2009 und 2017 um rund ein Viertel zugenommen hat, vor allem bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Nach Mark Fisher kein Zufall, sondern Folge davon, dass psychische Krankheiten individualisiert und „entpolitisiert“ würden.
“Das führt dann eben irgendwann zu diesem ‚Erschöpften Selbst‘, wie Alain Ehrenberg das genannt hat“, meint Literaturwissenschaftler Till Huber. „Und ich würde sagen, so gestaltet sich ungefähr heute diese Volkskrankheit Depression.”
Der Soziologe Alain Ehrenberg
“Die Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft", meint der französische Soziologe Alain Ehrenberg.© picture alliance / Damien Grenon/Photo12
“Die Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm auf Verantwortung und Initiative gründet. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten. Die Depression ist eher eine Krankheit der Unzulänglichkeit. Der Depressive ist ein Mensch mit einem Defekt“, schreibt Alain Ehrenberg in „Das Erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart”.

Depression als gesellschaftliches Problem

Der Mensch muss immer mehr leisten, geben, initiieren – immer besser sein, sich zugleich weiterentwickeln, noch besser werden. Aber anstatt sich gemeinsam gegen diesen Druck zu wehren, versucht jeder für sich, möglichst gut damit zurechtzukommen. Kurse in Achtsamkeit und Zeitmanagement, Karriere-Coaching, Joggen und Yoga gegen das Gefühl der Unzulänglichkeit in einer Gesellschaft, die Menschen über Arbeit, Leistung und Erfolg definiert.
Bücher und Texte über Depressionen, die diesen Zwiespalt beschreiben, sind daher vor allem Zeitdiagnosen, sagt Literaturwissenschaftler Immanuel Nover von der Universität Koblenz-Landau. „Oder Gesellschaftsdiagnosen, und zwar Gesellschaftsdiagnosen, die aus politischer Sicht der gesellschaftlichen Struktur oder den systemischen Bedingungen ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellen.”
Depressionen sind mehr als Einzelschicksale. Darüber sollten wir reden, wenn wir über Depressionen reden.

Redakteur/in: Lydia Heller
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Ralf Perz
SprecherInnen: Thomas Holländer, Barbara Becker, Olaf Oelstrom, Carina Schroeder

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