Ursachen und Folgen mangelnder Therapietreue

Nein, meine Pillen nehm’ ich nicht

Eine Frau nimmt Tabletten.
Ein bisschen mehr oder weniger - viele Patienten nehmen es mit der empfohlenen Dosierung nicht so genau. © imago / photothek
Von Andrea und Justin Westhoff · 04.12.2017
Patienten dosieren nach Gefühl, entsorgen die Medikamente im Müll oder brechen die Behandlung einfach ab. Mangelnde Therapietreue verursacht immense Kosten. Wo liegen die Ursachen dafür, dass Patienten den ärztlichen Empfehlungen nicht folgen?
"Ich war elf Jahre, als ich Diabetes bekommen habe, im Krankenhaus habe ich das dann gar nicht richtig realisiert, dass das für immer bleibt, ja."
Seit ihrer Kindheit lebt Tina Heinricht schon mit ihrer Krankheit, die eine strenge Disziplin erfordert:
"Dann musste ich am Anfang mindestens fünf Mal am Tag spritzen. Das war natürlich dann schon anstrengend, aber schlimmer wurde es im Teenageralter. Also, man hatte wirklich gar keine Lust mehr irgendwas zu messen, zu spritzen. Das war dann bei mir auch so schlimm, dass ich zwei Monate nicht mehr meinen Blutzucker gemessen habe, dementsprechend waren dann auch meine Werte schlechter, und mir ging's auch eigentlich schlechter, aber man realisiert das als Kind natürlich nicht so. Und man möchte das einfach nicht, weil das einem auf die Nerven geht, und das war wirklich das schwerste."
Immer Anordnungen befolgen zu müssen, das kann schon "auf die Nerven gehen", wie Tina sagt. "Compliance" heißt das in der Fachsprache. Und wenn Kranke nicht tun, was ihre Ärzte ihnen vorschreiben, sprechen Mediziner von "Non-Compliance". Das hat erhebliche finanzielle Folgen, sagt Dr. Ursula Sellerberg, Pressesprecherin der Apothekerverbände:
"Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bei chronisch Kranken die Hälfte aller Patienten nicht compliant ist. Zu den Kosten: Die Zahlen differieren zwischen 10 und 20 Milliarden Euro pro Jahr für Deutschland."

Wie hoch ist der Schaden wirklich?

Über solche Angaben gehen die Meinungen allerdings auseinander. Professor Norbert Schmacke ist Versorgungsforscher an der Uni Bremen.
"Also, die Zahlen, die sind keine harten Daten, sie basieren in der Regel auf Selbstauskünften, oder sie basieren auf Einschätzungen der Ärztinnen und Ärzte, und es gibt ganz wenige Ansätze, wo im Rahmen von Studien systematisch geguckt wird, wie verhält sich jemand. Was mir nur auffällt, ist, dass das Klagen über die Non-Compliance über die letzten Jahrzehnte unverändert ist. Es werden immer wieder diese Horrorzahlen genannt. Es ist ein Problem, mit dem man sich grundsätzlich auseinandersetzen muss, und bei dem es nichts nützt, sich zu empören über Patienten, die nicht folgsam seien, die nicht brav sind."
Der Begriff "Compliance" wird heute nur noch ungern benutzt. Denn er geht von einem überholten Arzt-Patienten-Verhältnis aus, wie schon die deutsche Übersetzung "Folgsamkeit" oder gar "Gehorsam" zeigt. Patienten wollen mitreden, gerade chronisch Kranke, die es vor allem betrifft:
"Einem Patienten wird zugemutet, bis lebensbegleitend Medikamente einzunehmen. Das entspricht nicht der Welt von Kranken, die immer in Hoffnung sind, es wird besser. Und dann kann ich das doch wieder absetzen. Das klingt ja erst mal verrückt, aber es zeigt, dass in uns Menschen ganz stark dieses Bedürfnis ist, mitzugestalten und nicht nur passiv zu erdulden."

Ärzte haben nicht mehr die alleinige Definitionsmacht. Experten sprechen deshalb nun lieber von "Adhärenz".
"Ich glaube, dass der Begriff ein Fortschritt ist, weil er zum Ausdruck bringt, dass sowohl der Arzt mit seinem Können und der Gesprächsführung als auch der Patient in der gleichen Verantwortung und in einem Team sind."
Mit Hilfe eines kleinen Blutstropfens wird mit einem Gerät der Firma OneTouch der Zuckergehalt im Blut gemessen. Menschen, die an Diabetes erkrankt sind, müssen den Blutzuckerwert häufig überprüfen und bei entsprechendem Krankheitsbild Insulin spritzen.
Für Diabetiker unerlässlich: die regelmäßige Kontrolle des Blutzuckers© picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Eine solche Zusammenarbeit ist erstrebenswert. Im Idealfall resultiert daraus das richtige Verhalten. Selbst dann aber, läuft es nicht immer gut.
"Am schwersten ist es wirklich, wenn man mit Freunden unterwegs ist und dann mal schnell was essen möchte oder irgendwie lange weg ist, dann vergisst man das auch einfach, wenn's einem gut geht, so."

Medikamenteneinnahme wird oft vergessen

Non-Compliance drückt sich in verschiedenen Formen aus. "Vergessen" ist wohl die häufigste, nicht nur für Tina Heinricht, sondern vor allem bei älteren Menschen. Mal geschieht es unbewusst, mal bei gesundheitsbewussten Änderungen im Lebensstil, öfter noch beim Umgang mit Medikamenten.
Ursula Sellerberg: "Die sogenannte primäre Non-Compliance ist, wenn der Patient das Rezept gar nicht in der Apotheke einlöst, und eine Studie aus dem Jahr 2017 hat festgestellt, dass fast ein Viertel der Bundesbürger vergessen hat, ein Medikament einzunehmen."
Neben allgemeinem, verständlichem menschlichen "Versagen" kann das bei manchen chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck daran liegen, dass lange Zeit keine Symptome spürbar sind. Dabei ist die "Weißkittel-Compliance" nicht so selten:
Die Therapievorschläge beachtet der Patient – wenn überhaupt – nur unregelmäßig, aber kurz vor dem Arztbesuch wird er ganz brav. Für Norbert Schmacke sind die Gründe oftmals nachvollziehbar:
"Das hat ganz viel damit zu tun: Welche Vorstellungen haben die betroffenen Patienten von Therapie. Sie haben häufig eine andere Vorstellung als die Ärztinnen und Ärzte. Und wenn akute Beschwerden zurückgehen, nehmen wir mal das Beispiel eines Gelenkrheumas, wenn sich jemand besser fühlt, ist die Versuchung sehr groß, zu sagen, geht's nicht auch ohne? Also, das ist, finde ich, überhaupt nicht schwer zu verstehen."
Menschen sind zudem ambivalent: "Ja, ich weiß, dass ich aufhören sollte zu rauchen und weniger essen, aber …". Bei Medikamenten drückt sich das mitunter im "Parkplatzeffekt" aus: Bevor sie zum Doktor gehen, vernichten die Patienten die nicht genommenen Medikamente, um sagen zu können, sie brauchen ein neues Rezept – vor allem ein Selbstbetrug also.
Von dramatischen Zahlen und furchterregenden Folgen der Non-Compliance ist oft die Rede. Tatsächlich kann eine Krankheit schlimmer werden und manchmal verursacht das unnötige Krankenhausaufenthalte. Es gibt aber auch Intelligente Compliance, die geht aus von…
"…von einer Situation, wo Therapien von fragwürdigem Nutzen weggelassen werden. Also in aller Munde ist jetzt das Thema dieser Arzneimittel-Mehrfachtherapie. Wir wissen inzwischen, dass mit zunehmendem Alter die Zahl der durchschnittlich verordneten Medikamente zunimmt; fehlende Folgsamkeit – in Anführungszeichen – kann sich sowohl extrem schädlich auswirken, als auch in absurder Weise vielleicht auch mal rettend sein, wenn Leute gefährliche Medikamente weglassen."

Eine wirksame Kontrolle ist schwierig

Wie kommt es zu den Zahlen über Non-Compliance? Befragungen sind nicht sehr verlässlich. Ursula Sellerberg von Apothekerverband nennt präzisere Erhebungsmethoden:
"Also, das Beste, um das zu messen, ist die Konzentration des Medikaments im Blut zu untersuchen, das ist natürlich relativ aufwendig, da muss der Patient auch gewillt sein, das mit sich machen zu lassen. Dann gibt es noch andere, indirekte Verfahren, zum Beispiel gibt es speziell für Forschungszwecke kleine Dosen, wo die Medikamente reingefüllt werden, und in dem Deckel des Döschens ist so ein Chip, der registriert, wann wurde die Dose geöffnet."
Oder eine relativ direkte Methode, die allerdings voraussetzt, dass der Patient immer in dieselbe Apotheke geht.
"Zum Beispiel, man guckt sich an, wie oft kommt der Patient mit einem Rezept für das gleiche Medikament in die Apotheke. Angenommen, er soll eine Tablette am Tag einnehmen, 100er-Packung, so plus minus alle drei Monate muss ein Rezept eingelöst werden. Wenn das aber nicht erfolgt, sondern das Rezept nur alle fünf Monate eingelöst wird, na ja, dann war er unterversorgt."
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Interessen dahinter stecken. Vielleicht altmodische Ärzte, die Gehorsam einfordern? Womöglich Krankenkassen, die Verschwendung fürchten? Oder die Pharmaindustrie, die mehr Pillen verkaufen will oder nach dem Motto handelt: Wenn die Menschen dieses Mittel nicht nehmen, entwickeln wir ein neues, das dann teurer ist – ohne wirklich mehr zu helfen. Corinna Schäfer, die sich um Qualität im Gesundheitswesen kümmert:
"Diejenigen, die an Therapien verdienen, versuchen häufig sie auch so gut darzustellen, dass sie gerne genommen werden. Also dass der Nutzen überschätzt wird und der Schaden unterschätzt wird."
So richtig sicher sind insgesamt die Daten zur Non-Compliance eben nicht. Versorgungsforscher Norbert Schmacke:
"Die Zahlen, die genannt werden, sind mit Vorsicht zu genießen. Man darf sich nicht darüber aufregen, sondern man muss sich damit beschäftigen, warum das so ist."

Entscheidend ist das Verhältnis zum Arzt

Warum das so ist, hängt mit Information, Kommunikation und dem vernünftigen Zugehen auf Patienten zusammen. Entscheidend für Adhärenz ist das Verhältnis zwischen Patient und seinem Behandler und dessen Kommunikationsfähigkeit. Das gilt nicht nur für jugendliche Diabetiker wie Tina Heinricht.
"Ich hatte einen sehr tollen Professor, muss ich sagen, der war immer für mich da, und wirklich so: 'Das ist nicht deine Schuld, Tina, wenn du das machen möchtest, dann mach das so', also, es ist wichtig, dass die Ärzte Verständnis haben und einen nicht unter Druck setzen, sondern einfach sagen: 'Mach so gut, wie Du kannst.'"
Blick in ein Wartezimmer
Der Patient sollte eine ausführliche Erklärung für die Behandlung erwarten können.© Imago
Aber oft läuft es eben nicht so gut. Manche Ärzte haben dazugelernt und pflegen einen Kommunikationsstil auf Augenhöhe. Andere empfinden sich immer noch als Patriarchen oder sprechen unverständliches Medizinerlatein. Norbert Schmacke:
"Das hat sich wahrscheinlich spürbar geändert, aber ob sich wirklich das Grundverständnis geändert hat, was heißen würde: Die Patienten, der Patient muss es erleiden, und sich als Experte sozusagen zu bescheiden, ob dieser Wandel des Selbstverständnisses wirklich in der Ärzteschaft da ist, das bezweifle ich, aber sicherlich ist heute die Atmosphäre oft freundlicher geworden und die Doktors fallen nicht mehr vom Hocker, wenn sie auch mit kritischen Fragen konfrontiert werden, wie das sicherlich vor 20, 30 Jahren häufiger noch der Fall war."
Problematisch ist die Kommunikation zum Beispiel, wenn junge Menschen mit chronischen Krankheiten nicht mehr vom Kinderarzt betreut werden, sondern zu einem Mediziner für Erwachsene wechseln müssen.
"Als ich das erste Mal dann beim Erwachsenenarzt war, da sind halt meistens alte Leute mit Typ-II-Diabetes, da machen es immer die Krankenschwester, und ich messe so vier, fünf Mal am Tag Blutzucker, und ich komm dahin, und die wollen das für mich machen. Und ich war total 'Ich kann das auch alleine' – 'nee, nee, wir machen das', und ich habe mich da so ein bisschen gefühlt, als würden die mir die da so meine Eigenständigkeit wegnehmen, und da brauch ich nicht dahin zu gehen, damit die mir meinen Blutzucker messen."

Jeder Patient ist anders

Und selbstverständlich sind nicht alle Patienten gleich. Dr. Jörg Gölz ist erfahrener Allgemeinmediziner. Er bevorzugt das "shared decision making", die gemeinsame Entscheidung, kennt aber drei Typen von Patienten.
"Es gibt den Patienten, der die gesamte Verantwortung abgibt, dann gibt es den Patienten, der über sein Krankheitsbild sich informiert hat, allerdings trotzdem noch das Vertrauen in die Entscheidungskraft des Arztes hat und mit dem die Therapieentscheidungen durchspricht. Das ist eigentlich die befriedigendste Art, mit diesem Patienten zu arbeiten, und dann gibt es dritten Typus des Patienten, der alles besser weiß, und dem Arzt zeigt, dass er nichts kann, und dann weiterzieht."
Der Internist Professor Harm Peters betont in mehrerlei Hinsicht die Rolle des Verhältnisses zwischen Behandler und Behandeltem:
"Neben der Kommunikation gibt es in der Arzt-Patienten-Beziehung natürlich das, was wir alle kennen: Stimmt die Chemie? Das ist hochgradig individuell und nicht vorhersehbar, ich glaube, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis eine sehr große Rolle spielt für Therapietreue, weil die Art und Weise, wie der Arzt überzeugt, ganz wesentlich für den Patienten ist. Die eine Ebene ist, was der Arzt selbst vorlebt, das andere ist natürlich, wie er das Gespräch angeht und wie er erkennt, welche Bedürfnisse der Patient hat, und deswegen ist ja diese Arzt-Patienten-Kommunikation und ein gewisses Repertoire an Möglichkeiten, wie man es gestalten kann, ein wichtiger Teil in der ärztlichen Ausbildung."
Peters ist Leiter des viel gelobten Reformstudiengangs Medizin an der Charité.

Ärztliche Kommunikation wurde lange unterschätzt

"Für das Arzt-Sein gibt es drei große Elemente, wie wir wirken. Das ist einmal das Skalpell, das ist das Grundelement des Chirurgen, dann sind es die Medikationen und Tabletten, das ist das Grundelement des Internisten. Was wir lange Zeit nicht gut trainiert haben, ist die ärztliche Kommunikation, die einen genauso großen Stellenwert hat. Und darum haben wir im Modellstudiengang Medizin diesem einen ganz großen Stellenwert beigemessen, mit vielen, vielen Unterrichtsstunden in Trainingseinheiten haben wir ein Curriculum, wo wir unsere zukünftigen Ärzte darauf vorbereiten, in den späteren Kommunikationsfeldern auch besonders gut zu sein."
Norbert Schmacke: "Es beginnt damit, überhaupt nicht verstanden zu haben, warum soll ich ein Medikament nehmen oder eine Medikamentenkombination? Also fehlende Aufklärung."
Versorgungsforscher Norbert Schmacke zu den persönlichen Motiven für Non-Compliance.
"Ein zweiter Hauptgrund ist die Beschäftigung mit Nebenwirkungen, sei es Lesen des Beipackzettels oder das Erleben von Nebenwirkungen einfach."
Eine mehr oder minder typische Patientin:
"Ich überlege mir dann sehr genau, nehme ich nun das Zeug, wenn ich also den Beipackzettel sehe, oder nehme ich nicht. In der Regel nehm ich's nicht."
Non-Compliance liegt nicht selten daran, dass die Verordnung äußerst kompliziert ist, schließlich daran, dass Patienten das Wissen fehlt oder ihnen nicht richtig vermittelt wird. Selbstverständlich ist das zunächst eine Aufgabe der Ärzte, aber auch Apotheker können hier helfen, sagt Ursula Sellerberg.

"Apotheker können viel tun, um die Compliance zu verbessern, aber sie können nicht garantieren, dass die Compliance auf 100 Prozent geht. Es geht nicht nur um das Gespräch, sondern es geht auch um die ganze Umgebung. Und auch der Zeitpunkt einer Information ist wichtig. Wenn Patienten am Entlassungstag aus dem Krankenhaus eine Information bekommen, sind sie viel aufgeschlossener, als wenn sie die gleiche Information am Tag nach der Operation bekommen, weil da geht einem so viel im Kopf rum, da ist man noch nicht so aufnahmefähig, wie eben wenn man merkt: Aha, jetzt geht’s nach Hause, und es ist jetzt hier gleich im Krankenhaus für mich vorbei."
Für Patienten: Ein Tagebuch, in dem eingetragen wird, ob die Medikamente genommen wurden, als einfache Stütze. Für Ärzte: Statt einer Vielzahl von Pillen ein Kombinationspräparat verschreiben, soweit dies nicht schädlich ist, also nur eine Tablette pro Tag. Oder Depotpräparate, beispielsweise bei Psychopharmaka, wo die Adhärenz-Werte oft sehr schlecht sind. Und wenn Patienten sich unzureichend informiert fühlen, gehen sie heutzutage oft ins Internet.
Die Kamera ist auf die Medikamente im Regal im Vordergrund eingestellt. Die Frau und der Rest des Regales sind unscharf.  
Eine ausführliche Beratung sollte auch in der Apotheke stattfinden.© dpa-Zentralbild

Welche Information im Netz stimmt?

"Wenn ich anfange, im Internet zu recherchieren, dann kann ich Perlen finden, die mir sehr weiterhelfen, eine eigene Meinung zu bilden, ich kann aber auch ertrinken in lauter schwachsinnigen Foren, wo Ängste geschürt werden und, und, und."
Wie können Patienten hier die Spreu vom Weizen trennen? Das Ärztliche Zentrum für Qualitätssicherung in der Medizin hat dazu eine Seite im Internet veröffentlicht. Corinna Schäfer:
"Es gibt viele Seiten, die sehr seriös daherkommen und trotzdem Müll schreiben, ein paar Orientierungspunkte für Patienten gibt es aber, man sollte als erstes immer gucken, wer hat die Information geschrieben, wer hat sie bezahlt, wie alt ist sie, werden Quellen angegeben. Wird mir immer eingeredet, ich soll eine Sache machen oder unbedingt bleiben lassen, stellt man nicht dar, dass es unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten gibt; wenn Markennamen genannt werden, sollte man vorsichtig sein, wenn ganz arg dramatisiert wird oder auch ganz arg verharmlost wird, sollte man auch vorsichtig sein."
Und es kommt darauf an, wonach man sucht.

"Mein Tipp ist immer: Keine Symptome googeln. Denn wenn man seine Beschwerden eingibt, dann kommt man auf ganz unterschiedliche Seiten, ich würde immer empfehlen, mit Beschwerden, wenn man sie für beunruhigend hält, zum Arzt zu gehen. Und wenn der einem sagt: Das und das könnte sein, dann kann man hinterher sich lange schlau machen, über eine Diagnose nachlesen, über Behandlungsmöglichkeiten, und mit dem Wissen zurückgehen."
Ganz hellhörig sollte man werden bei Berichten über Wunderheilungen oder wenn geraten wird, eine bewährte Therapie abzubrechen. Zu allen möglichen Gesundheitsfragen gibt es zudem Aussagen von Patienten im Internet.
"Wirksamkeitsaussagen sollte man nie aus Foren holen. Um zu sagen, ob etwas wirkt oder nicht, braucht man aufwendige Studien, und da reicht nicht ein Einzelner, der sagt, ich hab's genommen, und mir hat's geholfen, kommt hinzu, dass sich auch in Foren ganz viele tummeln, die bewusst Marketingaussagen platzieren, das heißt, bewusst irreführen."

Erfahrungsaustausch unter Patienten ist sinnvoll

Der Austausch von Erfahrungen von "gleich zu gleich" ist aber in anderer Hinsicht sinnvoll. So können unabhängige Selbsthilfegruppen hilfreich sein, quasi als Brücken zwischen Laien und Professionellen.
"Am Anfang wollte ich gar keinen Kontakt zu anderen Jugendlichen mit Diabetes, als dann die Akzeptanz mehr da war, da habe ich dann auch eine Kur gemacht, und dort habe ich dann Jugendliche kennen gelernt mit Diabetes, und es war total toll. Das war einfach eine Gemeinschaft, eine Leidensgemeinschaft. Und ich habe auch immer noch mit drei Leuten davon Kontakt."
Neben den Problemen, die so mancher Patient mit der Adhärenz, der Therapietreue hat, gibt es auch systembedingte Gründe für Non-Compliance:
Armut, sozial bedingt geringe Ausbildung, in manchen Fällen fehlende Kostenerstattung und allgemein Zugangshürden im Gesundheitswesen.
Professor Norbert Schmacke: "Selbst wenn man hoch gebildet ist, ist es ja nicht ganz leicht, zu durchschauen, wo habe ich mit guter Aussicht die beste Behandlung, die ich gerne für mich oder meine Angehörigen hätte. Und je weiter weg Menschen von solchen Wissensbeständen sind, je geringer die soziale Kompetenz ist, desto mehr schwimmen sie in dem System."
Dieses System ist auch durch die berüchtigte "3-Minuten-Medizin" gekennzeichnet. Daran sind Ärzte nur zum Teil schuld, das Gesundheitswesen zahlt für die "sprechende Medizin" zu wenig und für technische Leistungen immer noch mehr.
"Es ist leicht gesagt, nach einem Herzinfarkt mögen Sie bitte jetzt Aspirin, Betablocker und Statine nehmen, und zwar täglich, bis ans Lebensende. Die Aufgabe wäre, verständlich zu machen, wo ist der Nutzen, und nicht davon auszugehen, dass das in einem einmaligen Gespräch vermittelt werden kann, sondern sich als Doktorin und Doktor darüber klar zu werden, dass das ein permanentes Reden über den Verlauf der Erkrankung ist. Und dass Patienten die Möglichkeit haben müssen, auch die so genannten dummen Fragen zu stellen."

Die "3-Minuten-Medizin"

Allerdings hat Professor Harm Peters in einer Studie zum Thema 3-Minuten-Medizin herausgefunden:
"Der Faktor Zeit bei Kommunikation spielt natürlich eine Rolle. Das überraschende Phänomen, das wir hingegen sehen, wenn man in der Lage ist, effektiv zu kommunizieren, dann ist es oft sogar so, dass man Zeit dadurch gewinnt."
Ein weiteres systembedingtes Problem: Aus Kostengründen vereinbaren Krankenkassen mit einzelnen Produzenten exklusive Lieferung von Arzneimitteln zu einem festgelegten Preis. Der Patient bekommt auf einmal zwar den gleichen Wirkstoff, das Mittel sieht aber anders aus. Das führt zu besorgten Fragen, weiß Dr. Ursula Sellerberg vom Apotheker-Bundesverband.
"Besonders Menschen, die viele Medikamente einnehmen oder älter sind, sind dann verwirrt. Die sagen: 'Wo ist meine rote Kapsel, warum soll ich jetzt eine blaue nehmen, kenn ich nicht, nehm' ich nicht.'"
Wenn das auch in den meisten Fällen unbegründet ist, empfinden manche Patienten ihre Pillen als schlechter verträglich, wenn sie anders aussehen. Gerade bei Medikamenten gibt es aber neue Ansätze, die Compliance zu verbessern. Viel ist die Rede von Apps, die Patienten an die Tabletten-Einnahme erinnern sollen. Die Apothekerin Ursula Sellerberg kennt sich damit aus.

"Es gibt Apps, die zum Beispiel daran erinnern: Achtung, Tablette muss eingenommen werden. Die schicken dann einfach eine SMS im einfachsten Fall. Es gibt in Australien jetzt eine Tablettenschachtel für die Anti-Baby-Pille, da muss man die Anti-Baby-Pille nicht nur nehmen, sondern man muss auf einen Knopf drücken, wenn man nicht auf diesen Knopf drückt innerhalb einer bestimmten Zeit, dann wird ein Alarm ausgelöst, der das ganze Badezimmer beschallt, also als Erinnerungs-Wecker."
"Smart Packaging" nennen sich solche "klugen" Arzneiverpackungen etwa mit eingebauten Chips oder gar kleinen Lautsprechern, die gegebenenfalls Alarm schlagen. Aber:
"Es gibt in Deutschland meines Wissens noch kein Medikament, wo dieses 'Smart Packaging' bereits eingeführt ist. Es gibt aber verschiedene Modelle, die getestet werden, da sendet die Arzneimittelpackung an das Smartphone eine Auswertung, wird die Tablette rausgedrückt aus dem Blister oder nicht. Da muss man sich allerdings auch im Klaren sein, dass man natürlich als Patient auch überwacht wird. Und dann gibt es auch andere Methoden, die nach Science Fiktion klingen, ein Medikament wird eingenommen und sendet dann aus dem Magen heraus an ein Pflaster, was auf der Haut klebt, ob Medikamente geschluckt worden oder nicht."
Ein Artzt im weissen Kittel erläutert einem Patienten, den man nur von hinten sieht, das, was auf einer medizinischen Tafel erläutert ist.
Für ein ausführliches Gespräch hat der Arzt oft keine Zeit.© Andrea Castillo-Sohre

Zukunft smarte Pille

Anders als in Deutschland wurde in den USA schon eine Pille zugelassen, die neben einem Wirkstoff gegen Psychosen einen Mini-Sensor enthält. Doch das Misstrauen gegenüber smarten Pillen ist groß. Es ist unklar, wer welche persönlichen Informationen einsehen kann und was damit passiert. Bekommen auch Patienten, die gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Einwilligung zu geben, künftig smarte Pillen? Wie behält der Patient die Kontrolle über den Datenfluss von Pille und Smartphone? Die Qualitätshüterin Corinna Schäfer ist insgesamt skeptisch:
"Derzeit gibt es keine Gütesiegel für Apps, und das kann, glaube ich, auch kein Mensch leisten, weil jeden Tag neue auf den Markt kommen, da Sicherheit reinzubringen, ist schwierig. Deshalb sollte man mit einem kritischen Blick auf diese Apps gehen, sich fragen, welche Daten wollen die von mir haben, wer bekommt die, ist es etwas, um mit meinem Arzt zu kommunizieren, ist es eine App, die mich daran erinnert, Medikamente zu nehmen, was auch immer. Soweit wir das überblicken, kann man sagen, dass die meisten Apps relativ geringen Nutzen haben."
Derzeit jedenfalls. Die junge Diabetikerin Tina Heinricht findet diese Smartphone-Hilfen allerdings wenig attraktiv.
"So Sachen wie Apps oder so benutze ich gar nicht, weil ich bin da, glaube ich, auch nicht so, dass ich da jeden Tag in die App reinschreiben würde, da bin ich einfach zu nachlässig für. Es gibt ja jetzt schon Forschungen, wo man einen Chip unter die Haut setzt, und der Chip dann dauerhaft den Gewebezucker misst. Das finde ich auch sehr interessant, aber da müssen auf jeden Fall noch Fortschritte gemacht werden, dass das irgendwie eingesetzt wird in der Medizin."
Bis dahin gibt es zum Beispiel für Diabetiker spezielle technische Hilfsmittel.
"Für die Therapietreue bin ich jetzt seit knapp zwei Jahren auf eine Pumpe umgestiegen, sie ist ohne Schlauch, und das ist ganz gut, durch diese Pumpe in der Fernbedienung protokolliere ich meine Messwerte vom Blutzucker, und was ich gespritzt habe, und deswegen ist das Protokollieren halt besser."
Es gibt ganz viele Gründe für Non-Compliance, aber der Zaubertrick, um Patienten dabei zu helfen, sich besser um ihre Gesundheit zu kümmern, existiert offenbar nicht. Beispiel:
"Man hat sich überlegt, na ja, da muss man doch einfach die Angehörigen einbinden. Dann hat man eine Studie gemacht mit HIV-Patienten und deren Angehörigen, und da sollte man meinen, da hat's doch wirklich Interesse der Angehörigen, da entsprechend Druck auszuüben, dass die HIV-Medikamente auch regelmäßig genommen werden. Aber man musste leider feststellen in den Studien: Nee, hat keinen nachhaltigen Einfluss auf die Compliance."
Nicht einmal ein hoher Leidensdruck hilft immer, berichtet Ursula Sellerberg.
"Und dann hat man untersucht bei Patienten, die auf eine Niere warten, und wenn sie dann eine Niere transplantiert bekommen haben, dann müssen sie lebenslang Medikamente einnehmen, um die Abstoßung dieses Transplantats zu verhindern. Da sollte man doch meinen, diese Patienten sind top motiviert, weil: die wissen ja, was auf dem Spiel steht. Aber auch da muss man leider feststellen, dass die Compliance eben nicht optimal ist bei diesen Patienten."

Patentlösungen gibt es nicht

Es gibt, wie gesagt, keine Patentlösung. Bei kontinuierlicher Verbesserung der systembedingten Ursachen wäre für die Compliance aber schon viel getan. Am wichtigsten jedoch bleibt das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Schreckliche Folgen auszumalen, wenn es an Therapietreue fehlt, bringt nach allen einschlägigen Untersuchungen sehr wenig. Besser ist es, das Selbstvertrauen und die Ressourcen des Patienten zu stärken und dessen Überzeugungen offen anzusprechen – was nur bei jenen kaum funktioniert, die ideologisch jegliche "Schulmedizin" ablehnen. In der Mediziner-Ausbildung tut sich in der Hinsicht einiges. Professor Harm Peters, Leiter des Reformstudiengangs der Charité erzählt, wie:
"In unserem Kurs für ärztliche Gesprächsführung machen wir zwei Dinge. Das eine ist: Wir geben den Studierenden ein Denkmodell, was eine Grundlage ist, wie Adhärenz funktioniert. Das Modell baut darauf auf, dass der Patient selbst in verschiedenen Phasen ist, diese Phasen ist eine Absichtserklärung, das ist die Vorbereitung, die Handlung, die Aufrechterhaltung oder der Rückfall, das Studium selbst sieht auch sehr viele Praxiseinsätze vor, wo es dann Gelegenheiten gibt, diese Fähigkeiten und Fertigkeiten unter kontrollierten Bedingungen mit Ärzten zu trainieren. Was wir machen, ist - neben diesem theoretischen Denkmodell -, dass wir Simulationspatienten haben, die im Rollenspiel mit unseren Studierenden durchspielen, welche typischen Probleme in der Gesprächsführung in der Wirklichkeit dann auftreten."
Non-Compliance ist ein Problem, aber auch ein zutiefst menschliches Verhalten. Gerade auch, aber nicht nur im jugendlichen Alter.
"Also für mich persönlich am schwersten einzuhalten war wirklich dieses regelmäßige Messen und auch Dokumentieren, ich hab das nicht gern gemacht, und dann: Wie viel hast du gegessen, wie viel musst du spritzen, und dann kam meine Mutter und wollte auch, dass ich das ordentlich mache, und die ist mir dann auch auf die Nerven gegangen, aber ich habe mich dann selbst damit auseinander gesetzt und es war für mich OK, und das ist jetzt einfach so in meinem Alltag drin und ich kann mir das auch gar nicht mehr vorstellen, einfach irgendwas zu essen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie viel Kohlehydrate sind da drin, was spritze ich, wie muss ich das ausrechnen."
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