Urkraft Volk

Von Rolf Cantzen · 22.08.2007
Begriffe wie Rasse, Blut, Boden, Volk und Heimat wurden im 19. Jahrhundert ideologisiert und bereiteten den geistigen Nährboden für die NS-Diktatur. Doch mit dem Untergang des Dritten Reiches verschwanden nicht zugleich auch die Überlegenheitsideologien. Bis heute hat zum Beispiel das völkische Denken Einfluss auf die Demografiedebatten.
"Die Germanen ... sind eingeboren und gar nicht durch Einwanderung und Aufnahme anderer Stämme vermischt."

Das schrieb der Römer Tacitus in seiner "Germania".

"... ein eigentümliches, unvermischtes und nur sich selbst ähnliches Volk ..."

Im 19. Jahrhundert erlebte Tacitus’ "Germania" in Deutschland eine Renaissance. Mit Hilfe dieser Schrift konstruierten deutsche Dichter und Denker die Germanen zu den Vorfahren der Deutschen – zu einem Volk mit einem gemeinsamen Ursprung, mit eigener Abstammung, mit einfachen, aber edlen Sitten und Gebräuchen und mit eindeutigen körperlichen Merkmalen ...

"... wilde blaue Augen, rötliches Haar, große ... tüchtige Leiber ..."

Puschner: "Die germanische Mythologie oder die Germanenideologie - das ist neben dem Rassismus, neben der Rassenideologie ein zentraler Pfeiler des völkischen Denkens überhaupt. Und wo es darum geht, dem Deutschen eine spezifische historische Dimension zu geben, die bei den Germanen mündet, um von dort aus zu sehen, ein originäres germanisches Wesen, dieses Normengefüge zu schaffen, auf dem dann dieser neue völkische Staat errichtet werden soll."

Ein Staat mit einem ethnisch homogenen Volk ...

"... nicht durch Einwanderung vermischt ... wilde blaue Augen, große tüchtige Leiber ..."

Ein Volk, das um seine germanischen Wurzeln weiß, das weiß, wer nicht dazu gehört, ein Volk, das jene Individuen ausschließt, die dem Reinheits- und Abstammungsgebot nicht entsprechen, ein Volk mit einer kollektiven Identität.

Puschner: "Was wissen wir heute überhaupt von den Germanen? Wir haben keine schriftliche Überlieferung. So muss man sich eben auf zwei Dinge beziehen. Das ist die römische Überlieferung, in erster Linie Tacitus, wobei schlichtweg negiert wird, dass es sich hier um einen Sittenspiegel für die spätrömische Gesellschaft handelt, und zum zweiten beruft man sich auf die Edda, wobei hier wiederum ausgeblendet wird, dass sie von christlichen Mönchen niedergeschrieben wurde und unter anderem eben christlich konnotiert wird."

Der Historiker Uwe Puschner ist Professor an der Freien Universität Berlin. Er und einige seiner Kolleginnen und Kollegen beschäftigen sich - auch unter dem Eindruck des heutigen Rechtsradikalismus und Rassismus - mit dem völkischen Denken um 1900.

Puschner: "Zunächst einmal kann man das Völkische heute am besten fassen über die Rassenideologie, die das Fundament des ganzen Völkischen darstellt. Diese Rassenideologie ist wieder verbunden in hohem Maße mit dem Antisemitismus. Das verweist auf eine Wurzel des völkischen Denkens. Es ist zum anderen in hohem Maße verbunden mit einer Germanenideologie, die aber mit der Rassenideologie in Verbindung natürlich eine ganz spezifische Ausformung hat und dann die Superiorität und Prädestination des Germanen und über den Germanen dann die Schiene zum Deutschen verbindet."

Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sich verschiedenste Orden und Gemeinschaften, Gruppen und Grüppchen mit diversen Zeitschriften, Broschüren, Vortragsreihen und Seminaren. Verehrt wurden Freyja und Wodan, "germanische" Tugenden, die "arische" Rasse, Blut und Boden, Volk und Heimat, Mutter - "Natur" und die deutsche Nation, Edda, Siegfried, Richard Wagner und die Nibelungen, hier in der parodistischen Form von Oscar Strauss ...

Die verschiedenen religiösen und völkischen Gruppierungen spalteten sich, fusionierten, lösten sich auf, organisierten sich mit altem Personal neu. Aus der Deutschreligiösen Gemeinschaft wurde die Deutschgläubige Gemeinschaft. In deren Umfeld kam es zur Gründung der "Gesellschaft Wodan", die sich auch "Freie Gesellschaft zur Erforschung der Germanischen Weis- und Brauchtümer" nannte – und so weiter. Ziel war die Neubegründung des "artgerechten" Glaubens eines reinen, von den Germanen abstammenden Volkes, die Rückbesinnung auf eine vermeintlich germanische beziehungsweise deutsch-nationale Kultur.

Die "lustigen Nibelungen" von Oscar Strauss ärgerten die Völkischen gewaltig. Bei der Premiere 1908 kam es zu Tumulten:

"... die Verhöhnung des herrlichsten Eigens, welches unser Volk besitzt, unsere Nibelungensage, des gewaltigsten Werkes der Weltliteratur überhaupt ..."

Puschner: "Ich halte es für zentral wichtig, die Grundlagen und die Ideologie des Völkischen zu kennen, denn das hilft mir in sehr differenzierter Weise, neuvölkischem Denken der Gegenwart zu begegnen, insbesondere auch hinzuweisen auf Anfälligkeiten einzelner völkischer Denkfiguren im Kontext des Rechtsextremismus, insbesondere auch immer wieder Jugendliche oder Unbedarfte warnen zu können, in welche Fahrwasser sie mit einzelnen Denkfiguren geraten können, die man auf Anhieb gar nicht durchschaut."

Denkfiguren – oder: Diskurse, Motive, Deutungsmuster, die auch in der Mitte der Gesellschaft gepflegt werden und durchaus Scharnier sein können zwischen der Mitte und den rechtsextremen Rändern oder zum organisierten Rechtsextremismus.

Ideologien um den Ursprung und die Abstammung des Deutschen, um die kulturelle oder biologische Höherwertigkeit spielen in alltagsrassistischen Diskursen eine Rolle und zwar nicht nur innerhalb des Rechtsextremismus. Diese Ideologien haben eine Geschichte. Ingo Wiwjorra von der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zeigt dies in seinem Buch "Der Germanenmythos".

Wiwjorra: "Von einem Germanenmythos ließe sich durchaus schon vor dem 19. Jahrhundert sprechen. Allerdings fanden im Zusammenhang mit der Idee des Nationalismus im 19. Jahrhundert Radikalisierungen statt."

"Das deutsche Volk als Kern des Menschengeschlechts ist vom Weltgeist erwählt ..."

Schiller.

"Im Schoß des deutschen Volkes ist das Urbild der Menschheit reiner als in irgendwelchen anderen aufbewahrt ..."

Kleist.

"Die reine Innigkeit der germanischen Nation war der eigentliche Boden für die Befreiung des Geistes ..."

Hegel.

Die deutschen Dichter und Denker rüsteten im 19. Jahrhundert ideologisch auf. Sie pflegten Ursprungs-, Entstehungs- und Reinheitsdiskurse, die den Überlegenheitsideologien die notwendige denker- und dichterische Weihe gaben.

... auch bei einigen Romantikern. Sie waren besonders aktiv im Aufspüren völkischer Ursprünge. Friedrich Schlegel verband diese Fiktionen mit einem Verständnis von der Nation als organischem Zusammenhang, als Körper. Heute würde man sagen: ethnisch homogene Einheit …

"... als eine große allumfassende Familie, wo mehrere Familien und Stämme durch Verfassung, der Sitten und Gebräuche, der Sprache, des allgemeinen Interesses zu einem gemeinschaftlichen Ganzen verbunden sind."

Demnach gibt es keine Interessen- oder Klassengegensätze - nur noch Deutsche. An diesem undemokratischen Staatsverständnis konnten die Völkischen und später die Nazis anknüpfen. Nation und Staat werden nicht gesellschaftlich gedacht, sondern "biologistisch" als Organismus, als "Volkskörper", dem sich die einzelnen Glieder letztlich unterzuordnen haben.

"Jetzt entdeckt: Germanen wanderten bis Fernost!"

So titelte die Neue Revue am 22. August 1996 und identifizierte die Kleidung gefundener Mumien als süddeutsche Tracht.

"Europäer herrschten im alten China ..."

"Bild der Wissenschaft" glaubte, "verblüffend europide" Menschenreste entdeckt zu haben. Und ein ZDF-Magazin zeigt unter kasachischen Steppenbewohnern das kleine blonde Mädchen Meiramgul und sieht in ihr eine Nachfahrin von Amazonen:

"Ihr blondes Haar suggeriert eine Art europäischer Abstammung, möglicherweise sogar von den Steppen-Kriegerinnen von vor 2000 Jahren."

Wiwjorra: "Wenn zum Beispiel in Innerasien der klassische Archäologe Herr Parzinger dort Eismumien von Skyten ausgräbt, die möglicherweise blonde Haare gehabt haben, dann mag sich hier einer sagen: Wieso? Blonde Haare, das müssen Germanen gewesen sein. Das ist doch eigentlich ein ganz klarer Fall."

Aus dem Kontext gelöste Forschungsergebnisse werden im Sinne völkischer Abstammungsideologien und Deutungsmuster interpretiert. Auch mit Hilfe populationsgenetischer Verfahren glauben Wissenschaftler, die Abstammung von Menschen rekonstruieren zu können.

Wiwjorra: "Wenn man heute sozusagen mit neuen wissenschaftlichen Methoden die alten völkischen Fragen aufklären kann, dann ist das für Menschen, die heute noch in diesen völkischen Denkmustern verhaftet sind, eine naheliegende Verführung."

Die Konstruktion vom biologischen und kulturellen Ursprung der Menschheit im Norden verbindet Abstammungsmythen mit "nordischen" Dominanzansprüchen – das alles legitimiert quasi-wissenschaftlich die Rassetheorien.

1853 publizierte der französische Historiker Arthur de Gobineau ein sehr erfolgreiches Buch mit dem Titel:

"Abhandlung über die Ungleichheit der menschlichen Rassen."

Gobineau konstruiert die Menschheitsgeschichte als Krieg zwischen den Rassen.

"Kampf ums Dasein, das Überleben des Tüchtigsten, die Auslese der Schwächeren ..."

Die Leitsätze der Evolutionstheorie von Darwin ließen sich später reibungslos mit den Spekulationen Gobineaus verbinden.

"Die Geschichte ist eine Geschichte von Rassenkämpfen."

Die "Biologisierung des Sozialen" ist ein wesentliches Element im rassistisch-völkischen Denken.

"Das Leben ist eine Notwehr; das eigene Blut will sich durchsetzen gegen das fremde; so will und wird auch das arische Blut sich durchsetzen gegen jedes andere."

So der um 1900 sehr populäre Julius Langbehn. Seine Therapie gegen den "rassischen" Niedergang und die Dekadenz lautete:

"Zurück zu den heidnischen Germanen durch Reinigung des Volkskörpers von artfremden Menschen und eine Reinigung der Volksseele von artfremder Religion und Kultur."

"Die Rasse ist nebst meiner Religion das Höchste und Heiligste, was ich besitze. Ja, meine Religion besitze ich nur durch meine Rasse ..."

Das schreibt Artur Dinter in seinem Buch "Die Sünde wider das Blut", das in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr als 20 Auflagen erlebte. Rasse, Religion, Blut und Boden verbinden sich hier mit dem Reinheits- und Ursprungsmythos.

Puschner: "Man bleibt beim Christentum, ist aber gezwungen dann natürlich auf Grund der Rassen- und Germanenideologie das Christentum zu arisieren, zu germanisieren. Und im Christentum bildet die Jesuslehre, Christus, die Grundlage, also muss ich Winkelzüge schlagen, um auf Christus als Arier zu kommen ..."

"Jesus war vielleicht nicht jüdischer Abstammung ..."

So spekulierte bereits der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Einige Völkische waren sich da ganz sicher:

"Christus war nicht Jude, weder an Leib noch an Geist."

Das Ziel war eine "Entjudung" durch eine nach der Reformation ...

"... abermalige Läuterung in freiem und arischem Geiste."

Die Germanenideologie der Völkischen führt zu einer Radikalisierung ...

Puschner: "... weil ein Großteil der Völkischen eben beim Christentum bleibt und diese deutsch-christliche Bewegung insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg sehr stark wird, sich organisiert. Schlagwort ist hier: 'Die deutschen Christen'."

Doch es gibt auch völkische Kreise, die mit dem Christentum brechen und sich vermeintlich germanischen Göttern zuwenden:

"Anbetung
Nicht den Sohn des finstren Jahve
Will ich mich zu eigen geben
Einem blonden Arier-Helden
Gilt mein Blut und gilt mein Leben."

In den heutigen rechten Szenen tummeln sie sich wieder, die Neuheiden und Anhänger einer rechten Esoterik, hier bei der rechtsextremistischen Band "Landser" eindeutig antisemitisch:

Weiter heißt es in dem indizierten Lied:

"... denn zu Kreuze kriechen, kann nichts für Arier sein."

Der Germanengott "Wotan" soll den "Judengott" Jesus ersetzen. Es ist ein antichristlicher Antisemitismus – bei heutigen Rechtsradikalen wie den "alten" Völkischen.

Der völkische Ideologe Guido von List gründete die sogenannte Ariosophie. 1933 verschwanden die religiös-völkischen Vereinigungen bzw. wurden verboten. Ihre Anhänger wurden meist in nationalsozialistische Organisationen integriert.

von Schnurbein: "Nach dem Krieg machen sich einige dieser Gruppen genau das zunutze, indem sie sich als Verfolgte des Nationalsozialismus darstellen. Andererseits haben natürlich gerade in den 50er oder 60er Jahren so kleine neugermanische Gruppen wenig Konjunktur, also, man will mit Germanisch usw. nicht viel zu tun haben."

"Jedes Mitglied der Guido-von-List-Gesellschaft muss ehrenwörtlich versichern, 'arischer Abstammung' zu sein, nur einen Ehepartner 'arischer Abstammung' zu wählen und seine Kenntnisse 'nur zum Wohle der arischen Rasse anzuwenden'."

In den 50er und 60er Jahren pflegte man seine ariosophische Weltanschauung in bedeutungslosen kleinen Zirkeln.

von Schnurbein: "Ändern tut sich das in den 1970er Jahren, wo im Zuge des verstärkten Interesses für alternative Religionen, für Esoterik und dann auch für Heidentum einige dieser Gruppen Morgenluft wittern und versuchen, Anschluss zu bekommen an diese Esoterik-Szene."

Stefanie von Schnurbein recherchierte lange Zeit in der neuheidnischen Szene, nahm an Workshops teil und wertete ihre "Feldforschung" wissenschaftlich aus. Heute ist sie Professorin für Skandinavistik an der Humboldt-Universität Berlin.

"Buch der Runen, Ruf der Runen, Runengeflüster ..."

"Runen raunen rechten Rat."

"... Runengeflüster, Elfenorakel, Magic Trips, Bekenntnis unserer Art, Hexenkraft ..."

Titel wie diese mischen mit am florierenden Esoterik-Markt.
Die Konstruktion des vermeintlich "Uralten" und "Arteigenen" mündet in Eingrenzung bzw. Ausgrenzung. Diese Denkfiguren sind nahezu identisch mit völkischen. Heutige Anhänger reklamieren für sich, mit Politik, insbesondere mit rechtsextremistischer nichts zu tun zu haben.

Politisch unverdächtig scheint auch die historische Fantasy-Literatur. Stefanie von Schnurbein fand darin Völkisches.

von Schnurbein: "Die Suche nach dem Eigenen, der eigenen religiösen Überlieferung, die irgendwie auch an Herkunft und das eigene Land und das Volk gebunden sind, die ist schon sehr stark. ... Ich würde doch sagen, dass solche als völkisch zu bezeichnenden latent oder offen rassistischen oder nationalistischen Denkmuster da schon vorhanden sind und bis heute gerade in dieser Fantasy-Literatur virulent sind."

"Kontinuität durch Dichtung. Moderne Fantasy-Romane als Mediatoren völkisch-religiöser Denkmuster."

So lautet der Titel eines Aufsatzes von Stefanie von Schnurbein, der jetzt in einem Buch erscheint, das Uwe Puschner herausgibt.

von Schnurbein: "Eines der wichtigsten Beispiele wäre jetzt gerade in Bezug auf Fantasy-Literatur und Neuheidentum das Binden von religiösen Grundmustern wie Herkunft, Erbe und Landschaft - böse ausgedrückt könnte man das natürlich als 'Blut-und-Boden'. Und das ist ein Denkmuster, das gerade im internationalen Neuheidentum verbreitet ist, dass man versucht, das Christentum oder auch andere monotheistische Religionen als letztlich fremde, aufgepfropfte Religionen zu empfinden ..."

... so wie Stephan Grundy, der mit seinem Roman "Rheingold" in den 90er Jahren auf den Bestsellerlisten landete und dem es darum ging ...

"... das Feuer wieder zu entzünden, um das Schwert unserer Ahnen neu zu schmieden und das verborgene Gold aus der Dunkelheit zu holen."

Tolkiens "Der Herr der Ringe" ist sicherlich nicht antichristlich, doch entdeckt Schnurbein darin "das deutlich rassistisch codierte Böse von schwarzen, schlitzäugigen Wesen aus dem heißen Süden", und es gibt die blauäugigen und blonden Heldenvölker.

von Schnurbein: "Gleichzeitig wird hier eine Einheit postuliert nicht nur von Herkunft und Landschaft, sondern Herkunft, Landschaft, Sprache, Dichtung und Mythos, was auch ein Grundmuster romantischen Denkens ist, zurückgehend auf Herder und Grimm, dann aber auch in völkisches Denken einfließt und da radikalisiert wird in einem deutlich rassistischen Sinne."

Nicht nur Teile der historischen Fantasy-Literatur knüpfen an völkischen Diskursen an oder bedienen diese, auch andere Mythen hatten sich scheinbar unverdächtig etabliert.

Die Gruppe "Wolfsrudel" wird dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet, nicht aber die Konstruktion einer "arteigenen" Naturheilkunde, praktiziert von heidnisch-germanischen weisen Frauen und ausgelöscht von den fremd-christlichen Männern der Inquisition.

Weidemann: "Dieser Mythos der weisen Frauen ist einfach eine literarische Fiktion der Romantik. Das kann ganz eindeutig auch Personen zugeordnet werden, also so bekannten Gestalten wie Jakob Grimm. Der kann im Grunde genommen als der Erfinder dieses Topos gelten, also der behauptet hat, die Hexen gingen auf weise Frauen zurück, und dahinter hat er wiederum Spuren einer heidnisch-germanischen, der deutsche Religion, der deutschen Mythologie vermutet. Und diese Behauptung wurde dann später, am Ende des 19. Jahrhunderts, aufgegriffen vom französischen Historiker Julien Michelet. ... Julien Michelet ist dafür bekannt, dass er den Hebammen- und Ärztinnenmythos in die Welt gesetzt hat."

Der Berliner Historiker Felix Weidemann zeichnet die merkwürdige Karriere dieser Konstruktion nach. Zuerst griffen die antichristlichen und immer auch antisemitischen Völkischen auf diesen "Hexenmythos" zurück, führten die Frauenfeindlichkeit auf das Christentum zurück ...

Weidemann: "... dann hat man die alten Klassiker wie Grimm gelesen und hat dann die Hexen und die weisen Frauen gefunden und hat gesagt, na prima, das müssen wir wieder fruchtbar machen, und daran sollen wir anknüpfen. Und dabei spielt natürlich auch eine große Rolle, dass bei Grimm diese Geschlechterbilder, die da transportiert werden, sind halt ganz eindeutig klar polar und auch dualistisch gedacht. Die Frau ist halt die Naturverbundene. Letztlich ist es der Mann, der über die Frau die Verbindung zur Natur und Religion herstellt, und das passte auch den völkischen Neuheiden ganz wunderbar in den Kram, weil die ganze völkische Bewegung war antifeministisch ausgerichtet und solche Begründungen, die die Frau wieder in den Bereich der Natur wiesen, wenn man das noch mit dem Germanentum dokumentieren konnte, passten da wunderbar rein, zumal dann noch, sozusagen als Spitze, die Behauptung aufgestellt wurde, das sei ja eine spezifisch germanische Frauenverehrung."

In der spirituellen Frauenbewegung wurden Hexen als "weise Frauen" mit uraltem weiblichem Wissen wiederentdeckt und auch den naturnahen "Ahninnen" zugeordnet.

Weidemann: "In der eher politisch ausgerichteten Frauenbewegung gab es ganz eindeutig auch diesen Hexenmythos. Da war dann eher die rebellische Variante verbreitet, Protagonistinnen wie Alice Schwarzer oder Ingrid Strobel, die haben das sehr stark bedient. Da muss man aber sagen, diese völkischen und antisemitischen Elemente, die sind eher in der religiösen oder der Frauenbewegung verbreitet, die im Allgemeinen als spiritueller Feminismus verbreitet wird. Das kam auch in den 70er Jahren ganz stark aus den USA, hat sich dann aber hier mit diesen älteren neuheidnischen Vorstellungen verbunden ..."

... und darin wird suggeriert, dass der weibliche Körper einen unmittelbaren Zugang zur Natur öffnet, eine besondere Verbindung zur arteigenen natürlichen Religion. Das aus dem Judentum hervorgegangene Christentum habe diese Verbindung gewaltsam unterbrochen.

Weidemann: "Ich würde behaupten, es gibt eigentlich kaum einen Bereich, in dem sich die historische Forschung und die populäre Wahrnehmung von einem historischen Gegenstand so weit unterscheiden wie im Falle der Hexenverfolgung."

Historiker gehen von 50.000 bis 70.000 Verbrennungen weiblicher und männlicher Hexen aus, spirituelle Feministinnen sprechen von bis zu neun Millionen. Diese Hexenmorde dienen als Beleg für gewaltsam unterdrücktes weibliches und "arteigenes" Wissen.

Weidemann: "Neugermanisch-heidnische Gruppen und auch diese spirituellen Feministinnen, die üben ganz sicher so eine Art Scharnierfunktion aus. Und die würden jetzt ganz empört darauf reagieren, wenn man ihre Vorstellungen mit rechtem Denken in Verbindung bringen würde und die wehren sich auch ganz entscheiden dagegen."

Geblieben ist leider eine ganze Menge bei rechtsradikalen Liedermachern, sehr deutlich auch im Umfeld der Black-Metal-Musik-Szene, eher verdeckt und verschoben in den heutigen Diskursen.

Kellershohn: "Man kann in der Tat auch feststellen, dass es semantische Überschneidungen gibt zwischen diesen politischen Lagern, gerade auch im Bevölkerungsdiskurs. Schönbohm zum Beispiel greift eine Formulierung auf, die im Kontext zum Beispiel der 'Jungen Freiheit' oder des 'Instituts für Staatspolitik' entstanden sind, nämlich, dass in Deutschland der Begriff 'Volk' ersetzt worden sei durch den Begriff Bevölkerung. Und damit die Substanz Deutschlands gefährdet sei."

Die "Junge Freiheit" ist ein rechtskonservatives Publikationsorgan. Das "Institut für Staatspolitik" lässt sich politisch ähnlich einordnen. Wenn in rechtskonservativen und rechtsradikalen Medien vom "deutschen Volk" die Rede ist, basiert das auf dem Gedanken einer Abstammungsgemeinschaft oder eines ethnisch homogenen Staatsvolks im Sinne des inzwischen ergänzten – "völkischen" - Staatsbürgerschaftsrechts. Auch in der derzeitigen Demografie-Diskussion bildet dieser Volksbegriff eine Art Denkmuster.

"Es geht um den Bestand des deutschen Volkes!"

"Die Deutschen sterben aus."

So titeln nicht nur rechtskonservative und rechtsradikale Zeitungen. Dabei geht es nicht allein um die sinkende Geburtenrate - oft wird thematisiert, dass vor allem die herkunftsdeutsche Bevölkerung schrumpft – sondern es geht um die kollektive Identität des "deutschen Volkes".

Kellershohn: "Das, was das Volk ausmacht und was die Homogenität des Volkes ausmacht, wird vor allem auch betrachtet in Hinblick auf die Werte und in Hinblick auf die kulturellen Umgangsformen. Insgesamt gesehen hat also eine Kulturalisierung stattgefunden des Volksbegriffs, auch des Rassebegriffs unter Umständen oder der Begriff der Kultur ersetzt den Begriff der Rasse."

Helmut Kellershohn arbeitet am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und publiziert über den "Völkischen Nationalismus".

Kellershohn: "Natürlich gibt es biologistische Vorstellungen von Volk und Rasse, natürlich gibt es die, wenn man zum Beispiel ins NPD-Parteiprogramm hineinguckt oder in offiziöse Verlautbarungen der NPD, da wird man das auch noch feststellen, ja, also, wir haben ja einen neonationalsozialistischen Flügel in der Rechten, und die argumentieren auch biologistisch."

In demografischen Publikationen wird vor allem "kulturalistisch" argumentiert. Das Schrumpfen der Bevölkerung kann, so die Argumentation, nicht durch Einwanderung ausgeglichen werden, weil dann die "deutsche Kultur" gleichsam multikulturell verwässere.

Diesen "Reinheitsdiskurs" pflegten auch die Völkischen um 1900 – und zwar ebenfalls im Hinblick auf einen Bevölkerungsrückgang.

Kellershohn: "Die Dekadenz kann sich an vielen Aspekten festmachen. Vor allen Dingen an der demografischen Fehlentwicklung, wie man so schön sagt, man spricht ja von der Volkssubstanz. Man muss überhaupt sich vorstellen, dass im völkischen Denken das Volk wie eine Person zu betrachten ist, die einen eigenen Körper hat. Dieser Körper, der muss sich vermehren. Ein wesentliches Kennzeichen der Dekadenz ist eben, dass sich das Volk nicht mehr vermehrt."

Anders als die Ahnen "tun wir’s", beziehungsweise manche Demografen, indem sie nicht die Biologie oder die Populationsgenetik bemühen, sondern die merkwürdig statisch verstandene deutsche Kultur oder Identität. Gesprochen wird dabei nicht mehr von Schicksalsgemeinschaft, sondern, wie Franz Xaver Kauffmann in seinem Buch "Schrumpfende Gesellschaft", von einem identitätskonstituierenden "Schicksalsraum."

Butterwegge: "Es wird natürlich, so konstruiert, eine Volksgemeinschaft, und man lässt deutlich durchblicken, dass Zuwanderung abgelehnt wird und eigentlich diese Problematik nicht beeinflussen und erst recht nicht lösen könne."

Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft in Köln, kritisiert völkisches Denken in den aktuellen Demografiediskursen.

Butterwegge: "Es geht um die Deutschen jetzt in einem völkischen Sinne als Schicksalsgemeinschaft begriffen. Und das ist natürlich ein Denken, was wieder hoffähig gemacht wird und was im Grunde auch eine Rechtsentwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik mit sich bringt."

Auch in der scheinbar unpolitischen spirituellen Frauenbewegung, in Berichten über populationsgenetische Forschungen, in der Esoterik, im Neuheidentum und in der Fantasy-Literatur finden sich alte völkische Denkmuster wieder.

Puschner: "Es ist Vorsicht geboten, dass solches Denken in der Gegenwart nicht umschlagen kann in ein radikales völkisches Denken, was wiederum anschließt an Denkfiguren, die wir eben seit dem frühen 20. Jahrhundert kennen."