Urgrund des Menschen?

Von Michael Hollenbach · 06.09.2008
Seit Jahrtausenden fragen Philosophen und Theologen, Psychologen und Hirnforscher nach dem, was die Seele sein könnte. Noch immer taucht 'die Seele' in zahllosen Gedichten, Redewendungen und Lieder auf. Und doch: der Begriff ist uns fremd geworden.
Christian Thies: "Haben Sie schon mal von Sokrates gehört? Sokrates ist auf den Marktplatz in Athen gegangen und hat die Leute da überrascht mit einfachen Fragen wie: 'Was ist Tapferkeit?', 'Was ist Gerechtigkeit?'"

Christian Thies mischt sich am Kröpcke, dem Zentrum Hannovers, unters Volk. Der stellvertretende Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie, einer Stiftung der katholischen Kirche, will seine Erkenntnisse nicht nur aus Büchern gewinnen, sondern im direkten Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern.

"Und meine Frage ist: Haben Sie eine Seele?
Ich hoffe es.
Warum hoffen Sie es?
Weil ich auch hoffe, dass es Gott gibt.
Hoffen Sie auch, dass Ihre Seele Ihre körperliche Existenz überdauert?
Ja, aber das halte ich schon für eine größere Hoffnung."

Seelenruhig, die Seele baumeln lassen, eine gute Seele, Allerseelen, seelenlos, auf der Seele brennen, Angst essen Seele auf …

So lautet die Definition in Meyers Lexikon: Seele – das geistige Leben spendende Prinzip im Menschen. Die sublimste Form der Seelenvorstellung ist die 'Ich-' oder 'Egoseele', die als Geist, Wille oder Gemüt eines Menschen verstanden und gewöhnlich im Kopf oder im Herzen lokalisiert gedacht wird. Diese Seelenvorstellung nähert sich am ehesten derjenigen der christlichen Theologie, die die Seele als von Gott geschaffene geistige und unsterbliche Lebensform des Menschen ansieht.

Aber ist die Seele nicht ein etwas verstaubter, antiquierter Begriff?
Nein, meint die 17-jährige Hanna Bonnekow. Die Magdeburgerin hat sich mit anderen jugendlichen Preisträgern des Wettbewerbs "Jugend denkt" mit philosophischen Problemen beschäftigt und ist auch der Frage nachgegangen, ob es eine Seele gibt:

Hanna Bonnekow: ""Wir sind ja nicht nur Körper, was zu uns gehört, was uns so besonders macht. Ich denke, dass die Seele da eine große Rolle spielt, das ist das, was uns zum Menschen macht. Wie definiert man überhaupt Seele? Das fehlt mir ein bisschen. Das ist ein vielschichtiger Begriff. Ich würde jetzt damit meinen Geist verbinden und meine Gefühle und meine Einstellungen, aber andere Leute sehen da vielleicht irgendwelche – keine Ahnung, das ist halt so."

Vera Kieditz: "Eigentlich glaube ich nicht an so was wie eine Seele, sondern nur dass das auf dem Zusammenspiel der organischen Funktionen beruht, und dass so was wie Seele nur ein Mensch ausdenken kann. Nein, glaube ich nicht."

Stefan Wojtowitsch: "Das kommt auf die Definition von Seele an. Wenn man eine Seele als Bewusstsein, als Charakter bezeichnet, ja. Wenn man die Seele als unsterblichen Logos sieht, nein. Es gibt nichts, was den Körper überlebt."

Doch nein! der Seele Jubel ist Ewigkeit!
Jehova sprachs! ihr Jubel ist Ewigkeit!
Sein Wort ist ewig, wie sein Name,
Ewig ist, ewig des Menschen Seele.


Dichtete einst Friedrich Hölderlin in seiner "Unsterblichkeit der Seele".

So singt ihr nach, ihr Menschengeschlechte! nach
Myriaden Seelen singet den Jubel nach -
Ich glaube meinem Gott, und schau' in
Himmelsentzückungen meine Größe.


Und, wie ist das mit der Unsterblichkeit der Seele?

Jugendliche: "Das ist jetzt eine sehr persönliche Frage, na ja, ich bin ein sehr positiver Christ und ich sage: ja, ich glaube daran."

Horst Hirschler: "Da müssen wir erst mal an Gott glauben, das kann man nicht anders denken."

Sagt Horst Hirschler, der Altbischof der hannoverschen Landeskirche. Zu Luthers Zeiten war das mit der Seele ja noch einfacher. Luthers katholische Widersacher propagierten den Ablasshandel im 16. Jahrhundert mit dem Spruch:

Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.

Die Hinterbliebenen zahlen für die Sünden der Verstorbenen, damit die das ewige Seelenheil erlangen.
Immerhin: noch heute lässt sich die Kirche die Messen bezahlen, wenn der Priester für das Seelenheil der Verstorbenen beten soll. Die Frage nach dem Seelenheil und der Unsterblichkeit der Seele lässt sich aber nicht so einfach beantworten, meint Altbischof Horst Hirschler:

"Das Ich ist vergänglich. Aber wenn jemand fragt: gibt es nicht doch was Absolutes? Natürlich, sage ich, ist da was Absolutes, aber das besteht nur in der Gottesbeziehung. Was ich denken kann, dass dieses Ich, was ich bin, und was ein Verhältnis zu Gott gehabt hat, dass dieses Verhältnis zu Gott nicht verschwindet, das heißt, ich hänge die Unsterblichkeit der Seele nicht an den Menschen, sondern an Gott."

Genesis, Kapitel 2, Vers 7.: "Gott ging daran, den Menschen aus Staub vom Erdboden zu bilden und in seine Nase den Odem des Lebens zu blasen, und der Mensch wurde eine lebende Seele."

Bekenntnisse einer schönen Seele, ein Herz und eine Seele, Seelenamt
mit Leib und Seele, Seelsorger, große Seelen dulden still, Schaden an der Seele nehmen, …



Lange Zeit war man – mit Homer – der festen Überzeugung, mit dem Tod entweiche die Seele aus dem Körper des Verstorbenen. Pseudowissenschaftlich untermauert wurde diese Ansicht mit der Erkenntnis, dass der Körper unmittelbar nach dem Tod an Gewicht verliert. Der Philosophieprofessor Günter Mensching:

"Das gehört zu den Methoden, die Seele zu verdinglichen, das ist sicherlich aussichtslos, ob das nur ein bisschen noch ist an Gewicht. Ich fürchte, das sind ganz andere Stoffe, die dann verschwinden, jedenfalls nicht die Seele."

Jugendliche: "Die Seele, die ist bei jedem Menschen unterschiedlich, jeder hat was anderes in seiner Seele, aber es ist auch was ganz besonderes, was die Menschen auch auszeichnet. Ich glaube, dass es so was gibt. Ich glaube, dass es so im Herzen verankert ist und da unsere Gefühle ausdrückt."

"Ich denke, das würde dem Wesen der Seele widersprechen, in ihrer schillernden Art zu sagen: Da ist sie."

Sagt die Schriftstellerin und Lyrikerin Gyde Callesen.

"Das ist derselbe Ansatz wie beim Begriff Gott, denke ich: zu sagen, der sitzt im Himmel oder zu sagen, der sitzt sonst wo. Ich glaube, es geht gerade darum, das sein zu lassen und fliegen zu lassen."

Günther Mensching: "Descartes hat das angenommen, dass sie an der Zirbeldrüse ihren Ort habe, aber die Lokalisierung der Seele im Herzen oder in den Körpersäften, das ist natürlich ausprobiert worden und ist als solches fehlgeschlagen. Anders sieht es schon aus, indem man mit Aristoteles sagt: die Seele ist die Form des Körpers, und ganz in jedem Teil desselben, so dass der Körper doch als Ganzheit aufgefasst wird, und dort sicher als ein beseelter Körper zu nehmen ist, die Seele abzuziehen ist nicht möglich ohne die Identität des Körpers zu zerstören."

Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.

Ähnlich wie Novalis ist auch für den Philosophen Christian Thies die Seele etwas, was sich vor allem im Zwischenmenschlichen festmachen lässt:

"Ich glaube, dass wir in menschlichen Interaktionen, in Gesprächen, in zwischenmenschlichen Beziehungen, dass dort der Begriff des Seelischen, das darauf nicht verzichtet werden kann, weil wir uns auch nicht nur als Anhäufung von Milliarden von Atomen betrachten können, sondern auch das Seelenhafte an uns und an anderen wahrnehmen."


"Die Seele ist ein sehr schillernder Begriff mit vielen Bedeutungsebenen, das ist so für mich, als hätten man eine Frucht mit vielen, vielen Schalen, wo man immer in eine neue Ebene kommt, es ist so eine Art Urgrund, eine schöpferischer Wesensgrund, wo ich zum Wesentlichen, zum Eigentlichen gelangen kann."

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Gyde Callesen versteht die Seele als eine Art Urgrund des Menschen:

"Man könnte das als Wesenskern beschreiben, vielleicht das Unzerstörbare, ich bin der Überzeugung, dass es irgendwo einen Kern gibt, der heil bleibt, egal, was geschieht, und im Zweifel geht's auch darum, sich auf die Suche zu machen danach. Aber da die Seele auch immer ein Geheimnis um sich hüllt, ist es ganz schwierig, danach zu greifen: weil sobald man danach greift, verschwindet es schon fast wieder."

Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Seele, vergiss es ja nicht!
Nun hat die liebe Seele ruh, Seelenverwandtschaft, Eine Seele von Mensch
Sich die Seele aus dem Leib schreien, Seelenmassage, Wie der Teufel hinter der armen Seele her sein, Von der Seele reden, Durstige Seelen, …


Doch die Seele hat es zurzeit schwer. Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer halten das, was Philosophen oder Theologen Seele nennen, für nicht viel mehr als eine neurobiologische Ableitung. Die Seele, so das Credo der Naturwissenschaftler, lasse sich im Körper nirgendwo aufspüren. Gerhard Roth schreibt in einem Aufsatz:

Das Seelische ist ein physikalischer Zustand eigener Art, das heißt, ein Zustand, der den Naturgesetzen nicht widerspricht und aufs Engste mit bekannten physikalischen (chemischen, physiologischen) Zuständen interagiert, ohne dass seine spezifischen Gesetze bereits hinreichend bekannt sein müssen.

Dem entgegnet Christian Thies:

"Ich glaube, dass man den Begriff Seele anders verstehen muss: Man darf ihn nicht ontologisch verstehen, nicht als Substanz, sondern das, was sich mit Seele verbindet, ist etwas, was man als Aspekt des Wesen des Menschen begreifen sollte, was sich nicht durch naturwissenschaftliche Forschung begreifen lässt. Iim Prinzip ist im Moment die Theorie der Wirklichkeit naturwissenschaftlich geprägt"

Hinderk Emrich, Neurobiologe, Psychiater und Philosoph:

"Das heißt, auch Philosophie ist geprägt von einer fast religiösen Anbietung naturwissenschaftlicher Ergebnisse, da muss man als Philosoph warnen, auch als jemand, der selber Neurobiologe ist, überspannt doch nicht die Resultate und Interpretationen von dem, was ihr da gemacht habt, überlegt doch mal, was das für Folgen hat, wenn man den Leuten erklärt, die Wirklichkeit dessen, was wir sind, was wir repräsentieren, ist rein neurologisch bedingt, Gehirne sind das, was Seele ausmachen und im Grund brauchen wir auch kein Strafgesetzbuch mehr, weil das alles Konventionen sind, die neurobiologisch in uns ausgehandelt werden. Überlegt euch doch mal die Folgen von dem, was ihr da redet."

Hinderk Emrich wendet sich gegen eine rein naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Seele. Er warnt vor einem neuen Funktionalismus, der in einer seelenlosen Gesellschaft enden könne:

"Der Funktionalismus, der bedeutet eben Folgendes: Alles, was in unserem Leben funktioniert, kann man optimieren. Und wenn Sie sich eine Wertewelt vorstellen, in der es nur noch um die Optimierung der Funktionen geht, das es nur noch darum geht, möglichst schnell, möglichst preiswert, möglichst optimal eine Störung zu behandeln und überhaupt nicht mehr nach der Frage gehen, was steckt da für ein Wesen dahinter, worum geht es eigentlich, was ist die Gesamtpersönlichkeit, dann kommen Sie in einen Zustand über den Funktionalismus der Entseelung."

Ob die Seele nur eine Illusion sei, die lediglich auf neurobiologischen Mechanismen beruhe; oder ob ihr etwas Wirkliches zugrunde liege, das sei vielleicht nur eine Geschmacksfrage:

Hinderk Emrich: "Nur für unsere Kultur kann diese Geschmacksfrage verhängnisvolle Konsequenzen haben, weil ich in einer entmetaphysierten Wirklichkeit, die zu einer nihilistischen Wirklichkeit wird, keine Regularien mehr vorfinde, um bestimmte Entfremdungen, Entseelungen noch aufzuhalten."

Eine schwarze Seele, Die Seele aushauchen, In tiefster Seele
Seelenfrieden, Seelenruhe.


Voltaire hatte Mitte des 18. Jahrhunderts keine Hoffnung, mehr über die Seele in Erfahrung bringen zu können: "Seele nennen wir, was mit Leben erfüllt. Mehr wissen wir leider nicht, weil unser Verstand beschränkt ist. Drei Viertel der Menschheit geht darüber nicht hinaus und hat an der Seele kein Interesse, das andere Viertel sucht und findet nichts, noch wird jemals irgendjemand etwas finden."

Aber der Philosoph Christian Thies hat bei seinen Befragungen am hannoverschen Kröpcke herausgefunden, wie man doch mehr über die Seele herausfinden kann. Der Tipp einer Passantin:

"Im Internet findet man alles."

Nämlich genau 21,6 Millionen Einträge beim Googeln nach der Seele.