Urbanistin Noa Ha

Die Stadt vom Kolonialismus befreien

08:08 Minuten
Westfassade des Humboldtforums in Berlin Mitte.
Eine Entscheidung, die mit Kolonialismus zu tun hat, kritisiert Urbanistin Noa Ha, und meint den Umzug der historischen Berliner Sammlungen ins Humboldtforum. © Bildagentur-online/ Joko
Moderation: Ute Welty · 06.06.2020
Audio herunterladen
Die koloniale Vergangenheit Europas spiegelt sich in Straßennamen und Gebäuden wider. Oft sind sie nicht einmal alt. Nach 1990 habe die Stadtplanung den Kolonialismus relativiert, sagt die Urbanistin Noa Ha. Ihr Beispiel: das Berliner Humboldtforum.
Ute Welty: Das koloniale Erbe wiegt schwer, das hat auch die Denkfabrik von Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Nova und Deutschlandfunk Kultur festgestellt – zusammen mit vielen, die uns zuhören. Ausführlich widmen wir uns dem Thema nach 9 Uhr, zumal heute das digitale "Latitude-Festival" vom Goethe-Institut endet. Und wie der Name sagt, der Veranstalter will in die Breite gehen. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner, und Urbanistin Noa Ha engagiert sich ebenfalls bei "Latitude". Sie leitet das Zentrum für Integrationsstudien der TU Dresden mit Perspektive auf die Folgen von Kolonialismus und Rassismus. - Welche Spuren des Kolonialismus entdecken Sie, wenn Sie durch Dresden laufen?
Noa Ha: Es gibt ganz viele. Ich glaube, bevor ich zu den Spuren etwas sage, würde ich, wie Sie vorhin schon sagten, bezogen auf den Kolonialismus in die Breite gehen, von den kolonialen Vermächtnissen in den Städten sprechen. Das heißt, wir sehen ganz konkret Straßennamen, Gebäude.
Wenn man von dort aus weitergeht und sich dann damit fragt, wie Gesellschaft und Stadtgesellschaft organisiert ist, sieht man das nicht nur an den Häusern.
Sondern man muss sich auch fragen, wo kam der Reichtum in den Gebäuden her, wie sind Städte organisiert, wo leben zum Beispiel migrantische Nachbarschaften und so weiter. In Dresden gibt es so ein paar Hinweise vor allen Dingen auch, das finde ich interessant, zu den ganzen postkolonialen Straßennamendebatten. Auch so ein paar Straßennamen wie zum Beispiel den von Patrice Lumumba, der jetzt ein antikolonialer Kämpfer war, aber ein Straßenname, den man in Westdeutschland nicht antreffen würde. Das heißt, man hat in Dresden auch ein anderes postkoloniales Erbe, weil in der DDR die Kolonialgeschichte anders verhandelt wurde. Und dieses auch mit einzubeziehen, wenn wir über die koloniale Geschichte oder auch Vergangenheitsbewältigung sprechen, dass es da andere Ausgangspunkte gibt.

Straßennamen spiegeln die "Normalität" des Kolonialismus

Welty: Sie haben die Debatte über bestimmte Straßennamen angesprochen, die wird unter anderem in Berlin geführt. Freiburg hat schon vor acht Jahren eine entsprechende Analyse vornehmen lassen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Ihnen das reicht.
Ha: Genau, das reicht nicht. Die Straßennamen, die Umbenennung der Straßennamen, die ja leider doch sehr hart ausgefochten sind. Wenn man sich das anschaut in Berlin, bis überhaupt das May-Ayim-Ufer umbenannt werden konnte, da sind ja wirklich jahrelange Debatten vorausgegangen. Das war keine einfache Umbenennung. Ich denke, daran kann man ermessen, wie tief die Normalität von Kolonialismus und auch Rassismus in der deutschen Gesellschaft ist.
Und es ist zugleich nur ein Anfang, ein symbolischer Akt, weil wir uns tatsächlich damit befassen müssen, wer hat vom Kolonialismus profitiert, damals bis heute, auch nach dem formalen Ende, und wer wird darauf aufgrund dieser Erben marginalisiert, wem werden die Ressourcen nicht bereitgestellt. Und deswegen würde ich auch eher von einer Kolonialität reden, in der wir mit den heutigen Verhältnissen in den Städten dann konfrontiert sind.
Welty: Man kann sich ja des Eindrucks nicht erwehren, dass sich gerade Deutschland schwertut im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit. Ich drücke das jetzt etwas plastisch aus, aber sind da die Ressourcen für die Aufarbeitung durch den Nationalsozialismus quasi aufgebraucht?
Ha: Nein, das würde ich so nicht sagen. Tatsächlich ist die Aufarbeitung sehr schwer, aber ich finde, wir sind im Moment an einem Wendepunkt, dass wir langsam anfangen, darüber nachzudenken, dass es da möglicherweise Bezüge gibt zwischen Nationalsozialismus und dem Kolonialismus. Wie diese historischen Bezüge auch aussehen, also nicht mehr nur die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch im Zuge auch von anderen Genoziden.
Da verändert sich etwas in der historischen Betrachtung, und wir haben eine jüngere Generation und auch andere Menschen im Land, die ihre Geschichte einfordern, die möglicherweise gar nicht so sehr aus so einer Täterperspektive sich mit dieser Geschichte befassen, sondern aus einer Opferperspektive oder aus einer ganz anderen Perspektive.

Ein grundsätzliches europäisches Problem

Und deswegen haben wir auch diese Deutungskämpfe, die wir jetzt beobachten, auch erinnungspolitisch. Und ich würde fast sogar sagen, im europäischen Vergleich gibt es in Deutschland eine Form der Vergangenheitsbewältigung, auch bezogen auf die nationale Identität, auf die nationale Geschichte. Und es ist in Deutschland klar: Es hat Verbrechen gegeben, das waren auch nationale Verbrechen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, das ist extrem unangenehm. Das ist etwas, was in Deutschland auch relativ schnell die Leute begreifen, wenn wir über Kolonialismus reden.
Wenn ich mir zum Beispiel die Niederlande anschaue, ist das Ansprechen von Kolonialismus fast noch schwieriger, weil es so sehr erzählt wird als eine gute Geschichte, als eine gute Zeit, die man damals hatte, man hat den Menschen etwas gebracht. Und wenn man die Kämpfe der postkolonialen Migrantinnen in den Niederlanden sich anschaut, ist es extrem schwer, koloniale Tradition überhaupt anzusprechen. Da wird man mit sehr viel Gewalt – von den Zwarte-Piet-Debatten bis zu Ausschlüssen – konfrontiert. Und das finde ich dann auch im europäischen Vergleich schon schockierend. Und da denke ich so, da ist in Deutschland doch ein bisschen mehr möglich. Und ich würde sagen, für Europa ist es ein grundsätzliches Problem, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Problem.
Welty: Warum gibt es aber trotzdem gerade jetzt ein so großes Interesse an der Debatte übers koloniale Erbe, 60 Jahre nachdem viele afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit errungen haben?
Ha: Ja, das ist eine gute Frage. Ich würde gar nicht so sehr die 60 Jahre in den Blick nehmen, sondern was ich beobachtet habe, ist eine Zäsur nach dem Ende des Kalten Krieges, wie auch die globale Ordnung sich neu organisiert hat. Und das konnte ich auch in verschiedenen Stadtplanungen sehen durch Europa hinweg, dass man mit Beginn der 90er-Jahre versucht hat, eine neue Erzählung der Globalisierung zu etablieren.

Der Kolonialismus wurde nach 1990 relativiert

Und eine erste war der Kolonialismus: Da gibt es in vielen Stadtplanungen, gerade so repräsentationspolitisch, viele Bezüge auf den Kolonialismus, das ist das, was wir in Berlin kennen mit dem Bezug auf Humboldt, Humboldthafen, Humboldtforum, das sind ja viele neue Marker, die in die Stadt eingeflossen sind, man kennt das von Hamburg mit der Hafencity. Die Expos in Sevilla und Lissabon Anfang der 90er haben sich auf diese Geschichte der Entdeckung bezogen.
Und da hat eine Geschichte eingesetzt, den Kolonialismus zu relativieren beziehungsweise die Gewalt und auch den Rassismus, den wir ja bis heute und gerade in diesen Tagen sehr deutlich sehen, zu entnennen, das nicht zu nennen. Und das ist jetzt auch eine jüngere Generation, die sagt, das ist nicht in Ordnung. Da wird etwas nicht erzählt, nicht problematisiert, und das will man jetzt auch thematisieren.
In Berlin können wir das ja sehr anschaulich sehen, man hat eben nach der Wiedervereinigung sich entschieden, ein Schloss in die Mitte der Stadt zu bauen, was jetzt das Humboldtforum werden soll mit der Entscheidung, die historischen Sammlungen aus der Berliner Peripherie in die Mitte zu setzen. Man hat damals bei der Entscheidung nicht darüber nachgedacht, dass das etwas mit Kolonialismus zu tun haben könnte.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema