Urbane Dörfer

Auf dem Land leben, digital vernetzt arbeiten

08:05 Minuten
Ein Laptop, mit einem Smartphone darauf, steht auf einem Holzpfeiler in einer grünen Lanschaft.
Hoffnung für ländliche Regionen: Die Digitalisierung ist wie ein Umzugshelfer raus aus der Stadt. © imago images / photothek / Florian Gaertner
Von Philip Banse · 03.09.2019
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Dutzende dieser Projekte gibt es bereits rund um Berlin und Leipzig: Städter sanieren in Dörfern marode Gebäude, um dort naturnah zu leben – und dank digitaler Infrastruktur auch zu arbeiten. Der Zuwachs könnte ganze Regionen neu beleben.
"Sie stehen auf meiner Terrasse gerade! Westseite, Abendsonne, Sonnenuntergang!" Andreas Bräuer lässt den Blick schweifen über den großen Garten, an den Bäumen vorbei auf die Wiesen. Er steht im vierten Stock einer Landvilla, Baujahr 1902. 1000 Quadratmeter Wohnfläche, 7000 Quadratmeter Garten, am Rand von Oranienburg vor den Toren Berlins. Das Wohnprojekt "Annagarten".
Wie ist Andreas Bräuers Gefühl? "Vorfreude",.sagt er. "Ich freue mich wirklich total drauf, dass wir bald hier einziehen. Ist wirklich super. Ich ziehe nächste Woche ein. Der Rest zieht in den nächsten Wochen ein."

Mit Freunden eine Genossenschaft gegründet

Vor fünf Jahren hat Andreas Bräuer mit Freunden das stark sanierungsbedürftige Landhaus entdeckt. Sie gründeten eine Genossenschaft, warben Mitglieder, kauften das Haus für knapp 400.000 Euro, fanden Handwerker, bauten das Dach aus, sanierten viel selbst.
Noch schleift die Sozialarbeiterin Meriam Khalidi die riesige Kücheninsel ab, noch fehlt die zentrale Treppe, aber das Ende ist in Sicht: Acht schöne, helle Wohnungen, eine riesige Gemeinschaftsküche mit Terrasse zum Garten. 27 Erwachsene und zwölf Kinder werden hier einziehen. Kaltmiete im Schnitt: 6 Euro.

Lust auf eine "sinnvolle Stadt-Land-Beziehung"

"Der allerwichtigste Punkt war, in einer Gemeinschaft leben zu wollen. In Berlin gibt es nichts mehr, was man zu bezahlbaren Mieten noch zusammenbauen kann. Und wir haben das hier gefunden. Und dann haben sich die Leute gefunden, das sind großartige Leute, und es ist trotzdem noch nah genug an Berlin, dass ich da arbeiten kann."
"Mein Motiv: Erstens Bock auf gemeinschaftliches Wohnen. Zweitens: Bock auf eine sinnvolle Stadt-Land-Beziehung. Die Metropole ist gut erreichbar, trotzdem haben wir Natur um uns herum. Drittens: Ich habe Bock auf alte Häuser."
Andreas Bräuer steht vor einer alten Villa, die gerade noch saniert wird.
Voller Vorfreude: Andreas Bräuer steht vor dem Wohnprojekt "Annagarten" am Rand von Oranienburg.© Deutschlandradio / Philip Banse
"In so einem Projekt zu wohnen, mit vielen Leuten unter einem Dach, wo man sich im Konsens organisiert und irgendwie auch das Leben organisiert, ist für mich eigentlich die nächste Evolutionsstufe von Zusammenleben."
Richard wird im Haus mit seiner Freundin und zwei Kindern wohnen.

Zweimal pro Woche mit dem Zug nach Berlin

Jetzt sitzt er im Garten, das Notebook auf dem Schoß. Er verwaltet die Computersysteme von Firmen, kann viel zu Hause arbeiten – wenn das Internet geht. Zweimal pro Woche muss er mit dem Zug nach Berlin, um sein Team zu treffen.
"Da ist wieder LTE das Problem, da muss ich wieder zum anderen Provider wechseln, damit ich auch im Zug Internet habe. Aber dann kann man da direkt anfangen zu arbeiten."
Auf dem Land wohnen, in der Stadt arbeiten, ein Modell mit Zukunft? Reiner Klingholz ist dieser Frage nachgegangen: "Diese Studie geht der Frage nach, ob wir jetzt, wo wir bald schon eine schnelle Internetleitung an jeder Milchkanne aufspüren werden können, und wenn die Menschen nicht mehr alle ortsgebunden arbeiten müssen, ob es dann zu einer Trendwende bei der klassischen Landflucht kommt."

Städter sanieren marode Gebäude

Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat – gefördert vom Bundeswirtschafministerium – 19 urbane Siedlungen untersucht, Projekte wie den Annagarten in Oranienburg, Projekte, bei denen Städter marode Gebäude auf dem Land saniert haben, um dort zu wohnen und zu arbeiten.
"Silvia Hennig, ich bin die Gründerin von Neuland21." Einem Verein, der solche Dorfbesiedlungen unterstützt. Silvia Hennig nennt diese Ansiedlungen von Städtern auf dem Land nicht Speckgürtel, sondern Speckwürfel:
"Speckwürfel entstehen eben, wenn sich solche Digitalarbeiter im ländlichen Raum niederlassen auch abseits der Metropolen, weil sie dort dynamische Effekte, die sie auslösen - sie machen diese Region attraktiv: Durch Angebote, die sie schaffen, durch die Tatsache, dass sie einfach da sind. Das zieht immer noch mehr Leute an. Und das setzt in manchen Orten eine Aufwärtsspirale in Gang - und dann entstehen solche Speckwürfel."

Die Neubelebung betrifft nicht nur einzelne Dörfer

Also Kristallisationspunkte für die Neubelebung eines Dorfs oder einer ganzen Region. Die Städter bringen – wenn es gut läuft – junge Menschen, neue Technik, Jobs und gute Ideen.
So will Richard, der Computer-Mensch aus dem Oranienburger Annagarten, seine Nachbarn mit schnellem Internet versorgen: "Genau. Wir haben vielleicht Glück. Da hinten überm Feld, ganz hinten, da liegt Glasfaser, weil da eine Gas-Pipeline liegt. Und da haben sie Glasfaser mit reingelegt in den Boden. Und wir würden versuchen, anzustreben, das auch zu bekommen."
Solche Projekte können auch helfen, die dörflichen Ureinwohner zu begeistern für die urbanen Siedlungen in ihrer Nachbarschaft.
Andreas Bräuer, der Mitgründer der Villa Annagarten erzählt: "Ich bin jetzt in der WhatsApp-Gruppe der Siedlung mit irgendwie 70 Leuten. Und letzten Monat gab es ein Nachbarschaftsfest, das hier auf dem Nachbargrundstück war. Also da gibt es schon Nachbarschaftlichkeit."

"Speckwürfel" rund um Berlin und Leipzig

Vor allem um teure Metropolen wie Leipzig und Berlin entstehen Dutzende solcher Ansiedlungen, sagt Reiner Klingholz vom Berlin-Institut, teilweise mit 60 oder mehr Menschen. Aber können solche Projekte die Landflucht wirklich stoppen?
Forscher Klingholz kann das noch nicht beantworten: "Wir wissen nur, dass etwas Spannendes passiert, dass neue Menschen mit neuen Ideen sich für das Leben auf dem Land entscheiden oder gerade dabei sind, das zu tun. Was daraus wird aus diesem durchaus sichtbaren Potential, das muss man abwarten, aber das kann einmal mehr werden."
Die Bewegung sei ein zartes Pflänzchen, das Bund und Bürgermeister pflegen und fördern sollten, sagt Beraterin Silvia Hennig vom Verein Neuland21. Kommunen sollten sich offen zeigen, Städtern bei der Ansiedlung helfen – vor allem mit Gebäuden.

Digitale Infrastruktur ist der Umzugshelfer aufs Land

"Viele haben vor Ort, oft sogar im Ortskern, wirklich große, kommunale Liegenschaften", sagt Silvia Henning, "die verfallen und den Ortskern verschandeln. Für solche Bauten interessieren sich diese digitalen Arbeiter, diese Stadtwanderer. Gebt ihnen Ruinen! Das ist das, wonach sie suchen und das sollte man besser anpreisen."
Außerdem müsse der Staat endlich, endlich für eine gute Internetanbindung sorgen: "Das digitale Arbeiten ist der Umzugshelfer, der Menschen auf das Land zurückbringen kann."
Eigentlich hätte Deutschland in Sachen schnellem Internet längst zu Ländern wie Litauen oder Rumänien aufschließen wollen, sagt Manuel Slupina vom Berlin-Institut: "Trotz aller Absichtserklärungen der letzten Jahre aus der Politik, ist dies leider nicht überall der Fall."
Auch müsse der öffentliche Personen-Nahverkehr in der Provinz ausgebaut werden. Die Sozialarbeiterin Meriam Khalidi muss aus Oranienburg vier Mal pro Woche nach Berlin reinfahren: Erst 20 Minuten mit dem Rad zum Bahnhof, dann noch mal 30 Minuten mit dem Regionalzug in die Stadt.
"Aber ich erinnere mich an meine Schulzeit", erzählt sie. "Da hatte ich auch mal eine Zeit lang eine Stunde, und davon war eine halbe Stunde Fahrrad. Das war eigentlich ganz gut. Morgens aufstehen, kalte Dusche, aufs Fahrrad steigen, zum Bahnhof fahren. Das ist auch geil."
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