Uraufführung

Vor dem Sturm

Halle der Ruhrfestspiele in Recklinghausen, Blick vom Boden auf ein Glasgebäude, im Vordergrund eine Skulptur
Halle der Ruhrfestspiele in Recklinghausen © dpa/picture alliance/Jan-Philipp Strobel
Von Ulrich Fischer · 31.05.2014
In Nis-Momme Stockmanns neuem Theaterstück "Phosphoros" geht es ums Ganze und um das Leben. Es zeigt: ein Problem zwischen zwei Ehepartnern kann auch als gesellschaftliches Problem verstanden werden.
Phosphoros heißt in der altgriechischen Mythologie der Gott des Morgensterns – der Venus. Sie ist gleichzeitig der Abendstern. So umfassend wie der Planet Tag und Nacht begleitet, so umfasst auch das gleichnamige neue Schauspiel von Nis-Momme Stockmann das menschliche Leben.
Nis-Momme Stockmann, 1981 auf Föhr geboren, gehört zu den erfolgreichen Schriftstellern seiner Generation. Er schreibt Gedichte und Geschichten, Hörspiele, Drehbücher, vor allem Stücke. Im letzten Jahr erregte die Uraufführung von "Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir" Aufsehen, nicht zuletzt, wegen des ausladenden Formats des Schauspiels - es erfordert viele Schauspieler und dauert mit über vier Stunden länger als die meisten anderen Stücke.
Das ist auch bei seinem neuen Stück "Phosphoros" ähnlich. Das große Format hängt mit dem Stückgegenstand zusammen, es geht ums Ganze, um das Leben.
Das Schauspiel
In einer der ersten Szenen fragt ein Physikprofessor seine Studenten nach dem Wesen der Zeit. Das Schauspiel nimmt Lew, den Gelehrten, dann genauer unter die Lupe. Er ist ein Egomane und hat Streit mit seiner Frau.
Eine seiner Studentinnen muss ihren Unterhalt als Brezelverkäuferin in einem ICE verdienen. Stockmann lässt weitere Figuren folgen, einen Kontrabassisten in der Krise, einen musischen Empfangschef in einem kleinen Hotel usw.
Zunächst stehen die Geschichten dieser Zeitgenossen unverbunden nebeneinander, dann verflicht Stockmann die einzelnen Handlungsstränge miteinander. Das Schauspiel wird immer unübersichtlicher, dazu braut sich über der Nordsee ein Sturm zusammen.
Die Inszenierung
Regisseurin Anne Lenk und ihr engagiertes, spielfreudiges Ensemble nehmen diese Unübersichtlichkeit als Herausforderung für ihre Uraufführung an. Judith Oswald hat die Szene bis auf einen riesigen, vom Schnürboden mitten über der Simultanbühne hängenden Scheinwerfer fast ganz kahl gelassen – die Schauspieler müssen die Situation aus dem Nichts erspielen. Und nicht nur, dass neun Akteure (5) und Aktricen (4) sechzehn Rollen spielen müssen, sie bekommen zusätzlich noch Sonderaufgaben; einen Kontrabass spielen, den sich zum Orkan steigernden Wind darstellen, und fast alle müssen einen Hund verkörpern: Zunge raus, hecheln, kläffen, beißen.
Das Publikum muss aufmerksamst aufpassen, um der rasend schnell sich entwickelnden Handlung zu folgen und von Szene zu Szene zu springen – das Spiel entfaltete Humor, das Publikum lachte häufig bei der Uraufführung am Samstagabend in Recklinghausens Halle König Ludwig1/2, einer auf Uraufführungen spezialisierten Nebenspielstätte der Ruhrfestspiele.
Wenn die Figuren auch ganz unterschiedlich sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie leiden unter ihren Lebensumständen. Der Dramatiker wie die Uraufführungsregisseurin lassen die Frage offen, ob die Einzelnen schuld an ihrer Misere sind oder die Umstände. Am Ende steht der Appell, sich nicht in die Passivität abdrängen zu lassen - es geht darum, die Initiative zu ergreifen.
Stärken des Stücks sind das große Thema, die Vielfalt der Handlungsstränge und Figuren, das Stück ist interessant, unterhaltsam, mitunter kurzweilig - dann aber auch wieder mit Anspruch überfrachtet, wenn es um die Erörterung physikalischer Begriffe von Zeit geht. Schwächen des Stücks sind von den Stärken kaum zu scheiden: die Vielfalt strengt die Zuschauer an, die Fülle grenzt, gerade bei philosophischen Vertiefungen, an Überforderung.
Der Rat, tätig zu werden, die Passivität, die Lähmung zu überwinden, ist zweifellos gut - aber, ob die Kräfte reichen, die Krise zu bewältigen, in der sich die einzelnen befinden?
Guter Rat
Eine Kritik ist besonders überzeugend gelungen: die Kritik am Egoismus. Lew, der Mathematikprofessor, befürchtet, an Krebs erkrankt zu sein - deshalb verlangt er von seiner Frau besonders viel Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe. Die will aber auch Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe. Jeder fühlt sich vom andern vernachlässigt.
Hier wäre dringend notwendig, dass einer auf den anderen zugeht - aber keiner hat Kraft oder Lust, den ersten Schritt zu tun. Jede/r vermutet, Verlierer zu sein oder zu werden - ohne zu merken, dass sie oder er es schon ist.
Das Problem zwischen zwei Ehepartnern kann auch als gesellschaftliches Problem verstanden werden. Wer nur die eigenen Interessen vertritt, muss fürchten, gerade diesen eigenen Interessen entgegenzuarbeiten. Nis-Momme Stockmann plädiert für Großzügigkeit - aus eigenem Interesse.