Update fürs Grundgesetz?

Schwan möchte Nachhaltigkeit zum Staatsziel machen

Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan während einer Gesprächsrunde in den Kammerspielen des Theater Lübeck
Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hält die Einführung des Staatsziel "Nachhaltigkeit" für notwendig © Olaf Malzahn/dpa
Moderation: Korbinian Frenzel  · 08.06.2016
Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hat sich für eine Festlegung von "Nachhaltigkeit" als Staatsziel im Grundgesetz ausgesprochen. In Zeiten kurzatmiger politischer Entscheidungen könne dieser Begriff auch der Selbstvergewisserung der Gesellschaft dienen.
Wenn man den Begriff "Nachhaltigkeit" zu Ende denke, sei er eigentlich ein moderner Begriff für das traditionelle Wort "Gemeinwohl", betonte die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan im Deutschlandradio Kultur.
Das Prinzip Nachhaltigkeit könne auch ein mögliches Heilmittel gegen kurzatmige politische Entscheidungen sein.
Die Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform vertritt ihre Position bei der heutigen Anhörung im Deutschen Bundestag:

"Weil so viele Macht- und Koalitionsgesichtspunkte da eine Rolle spielen, ist es schon gut, einen Anknüpfungs- und Referenzpunkt im Grundgesetz zu haben, meine ich: Der mahnt und an den man auch appellieren kann, um diese Kurzatmigkeit wieder mit einer Längerfristigkeit und einem wirklichen Durchdenken von Politik zu überwinden."
Konkrete Handlungsanweisungen ließen sich aus einem Staatsziel "Nachhaltigkeit" nicht ableiten. Er befördere aber die inhaltliche Diskussion:
"Das ist das Wichtigste in der Politik: Dass Gesellschaft sich immer wieder über die Inhalte und damit auch über die ihnen zu Grunde liegenden Wertentscheidungen ihrer gemeinsamen Überlegungen und über die politischen Entscheidungen klar wird."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wenn Sie mal ein Füllwort brauchen und es soll klug klingen, sagen Sie einfach "nachhaltig". Das passt fast immer, das tut nie weh, und es ist ja auch irgendwie wichtig und richtig. Nachhaltigkeit – ich lasse den Spott angesichts einer gewissen Inflation der Benutzung des Begriffs mal beiseite, denn die Idee, so zu leben, zu wirtschaften, mit öffentlichem Geld umzugehen, mit der Umwelt, das es nicht nur für uns reicht, sondern auch für folgende Generationen, die ist ja an sich nichts Verkehrtes. Es gibt deshalb auch das Bemühen, eben diese Nachhaltigkeit als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Heute macht der Bundestag dazu eine Anhörung. Mit dabei unter anderem Gesine Schwan, die Politologin und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Guten Morgen, Frau Schwan!
Gesine Schwan: Schönen guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Wieso sollte die Nachhaltigkeit ins Grundgesetz?
Schwan: Ich glaube, gerade nachdem, was Sie anmoderiert haben, ist das interessant. Denn einerseits stimmt es ja, dieser Begriff wirkt wie ein modischer Begriff ohne klaren Inhalt. Auf der anderen Seite, wenn man ihn zu Ende denkt, ist der ein moderner Begriff für das traditionelle Wort "Gemeinwohl", das heißt dafür, dass man wirklich alle Gesichtspunkte, nicht nur die der Umwelt, sondern auch der sozialen Nachhaltigkeit, der sozialen Bekömmlichkeit einbezieht, wenn man eine politische Entscheidung macht.
Und da wir ja heute mehr denn je aus strukturellen Gründen - wohlgemerkt, nicht aus irgendwelcher Moralisiererei sage ich das - aus strukturellen Gründen kurzatmige politische Entscheidungen haben, weil so viele Macht- und Koalitions- und sonstige Gesichtspunkte da eine Rolle spielen, ist es schon gut, einen Anknüpfungs- und Referenzpunkt im Grundgesetz zu haben, meine ich: Der mahnt und an den man auch appellieren kann, um diese Kurzatmigkeit wieder mit einer Längerfristigkeit und einem wirklich Durchdenken von Politik zu überwinden.

"Wir brauchen mehr inhaltliche Diskussionen"

Frenzel: Sie sagen Mahnen und Appellieren. Was würde das denn konkret bedeuten, ein solches Staatsziel im Grundgesetz? Mehr als die Möglichkeit zu mahnen und zu appellieren?
Schwan: Es würde nicht bedeuten, dass man daraus irgendeine konkrete Politik ableiten kann. Das ist genauso wie mit der Sozialstaatlichkeit, die wir ja auch im Grundgesetz haben und die sehr umfassend ist. Aber es würde auch nahelegen, gerade weil der Begriff so scheinbar schwammig ist oder jedenfalls nicht so genau, präzise ist, dass man sich, wenn man etwa opponiert gegen die Kurzatmigkeit der Entscheidung, die wir an eine Partei oder auch an eine Nichtregierungsorganisation, eine Gewerkschaft, dass die sich natürlich auch äußern muss, was sie jetzt konkret unter Nachhaltigkeit versteht. Und das ist nicht schlecht, denn dann würde man in die inhaltliche Diskussion kommen. Das ist das Wichtigste in der Politik, dass Gesellschaft sich immer wieder über die Inhalte und damit dann auch über die zugrunde liegenden Wertentscheidungen ihrer gemeinsamen Überlegungen und auch ihrer politischen Entscheidungen klar wird.
Frenzel: Aber genau das ist ja das Problem bei einem breiten Begriff wie Nachhaltigkeit. Ich mache mal das Beispiel auf, da könnten vielleicht eher konservative Menschen sagen, nachhaltig müssen wir mit den Staatsfinanzen umgehen, wir brauchen die schwarze Null, Wolfgang Schäuble und Co. Da sagen dann vielleicht eher links gestrickte Menschen, nachhaltig ist, wenn wir vernünftig mit den nachfolgenden Generationen umgehen, in Bildung investieren. Das heißt, wir müssten dafür Schulden machen. Wenn wir Nachhaltigkeit im Grundgesetz haben, wer hat denn dann recht?

Infrastrukturmaßnahmen statt einer "schwarzen Null"

Schwan: Das ist genau der Punkt, dass wir dann zu den Begründungen kommen. Sie haben beide Male Begründungen für die Positionen genannt. Und dann muss man auf dieser Ebene der Begründung weitermachen, nämlich wie wichtig ist es und wie tragfähig und prioritär, dass man die schwarze Null hat, und wie wichtig und auch keineswegs schädlich für die zukünftigen Generationen ist, dass in Infrastrukturmaßnahmen und Bildungsmaßnahmen investiert wird, weil das ja nicht ein Verlust ist in Schulden, die die nachfolgende Generation tragen muss, sondern weil das ihre Ausstattung, ihr Empowerment ist, um den zukünftigen Herausforderungen zu begegnen.
Man muss auf der Ebene der Begründungen miteinander kommunizieren. Was anderes bleibt uns gar nicht. Aber da habe ich gute Erfahrungen damit, weil es etwas anderes ist, als einfach nur Forderungen gegeneinander zu stellen, sondern jedes Mal zu sagen, deshalb. Und dann kann man sagen, okay, dies ist ein Grund, möglicherweise kann man den noch durch einen anderen Grund differenzieren. Aber so geht es nun mal nur.

Ist das Bundesverfasungsgericht gefragt?

Frenzel: Sie haben die Sozialpolitik, das Sozialstaatsziel vorhin genannt als ein Beispiel. Das Bundesverfassungsgericht hat das ja immer mal wieder benutzt als Grundlage für Entscheidungen. Wäre das vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht sich dann letztendlich Bundesgesetzgebung vornimmt und sagt, das ist nicht nachhaltig, wenn dieses Staatsziel wirklich verankert wäre?
Schwan: Bei dem Staatsziel Sozialstaatlichkeit haben wir natürlich einen sehr viel längeren Vorlauf von Entscheidungen und von sowohl politischen als auch gerichtlichen Entscheidungen, sodass da ein Bundesverfassungsgericht zurückgreifen kann darauf, wie das früher definiert worden ist. Das ist ja immer ein Weg, gemeinsam Gerechtigkeit zu formulieren.
Bei der Nachhaltigkeit haben wir das noch nicht, aber wir haben durchaus nicht juristische, aber politische Anreicherungen dieses Begriffs. Und das ist ein Weg, denke ich, auf längere Sicht dahin zu kommen. Das Bundesverfassungsgericht mit seinen Entscheidungen ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern alle diese Entscheidungen haben sich im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entwickelt.
Frenzel: Nachhaltigkeit als Staatsziel. Der Bundestag hört dazu heute Experten an, unter anderem Gesine Schwan, die Politologin und – das kann man in diesen Tagen ja ruhig noch mal erwähnen, die Sozialdemokratin, die fast schon einmal Bundespräsidentin geworden wäre. Frau Schwan, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche einen schönen Tag!
Schwan: Wünsche ich Ihnen auch, einen schönen Tag. Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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