Unwort des Jahres

Wie geht der Exit aus der Empörungs-Spirale?

04:43 Minuten
Amaryllis - Spirale.
Statt Streit in der Sache: Empörung über die Empörung © picture alliance / Hinrich Bäsemann
Von Bernhard Pörksen · 20.01.2019
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"Anti-Abschiebe-Industrie" ist Unwort des Jahres 2018. Die heftige Diskussion darüber zeigt eindrücklich, wie sich die Empörung über die Empörung immer höher schraubt. Aber wie kommen wir da raus,fragt sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.
In öffentlichen Debatten und Streitigkeiten offenbart sich die Stimmungslage einer Gesellschaft. Hier werden Tabus und Wertmaßstäbe verhandelt, Normen sichtbar. Und manchmal, eben dies war in den letzten Tagen der Fall, macht der Streit auch deutlich, dass sich der gesellschaftliche Gefühls- und Diskurshaushalt gerade radikal verändert. Für die Unwort-Jury ist dieses Wort "Anti-Abschiebe-Industrie" ein Symptom dafür, dass Erkennungsvokabeln von Rechtspopulisten längst von der Peripherie ins Zentrum des Diskurses diffundiert sind. Das kann man so sehen. Und dass sich die Grenzen des Sagbaren verschieben ist für jeden erkennbar, der nur eine halbe Stunde ziellos im Netz surft.
Verändertes Kommunikationsklima
Tatsächlich aufschlussreich scheint mir jedoch: Seit dem Moment der Unwort-Bekanntgabe tobt in sozialen Netzwerken, aber auch in Zeitungen und Online-Medien eine Debatte, die sich maximal von der sprachkritischen Analyse entfernt. In Gestalt der Jury-Mitglieder werde, so behauptet etwa die Bild-Zeitung, eine "Sprachpolizei" tätig, die bestimmen wolle, was man sagen dürfe. Andere hingegen meinen, hier werde der Tugendterror der politisch Korrekten und eine Art "Wahrheitsministerium" (eine Anspielung auf George Orwells Buch 1984) sichtbar. Am Beispiel der Unwort-Diagnose könne man erkennen, in welchem Maße sich inzwischen der Korridor der akzeptablen Auffassungen verengt habe. Und längst bilden sich alternative Jurys von Erbosten, die ganz andere Wörter zum Skandal ausrufen und die Vokabeln von Linken und Liberalen auf dem Index sehen möchten. Kurzum: Das Unwort ist zum Streitwort mutiert, die Sprachkritik zum Anlass für Attacken geworden – und damit selbst zum Symptom für die Veränderung des Kommunikationsklimas.
Die Empörung über die Empörung
Zum einen wird hier erlebbar, dass der gesellschaftliche Entrüstungskonsens schwächer wird, die Polarisierung hingegen zunimmt. Zum anderen muss man konstatieren, dass die Empörung über die Empörung der anderen Seite längst zum kommunikativen Normalfall geworden ist. Man regt sich darüber auf, was andere aufregt, treibt also die Erregung auf immer weiteren Meta-Ebenen wütender Kommunikation empor. Und schließlich, auch das macht die aktuelle Auseinandersetzung deutlich, ist die Art der Diskursbeschreibung selbst ein Instrument der rhetorischen Eskalation geworden. Wer überall Gesinnungsvorgaben wähnt, sich einer Armee von Sprachpolizisten und Tugendterroristen ausgeliefert sieht, der streitet nicht mehr gegen eine einzelne Auffassung, sondern agitiert gegen ein System. Alles ist ihm Zeichen, Indiz gefährlicher Unterdrückung, Anlass für den Kampf um die Meinungsfreiheit.
Für den Empörungs-Exit: Abschied vom Prinzipiellen
Wie kommt man da raus? Vermutlich liegt der entscheidende Schritt in einem Abschied vom Prinzipiellen, wie der Philosoph Odo Marquard einmal formuliert hat, also in der Praxis einer suchenden, vorsichtigeren Denk- und Kommunikationsbewegung, die sich nicht vorschnell letzten Wahrheiten unterwirft. Es gilt, gegenüber eigenen und fremden Gewissheiten und großformatigen, wütend formulierten Meta-Thesen skeptisch zu bleiben. Und es gilt sich zu vergegenwärtigen: Der Sprachkritiker ist kein Sprachpolizist. Er will die Debatte, nicht die Stigmatisierung des Andersdenkenden.
Die pauschale Diagnose und auch das prinzipielle Urteil über den Diskurs und den angeblichen Triumph der politischen Korrektheit machen den Disput jedoch oft unmöglich. Sie blockieren das Ringen in der Sache. Man weiß ja, scheinbar zumindest, was der andere meint. Und kennt, angeblich zumindest, sein großes Ziel, nämlich die Gesinnungsvorgabe und den moralisierenden Terror. Noch einmal: Wie kommt man da raus? Nötig ist der Abschied vom Schlagwort-Denken, dem endlosen Reiz-Reaktionsspiel der Empörung, das nur Erregung produziert, aber keine Erkenntnis.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien sein Buch »Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung« im Hanser-Verlag.
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