Unterscheidungsmerkmal Wohnmobil

24.09.2010
Die niederländische Autorin Marente de Moor lässt immense Kenntnisse der russischen Kultur- und Zeitgeschichte in "Amsterdam und zurück" einfließen. Ein Buch über die Macht der Vergangenheit, über Emigranten – und ihr ganz spezielles Heimweh.
Zwei Reisen bilden die Klammer für diesen Roman. Am Anfang steht eine symbolträchtige Zugfahrt. Witali Kirillow aus Gorkij/Nizhni Nowgorod fährt Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal in seinem Leben ins Ausland: zu seinem Cousin Ilja, der in Amsterdam lebt. Dort angekommen, überzieht Witali bald die Dauer seines Besucher-Visums und lebt daraufhin illegal in Holland.

Am Ende des Romans, viele Monate später kehrt er als schwarzer Passagier per Schiff zurück in seine Heimat, ohne den ursprünglichen Zweck seiner Reise erfüllt zu haben: einen Mann wieder zu finden, den er, ein Jahrzehnt zuvor, als junger Grenzoffizier an der finnischen Grenze hatte flüchten lassen. Unverrichteter Dinge kehrt Witali zurück nach Russland. Und dennoch deutet dieser Schluss ein zartes Happy-End an. Denn "Amsterdam und zurück" handelt nur vordergründig von der vergeblichen Suche. Es ist in Wirklichkeit ein Buch über die Macht der Vergangenheit, über russische Emigranten – und ihr ganz spezielles Heimweh.

Witali findet in Amsterdam keineswegs eine fremde oder abweisende Welt vor. Er wird von offenen russischen Armen empfangen, wohnt wie sein Cousin in einem alten Haus mit allerlei anderen Emigranten seiner Heimat. Wie sie steht Witali tagsüber auf dem Rembrandtplein, mimt (als Ingenieur) den Künstler und versucht, kitschige Aquarelle seiner Freunde an Touristen zu verkaufen. Das wenige Geld, das er einnimmt, wird für gemeinsame Trinkgelage ausgegeben. Man trifft sich in improvisierten russischen Spelunken oder - ganz klassisch - in der Küche und lästert über Russland, obwohl die Sehnsucht nach dem Land immer größer wird.

Nach mehr als einem Jahr lernt Witali die gut gelaunte Jessie kennen, die sich in ihn und seine russische Exotik verliebt. Jessie bringt ihm aber auch die niederländische Welt näher, eine Welt, die von vielen Gutmenschen, - "freundlichen, blonden Riesen" - bevölkert scheint. Diese Welt bleibt Witali dennoch fremd. Die Kluft zwischen den beiden Mentalitäten bringt sein Cousin Ilja auf den Punkt: "Wohnmobile zeigen den Unterschied zwischen Niederländern und Russen. Wir reisen nicht. Wir emigrieren nur."

Marente de Moor lässt immense Kenntnisse der russischen Kultur- und Zeitgeschichte in dieses Buch einfließen. Sie weiß, welche Filme in Russland Kultstatus genießen, welche Pop-Idole bis heute verehrt werden, welche Bücher gelesen und welche Witze gemacht werden. Sie flicht dieses Wissen geschickt in die Beschreibung von Alltag und Gefühlen der Protagonisten ein – und man merkt diesem Bild russischer Emigranten an, dass es sowohl durch jahrelange Aufenthalte in Russland geschärft wurde als auch auf eigenen Erfahrungen basiert.

Marente de Moor ist selbst mit einem Russen verheiratet. Dennoch vermeidet ihr "Insider-Blick" larmoyante oder klischeebeladene Beschreibungen – vor allem dank eines unprätentiösen, humorvollen Tons, der die Dinge amüsant und anekdotenreich auf den Punkt bringt. Hier ist eine Autorin am Werk, die ihren Stil vor allem als gute Kolumnistin entwickelt hat.

Besprochen von Olga Hochweis

Marente de Moor: Amsterdam und zurück
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Suhrkamp, Berlin 2010
284 Seiten, 22,90 Euro