Unterhauswahl in Großbritannien

"Sie hat einen verheerenden Wahlkampf geführt"

Die britische Premierministerin Theresa May verlässt die Parteizentrale der Konservativen Partei in London einige Stunden nach Schließung der Wahllokale.
Die Konservativen um Premierministerin Theresa May haben die absolute Mehrheit verloren. © AFP - Ben Stanstall
Sir Peter Torry im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.06.2017
Die konservative Partei hat die absolute Mehrheit im britischen Parlament verloren. Premierministerin Theresa May habe einen "verheerenden Wahlkampf" geführt, sagt der Diplomat Sir Peter Torry. Sie habe das Mandat für die Verhandlungen über einen "Hard Brexit" verfehlt.
Sir Peter Peter Torry, ehemaliger britischer Botschafter, führt den Verlust der absoluten Mehrheit der konservativen Partei von Premierministerin Theresa May auf Fehler im Wahlkampf zurück:
"Sie hat einen verheerenden Wahlkampf geführt, mit vielen, vielen Fehlern. Ein sehr, sehr großer Fehler war die Kehrtwende in der Frage der Altenpflege. Das hat Theresa May sehr geschadet."
Das Wahlergebnis bedeute mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende von Theresa May, so die Einschätzung von Sir Peter Torry:
"Sie hat diese Wahl ausgerufen. Sie hat eine starke, stabile Führung als Zentralpunkt dieser Wahl gesetzt. Und sie hat die Mehrheit verfehlt. Ich finde es schwer zu sehen, wie sie jetzt überleben kann. Und die Konservativen sind ziemlich gnadenlos. Sie haben ungern einen Loser."
Der jüngste Terrorangriff habe darüber hinaus gezeigt, dass das Thema Innere Sicherheit und die Reduzierung der Polizeikräfte in ihrer Zeit als Innenministerin bei den Wählern eine große Rolle gespielt habe, sagt Torry im Deutschlandfunk Kultur.
Sir Peter Torry, ehemaliger britischer Botschafter in Deutschland, aufgenommen am 26.06.2016 während der ARD-Talksendung "Anne Will" zum Thema "Großbritannien sagt Nein - Wer sagt jetzt noch Ja zu Europa?" in den Studios Berlin-Adlershof. Foto: Karlheinz Schindler
DEr Diplomat Sir Peter Torry. Er war von 2003 bis 2007 britischer Botschafter in Deutschland. © dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler

Kein klares Mandat für die Brexit-Verhandlungen

Der Kern dieses Wahlkampfes habe darin bestanden, ein Mandat für die Ausstiegsverhandlungen zum Brexit zu bekommen, so Torry:
"Und das hat sie nicht bekommen. Und sie hat sich entschieden, das Referendum vor einem Jahr als Grund für einen sogenannten 'Hard Brexit' zu interpretieren. Also raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Zollunion. Und 48 Prozent, also fast die Hälfte des Landes, hat nicht dafür gestimmt."

Müssen die Brexit-Verhandlungen verschoben werden?

Jetzt sei eine Debatte über die Art und Weise des Brexit zu führen, meint Torry. Die zeitlichen Abläufe würden sich angesichts des Wahlergebnisses schwierig gestalten:
"Diese Regierung ist einfach nicht in der Lage, diese Verhandlungen fortzusetzen. Es war vor der Wahl ziemlich unklar, was für einen Plan Frau May für die Verhandlungen hatte. Ich glaube, wir werden diese Verhandlungen einfach verschieben müssen."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Als Theresa May der britischen Öffentlichkeit und der ganzen Welt am 18. April mitteilte, dass sie sich nun doch entschlossen habe, Neuwahlen anzusetzen in Großbritannien, da schien das damals wirklich eine gute Idee zu sein. Auch ihre Feinde gingen davon aus, dass sie gestärkt aus diesen Wahlen hervorgehen würde, sie und ihre konservative Partei. Das ist nun alles anders gekommen. Es gibt noch immer kein Endergebnis dieser Wahl, aber weit über 90 Prozent der Stimmen sind jetzt ausgezählt und nach aktuellen Angaben der BBC haben bislang die Konservativen in Großbritannien 42,3 Prozent der Stimmen bekommen und Labour 40,3. Das ist, wie gesagt, noch nicht das Endergebnis, aber so ganz viel wird sich jetzt wohl nicht mehr ändern, und das bedeutet, dass die Conservative Party in Großbritannien die absolute Mehrheit verfehlt hat, verloren hat im Vergleich zum letzten Mal 2015.
Was dieses Wahlergebnis bedeutet für Theresa May, für ihre Partei, für das Vereinigte Königreich, aber auch für ganz Europa, darüber wollen wir jetzt mit Sir Peter Torry reden, langjähriger Diplomat im Dienste der britischen Regierung, von 2003 bis 2007 Botschafter Großbritanniens in der Bundesrepublik in Berlin, wo er jetzt auch wieder lebt. Schönen guten Morgen, Herr Torry!

"Die Konservativen sind ziemlich gnadenlos"

Peter James Torry: Ja, guten Morgen!
Kassel: Wenn es nun dabei bleibt, und es sieht inzwischen doch ziemlich danach aus, so viel Stimmen fehlen jetzt nicht mehr, wenn es dabei bleibt, dass die Conservative Party ihre absolute Mehrheit verloren hat, ist das das Ende von Theresa May?
Torry: Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit … Also sie hat diese Wahl ausgerufen, sie hat seine Führung, seine angebliche starke, stabile Führung als Zentralpunkt dieser Wahl gesetzt, und sie hat die Mehrheit verfehlt. Also ich finde es sehr schwer, zu sehen, wie sie jetzt überleben kann, und die Konservativen sind ziemlich gnadenlos. Also sie haben einen Loser ungern. Aber das werden wir im Laufe des Tages sehen müssen.
Ein Problem ist, dass es keinen (offensichtlichen) Nachfolger gibt, und eine Möglichkeit wäre die bisherige Innenministerin Amber Rudd. Sie hat einen guten Wahlkampf gehabt, aber hat seine constituency nur mit sehr geringer Mehrheit gewonnen. Das hat nicht geholfen.
Kassel: Herr Torry, ich hatte im Wahlkampf den Eindruck – und ich fühle mich ein bisschen bestätigt, ehrlich gesagt, durch dieses Ergebnis –, ich hatte den Eindruck, dass Theresa May nicht ganz begriffen hat, worum es den britischen Wählern wirklich geht. Sie hat ja eigentlich immer nur auf den Brexit gesetzt, am Schluss nach diesen drei schweren Terroranschlägen auf die innere Sicherheit, aber täuscht mich der Eindruck, dass offenbar viel Wählerinnen und Wähler viel mehr an die Sozialsysteme und an ihre eigene Lage gedacht haben bei dieser Wahl?
Torry: Also sie hat einen verheerenden Wahlkampf geführt mit vielen, vielen Fehlern. Ein sehr großer Fehler war eine Kehrtwende in dieser Frage von Altenpflege. Das hat der Frau May sehr geschadet, und am Ende war auch das Thema als Innenministerin – sie war, bevor sie Premierministerin war, Innenministerin –, sie hat über die Reduzierung der Polizeikräfte …
Kassel: Entschieden.

Keine Mehrheit für den sogenannten "Hard Brexit"

Torry: Unter ihrer Zeit und ihrer Führung im Innenministerium, und diese Terrorangriffe in den letzten zwei, drei Wochen hat gezeigt, dass das ein wichtiges Thema in der letzte Woche war. Die Reduzierung der Polizeikräfte in seiner Zeit als Innenministerium hat wirklich geschadet auch. Also der Punkt dieses Wahlkampfes war, ein Mandat für Brexit zu bekommen. Und das hat sie nicht bekommen.
Und sie hat sich entschieden, das Referendum zu interpretieren vor einem Jahr jetzt als Grund für einen sogenannten hard Brexit, also raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Zollunion. Und 48 Prozent, fast die Hälfte des Landes, hat nicht dafür gestimmt, und ich glaube, eine Debatte, die jetzt geführt werden muss, ist: Was für ein Brexit wird stattfinden? Und ich glaube, das Ergebnis dieser Wahl wird sein, dass es keine Mehrheit gibt in Großbritannien für einen sogenannten Hard Brexit.
Kassel: Aber die Frage ist auch, wie geht das jetzt von den zeitlichen Abläufen weiter, Herr Torry. Eigentlich müssten ja schon in ein, zwei Wochen die Verhandlungen beginnen, und die ersten sagen jetzt schon, das wird man noch einmal verschieben müssen, denn bis dahin gibt es ja möglicherweise gar keine Regierung und auch keine, wenn man eine braucht, keine neue Premierministerin.
Torry: Die Verhandlungen sollten innerhalb von zehn Tagen anfangen. Sie haben vollkommen recht. Also diese Regierung ist einfach nicht in der Lage, diese Verhandlungen fortzusetzen. Es war vor der Wahl ziemlich unklar, was für einen Plan Frau May hatte für die Verhandlungen. Ich glaube, sie werden diese Verhandlungen einfach verschieben müssen.

"Eine Katastrophe für Theresa May"

Aber der Artikel 50 ist gezogen, die Uhr tickt, und wir haben zwei Jahre. Deswegen sage ich, das Ergebnis dieser Wahl ist für Frau May selbstverständlich eine Katastrophe, aber auch für Großbritannien sehr, sehr schlecht. Das Einzige, was ich gut sehe, ist, dass diese Frage der Unabhängigkeit Schottlands ist, ich glaube, jetzt weg vom Tisch mit diesem Wahlergebnis.
Kassel: Aber das Wahlergebnis lässt natürlich auch die Frage offen, mit wem die Torys – alleine werden sie es ja voraussichtlich nicht mehr können –, mit wem die eigentlich regieren. Die Liberal Democrats haben gesagt, mit uns nicht, das würde auch nicht gehen, das ist die einzige größere Partei, die gegen den Brexit ist. Also mit wem wird denn … regieren?
Torry: Sie werden mit aller Wahrscheinlichkeit mit dieser sogenannten Democratic Unionist Party in Nordirland regieren, also das ist die Partei, die für die Union mit Großbritannien steht. Die haben in zehn Wahlkreisen gewonnen. Also das wäre eine sehr knappe Mehrheit von zwei, und diese Partei ist auch selbstverständlich für eine ordentliche Lösung der Frage der Grenze zwischen Nord- und Südirland. Die Democratic Unionist stehen für Brexit, aber für einen sogenannten Soft Brexit, also bleiben innerhalb des Binnenmarktes und notwendige Kompromisse zu schließen, um das tun zu können.
Kassel: Sie bedeutet einiges, die heutige Parlamentswahl, nicht nur für das Vereinigte Königreich selber, sondern auch für die Europäische Union. Wir haben darüber mit dem ehemaligen britischen Botschafter in Deutschland, Sir Peter Torry, gesprochen. Herr Torry, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen!
Torry: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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