Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Unter Beobachtung Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz Autorin: Christine Werner Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Dienstag, 02.04.2019, 19.15 Uhr Mitwirkende: Hildegard Meier Axel Gottschick Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Gesang Sprecher [über Atmo] Stuttgart-Bad Cannstatt, 9. November 2018. Früher Abend, am Platz der ehemaligen Cannstatter Synagoge. O-Ton 1, Ankündigung Rede Silvia Gingold Und damit heiße ich unseren heutigen Gast willkommen, Silvia Gingold, sie wird nachher auch im Rathaus lesen und Fragen beantworten. Frau Gingold ist die Tochter der Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold ... Erzählerin [über O-Ton 1] Ein schlichter Granitstein erinnert heute an die Synagoge. Der nächste Programmpunkt bei diesem Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938 ist die Rede von Silvia Gingold. Sie steht noch etwas abseits, eine kleine, zierliche Frau, 72 Jahre alt, Lehrerin in Rente. Freundlich, zurückhaltend, so lerne ich sie kennen. Diese Frau gefährdet den Rechtsstaat, ist eine Staatsfeindin, so sieht es der hessische Landesverfassungsschutz. O-Ton 2, Ankündigung Rede Silvia Gingold ... sie weiß, was politischer Kampf auch in der Gegenwart bedeutet. Wegen ihres antifaschistischen und friedenspolitischen Engagements steht sie bis heute unter Beobachtung unseres sogenannten Verfassungsschutzes (Pfiffe, Buhrufe ....) Sie ist aus Kassel zu uns gekommen ... Wir begrüßen ganz herzlich Silvia Gingold. (Applaus) Erzählerin [schon über O-Ton] Die Veranstaltung wurde von einem Bündnis verschiedener Gruppen organisiert, darunter die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten". Silvia Gingolds Vater hat die Vereinigung mitgegründet. Aus seiner Biografie wird sie nach der Gedenkveranstaltung lesen. O-Ton 3, Silvia Gingold Vielen Dank für die herzliche Begrüßung und die für die Einladung, hier an der Gedenkveranstaltung teilnehmen zu können. Es wurde schon gesagt, ich komme aus einer jüdischen Familie, die von den Nazis verfolgt wurde und 1933, nach dem Machtantritt Hitlers, nach Frankreich flüchtete. Meine Eltern schlossen sich der Französischen Widerstandsbewegung gegen Hitler, der Resistance an, mein Vater geriet in die Fänge der Gestapo, wurde schwer gefoltert und konnte nur durch Flucht überleben ... Atmo Lesung Erzählerin [über Atmo] Bei ihrer Lesung später im Bezirksrathaus ist der Saal voll, im Publikum sitzen viele ältere Menschen, darunter Freunde und Weggefährten. Gegen 21 Uhr wäre Zeit für Fragen - es fragt aber niemand, für die meisten hier ist es schon spät. Während sich der Saal leert, signiert Silvia Gingold ein paar Bücher. Und sagt mir dann, dass vermutlich auch dieser Auftritt als Beleg in den Akten des Verfassungsschutzes landen wird. Ansage Unter Beobachtung Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz Ein Feature von Christine Werner Atmo 3 - Blättern Sprecher Kassel, Stadtmitte, die Wohnung von Silvia Gingold. Erzählerin [über Atmo] In ihrem Wohnzimmer macht Silvia Gingold Platz auf dem Tisch, legt Bücher, Ordner und Akten bereit. Seit ihrem 17. Lebensjahr wird sie bespitzelt - womöglich mit Unterbrechungen - jetzt klagt sie gegen den hessischen Landesverfassungsschutz. Dass sie diesen Kampf auf sich nimmt, hängt mit ihrer Familiengeschichte zusammen, mit der Geschichte ihrer Eltern. Über dem Sofa im Arbeitszimmer hängen ihre Porträts, große, gerahmte Linoldrucke. Jung sind sie da, ihre Gesichter schauen einen direkt an. O-Ton 5, Silvia Gingold Ihr Ausdruck zeigt, dass sie sehr gut wissen was sie wollen und auch ganz klar Position beziehen. Ich denke, das strahlen sie da schon sehr aus. Ich habe ja meine Eltern so nicht kennengelernt, aber gerade in den späteren Jahren, als ich selbst politisch aktiv wurde, da waren sie immer an meiner Seite und auch immer sehr überzeugt offensiv aufgetreten, sehr konsequent in ihren Positionen und haben mich dadurch auch geprägt. Erzählerin Ihr Vater Peter Gingold: Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer. 1916 als Sohn eines Schneiders in Aschaffenburg geboren, mit fünf Geschwistern dann aufgewachsen in Frankfurt am Main. Nach der Schule, 1930, findet er wie viele andere zunächst keine Lehrstelle, ist erschüttert von der Massenarbeitslosigkeit. Mit 14 kommt er zufällig in die Gewerkschaftsjugend und darüber in eine kommunistische Jugendgruppe. Er beteiligt sich an Aktionen gegen Hitler, entfernt Hakenkreuze, verteilt Flugblätter - bis die Familie fliehen muss. Im Hörfunkarchiv gibt es Aufnahmen von ihm. O-Ton 6, Peter Gingold Ich hörte immer das Grölen von Braunhemden mit Hakenkreuzen am Ärmel, die grölten: Deutschland erwache, Juda verrecke, Rotfront verrecke, heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Und wenn alles zusammenfällt und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht es uns nochmal so gut. Erzählerin Im Exil in Frankreich lernt Peter Gingold seine spätere Frau Ettie kennen. Beide unterstützen vom Ausland aus den Kampf gegen Hitler. O-Ton 7, Peter Gingold ... mein eigener Anteil mit meiner Frau und einer Reihe von Deutschen war wesentlich, Aufklärungsschriften herzustellen in deutscher Sprache - natürlich gerichtet an die deutschen Soldaten und Offiziere - und sie aufzufordern, Schluss zu machen mit dem Krieg, Deutschland zu retten, damit es nicht völlig untergeht, in den Untergang getrieben wird ... Erzählerin [schon Musik drunter anfangen] Zwei Geschwister von Peter Gingold werden in Auschwitz ermordet. Er selbst wird verhaftet, schwer gefoltert und entkommt in Paris nur mit viel Glück der Gestapo. In seiner Biografie "Paris - Boulevard St. Martin No. 11" hat er beschrieben, wie er die SS-Männer in eine Falle locken und durch einen Hinterausgang fliehen konnte. Hannes Wader hat ihm ein Lied gewidmet, es heißt - wie die Biografie - nach der Straße, in der die Flucht gelang. Musik 1 - Ausschnitt Lied Hannes Wader, [Musiktext:] Aus den Augenwinkeln sieht er dann so im Vorübergehn den Eingang von Haus Nummer 11 einen Spalt breit offen stehn ... Erzählerin Nach dem Krieg gehen Peter und Ettie Gingold zurück nach Deutschland. Sie wollen das Land wieder mit aufbauen. Nach Verfolgung, Holocaust und NS-Diktatur mit Parteien-und Gewerkschaftsverboten, hoffen sie auf einen politischen Neuanfang. O-Ton 8, Silvia Gingold Als dann meine Eltern 1945 aus der Emigration wieder nach Deutschland zurückkamen und geglaubt haben, dass jetzt ein demokratisches Deutschland entsteht, mussten sie dann weiter bittere Erfahrung machen, dass wieder Menschen verfolgt werden, ja, aufgrund ihrer politischen Einstellung. Erzählerin In Frankreich werden die Gingolds nach dem Krieg von der Regierung als Widerstandskämpfer ausgezeichnet. In der Bundesrepublik geraten sie als Kommunisten ins Visier des Verfassungsschutzes. Peter Gingold ist zuerst Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, KPD, nach deren Verbot Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP. Und er ist 1947 Mitgründer der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes", kurz VVN. Aus ihrer Geschichte heraus engagiert sich die Familie gegen Krieg und Faschismus. Silvia Gingold begleitet ihre Eltern als Jugendliche auf Demonstrationen. Auf einem Foto sieht man sie als 16-Jährige auf einem Ostermarsch, sie trägt ein Plakat um den Hals - es erinnert an den Atombombenabwurf auf Hiroshima. Auch sie wird vom Verfassungsschutz erfasst, ein Jahrzehnt später als junge Lehrerin aus dem Schuldienst entlassen und bekommt 1975 Berufsverbot. O-Ton 9, Silvia Gingold Die Grundlage meines Berufsverbots waren Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, die dieses Amt seit meinem 17. Lebensjahr gesammelt hat. Die wurden mir vorgelegt, vor meinem Berufsverbot wurde ich zu einer Anhörung geladen im Regierungspräsidium in Kassel, und dort wurde mir vorgehalten, dass Zweifel an meiner Verfassungstreue aufgekommen sind und die waren begründet durch die so genannten Erkenntnisse des Verfassungsschutzes. Und das waren zum Beispiel Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, Flugblatt Verteilungen, Flugblatt Unterzeichnung, Reisen in die DDR. Alles ganz minutiös aufgelistet mit Ort und Uhrzeit ... Erzählerin Der sogenannte Radikalenerlass trifft sie, inzwischen Mitglied der DKP, wie viele Linke und Kommunisten. Die Regierung von Willy Brandt will damit die angeblichen Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst verhindern. Knapp 3,5 Millionen Studenten, Juristen, Lehrer, sonstige Bewerber und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes werden durchleuchtet, ihre "politische Zuverlässigkeit" wird beim Verfassungsschutz abgefragt, rund 11.000 Berufsverbotsverfahren werden eingeleitet. Eine konkrete verfassungsfeindliche Tat wird kaum einem Betroffenen vorgeworfen, auch Silvia Gingold nicht. O-Ton 10, Silvia Gingold Wenn ich daran denke, wie viele Nazi-Verbrecher später wieder in hohe Ämter kamen, die durch ihre konkrete Tätigkeit bewiesen haben, dass sie Gesetze brechen oder dass sie Verbrechen überhaupt ausüben. An ihnen hat es nie Zweifel an ihrer Verfassungstreue gegeben. Die waren wieder in hohen Ämtern. Bis in die Spitzen der Politik und der Verwaltung, in der Justiz, in der Schule überall. Und viele von uns vom Berufsverbot Betroffenen wurde der öffentliche Dienst verwehrt, weil sie sich in Zukunft vielleicht aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer linken oder marxistischen Organisation verfassungswidrig verhalten könnten. Das ist eigentlich ungeheuerlich. Erzählerin Bis zu ihrem Berufsverbot unterrichtete sie Französisch und Sozialkunde, hatte eine fünfte Klasse, war beliebt. Die Schule protestierte gegen ihre Entlassung, ihre Klasse schrieb Briefe an den Kultusminister. Ohne Erfolg. Die Politik blieb hart. O-Ton 11, Dominik Rigoll Also ich glaube, die basale Argumentation, dafür braucht man nicht Jurist sein, um die zu denken, war das klassische: Geht doch rüber. Also wenn es euch hier nicht passt, in der Bundesrepublik, ihr wollt Kommunisten sein, hey, es gibt einen anderen kommunistischen Staat, da könnte ihr gerne Lehrer werden und so weiter und so fort. Und ich denke, das war in der Bundesrepublik ein relativ verbreitetes, antikommunistisches Ressentiment ... Erzählerin Dominik Rigoll ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er hat über den Verfassungsschutz promoviert. O-Ton 12, Dominik Rigoll Glaubwürdigkeitsdefizit ... und den Kommunisten wurde abgesprochen, was Kommunisten in anderen Ländern, westlichen Ländern konnten, nämlich innerhalb dieser Länder für eine, ja eine andere Gesellschaft einzutreten, wie sie meinten, demokratischere, sozialistischere, antikapitalistischere Gesellschaft. Was unterm Strich so war. Also die haben sich ja dann nicht für eine Ein-Parteien-Diktatur eingesetzt oder haben die nicht realisiert, aber gleichzeitig muss man schon sehen, und das ist das zweite Argument, warum man diese Leute als Verfassungsfeinde abgestempelt hat, dass wenn man an Moskau orientierten oder Ost-Berlin orientierten Parteien, wenn man sich da engagierte in den 60er, 70er-Jahren, dann war das Vorbild, waren die sozialistischen Staaten des Ostblocks und die sind nun nicht besonders frei gewesen. O-Ton 13, Silvia Gingold Zunächst mal war es ja so, dass nach 45 bzw. 49, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, in der DDR, dass im Gegensatz zur Bundesrepublik dort eine wirkliche Entnazifizierung stattgefunden hat und dass damals dort in den hohen Ämtern die Widerstandskämpfer gesessen haben. Also zum Teil ganz enge Freunde meiner Eltern. Die hatten dort den Einfluss, im Gegensatz zur Bundesrepublik. Und wir hatten die große Hoffnung, dass dort eine bessere Gesellschaft entsteht, ja, wo wirklich jeder seine Meinung sagen darf, keiner verfolgt wird, sich keiner am anderen bereichern kann und so weiter. O-Ton 14, Rundfunk der DDR, Stimme der DDR Erkennungsmelodie, Klatschen: "Geschichten in Rot - von Antifaschisten erzählt". 15. Folge: Die Gingolds. Erzählerin [auf Erkennungsmusik nach Ansage] Im Archiv findet sich auch eine Sendung des Rundfunks der DDR. "Die Stimme der DDR" ausgestrahlt im Dezember 1979. Weiter O-Ton 14, Ausschnitt Rundfunk der DDR, Stimme der DDR ... weiter Moderation: Alle guten Deutschen kommen in den Himmel, Hallelujah. Und die anderen? Kriegen übers Telefon Bescheid. O-Ton Silvia Gingold damals: Ja, anonyme Anrufe habe ich sehr oft gehabt. Meine Eltern auch. Zum Beispiel du Kommunistenschwein, dich werden wir auch noch vergasen. Aber das sind eigentlich Sachen, die mir nicht neu waren, auch meinen Eltern nicht neu waren, wo wir eigentlich immer sehr gelassen reagiert haben. Moderation: Sie werden sagen, Läuse sollte man vergasen, Wanzen, also Tiere, weshalb aber ein Wesen, dass zumindest der Stimme nach ein Mensch zu sein scheint ... Erzählerin Silvia Gingold klagt gegen ihr Berufsverbot. Ihr Fall macht Schlagzeilen, auch im Ausland. Unterstützung kommt vor allem aus Frankreich. Der damalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei, François Mitterrand, setzt sich für sie ein und schreibt einen Brief an Willy Brandt. Der öffentliche Druck bewirkt, dass sie wieder als Lehrerin arbeiten kann. Aber sie darf in Hessen keine Beamtin mehr werden. 1976 fängt sie an einer kleinen Schule in Nordhessen an. In der "Stimme der DDR" erzählt Silvia Gingold, was ihr als Lehrerin wichtig war. O-Ton 15, Rundfunk der DDR, Stimme der DDR, Silvia Gingold Ich habe mir vorgestellt, dass ich als Lehrer dazu beitragen kann Schüler zum selbständigen und kritischen Denken zu erziehen. Dass sie Dinge in die Hand nehmen, selbst organisieren, Bedürfnisse äußern, auch in der Klasse demokratisch mitbestimmen, auch den Unterricht irgendwo mitgestalten und mitbestimmen. Dass nicht nur diese Autoritätsperson Lehrer alleine den Unterricht bestimmt, sondern dass die Schüler zu einem Großteil mit einbezogen werden ... O-Ton 16, Dominik Rigoll [erster Satz fehlt beim O-Ton, liefere ich nach] Die 68er in den Institutionen, die haben die Leute genervt, die waren anstrengend, und sozusagen lebensweltlich gesehen, waren die auch eine Bedrohung. Wenn du ein alter Nazi bist und so ein 68er vor dir stehen hast, der alles ausdiskutieren will, dann ist das eine Bedrohung. Ich will die Wahrnehmung schon auch ernst nehmen ... dass man dachte, ja, Kommunisten sind die Bösen, Linke sind die Bösen und das ist mit Demokratie unvereinbar und mit Freiheit sowieso .... Erzählerin Der Rektor und das Kollegium stehen hinter Silvia Gingold. Die Presse aber macht Stimmung gegen "die Kommunistin" und die CDU fordert Eltern auf, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Außerdem sind bald Kommunalwahlen - da wird mit allen Mitteln gekämpft ... O-Ton 17, Silvia Gingold ... und die CDU gab ein Würfelspiel heraus. Das hieß "Fahr mit durch den Schwalm-Eder-Kreis". Da musste man sich durch einzelne Ortschaften würfeln. Und wenn man auf dem Ort meiner Schule zu stehen kam, da hieß es "Spieler setzt einmal aus und schreibt einen Brief an Kultusminister, um gegen die Kommunistin zu protestieren". Dazu muss man sagen, wer spielt so ein Würfelspiel. Das sind wahrscheinlich in erster Linie auch Kinder. Soweit zum Vorwurf, der mir immer unterstellt wurde, von wegen Indoktrination. Für mich war das eine ganz schlimme Hetze. Und dieser Wind schlug mir von vornherein entgegen. Und das war für mich ganz schwer, ja. Erzählerin Als sich 2012 der Radikalenerlass zum 40. Mal jährt, fordern die Betroffenen ihre Rehabilitierung. Und sie wollen wissen: Was hat der Verfassungsschutz über uns gespeichert? Was ist in den Akten? Auch Silvia Gingold fragt nach und erfährt ... O-Ton 18, Silvia Gingold ... dass ich seit dem Jahr 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert sei. Und da wurden mir zwei Dinge vorgehalten: Einmal dass ich Lesungen aus der Biografie meines Vaters mache und zwar im Rahmen von Veranstaltungen der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes", VVN, Bund der Antifaschisten. Und die zweite Sache war, dass ich im Jahr 2012 eine Rede zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses gehalten habe in Frankfurt am Main. Erzählerin Sie beschließt den Verfassungsschutz zu verklagen. Atmo 4 - Gericht, Sicherheitsmann Sicherheitsmann: Bitte fünf Personen eintreten, auf dieser Seite bleiben. Das sind schon sieben. Es kommt jeder dran. Jetzt kommen sie mal durch Frau Gingold. - Sehr individuell, anders als in Wiesbaden. - Frau Gingold! Sind sie so lieb und gehen auf diese Seite, weil ich hier immer fünf sammle. Sonst bei der Masse, sie verlieren irgendwann den Überblick. So, nächste. Sprecher 19. September 2017, Verwaltungsgericht Kassel. Erzählerin [über Atmo] Vor der Sicherheitskontrolle drängen sich Freunde, Weggefährten, Unterstützer: vom Berufsverbot Betroffene, ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Gewerkschafter, Mitglieder der VVN. Auch die Medien sind da. Silvia Gingold geht fast etwas unter in der Menge. Offiziell heißt der Prozess: "Silvia Gingold gegen das Land Hessen, vertreten durch das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen". O-Ton 19, Otto Jäckel [Atmo davor] Hier geht es heute um die Löschung der Daten, die vom Landesamt für Verfassungsschutz über Frau Gingold gespeichert worden sind. Das ist der Gegenstand und der zweite Antrag beschäftigt sich damit, dass die Beobachtung eingestellt werden soll ..." Erzählerin Otto Jäckel, der Anwalt von Silvia Gingold. O-Ton 20, Otto Jäckel Entscheidend ist für meine Mandantin, dass sie sagt: Ich gefährde nicht den Rechtsstaat. Ich habe nicht vor die Demokratie abzuschaffen. Ich habe nicht vor die Gewaltenteilung abzuschaffen. Ich habe mich nie in dieser Richtung jemals in meinem ganzen Leben geäußert. Noch viel weniger irgendetwas in diese Richtung unternommen. Insofern bin ich hier der falsche Adressat einer solchen Beobachtung und meine, dass das alleine dazu dient, mich politisch zu diskriminieren und diskreditieren. Atmo 5 - Gericht Erzählerin [über Atmo] Der Jurist des hessischen Verfassungsschutzes baut auf seinem Tisch Gesetzesbücher vor sich auf. Die Richterinnen und Richter erscheinen, drei hauptamtliche, zwei ehrenamtliche, Kameras und Aufnahmegeräte müssen ausgeschaltet werden. Zwei Stunden wird verhandelt. Dann ziehen sich die Richter zur Beratung zurück. Auf dem Flur diskutieren Freunde und Besucher. Atmo 6 - Diskussion Flur O-Ton 21, ehemalige Kollegin Frau Gingold ist eine Kollegin, mit der ich 20 Jahre zusammengearbeitet habe, und die ich immer als integere und engagierte Kollegin erlebt habe, und ich kann sehr gut nachfühlen, was es für sie persönlich bedeutet, davon auszugehen, dass im Umfeld irgendwer sie bespitzelt. Wenn sie eine E-Mail, die sie mir schickt, eigentlich schon überlegen muss, wem schicke ich die jetzt, weil, den ziehe ich da mit hinein, und das ihr ganzes persönliches Leben betrifft und dass das hier gewürdigt würde, das hätte ich mir schon gewünscht. Erzählerin [über Atmo Gerichtssaal] Der Beratungsbedarf unter den Richtern ist groß. Dann wird klar: Ein Urteil wird an diesem Tag nicht gesprochen. Atmo 7 - Gericht, Urteil nicht [Einstieg bei 0:55] ... die Entscheidung wird dann zugestellt. Ich gehe davon aus, eher in Wochen statt in Tagen. Wird schriftlich zugestellt ...das Gericht muss über die Klage insgesamt entscheiden ... Erzählerin Otto Jäckel bekommt es zwei Wochen später per Fax. Silvia Gingolds Klage wird abgewiesen. Das Gericht in Kassel schließt sich den Argumenten des Verfassungsschutzes an. Der sagt, Silvia Gingold werde nicht persönlich beobachtet sondern als "Beifang" von Vereinigungen, die der Verfassungsschutz als linksextremistisch einordnet. Und er wirft ihr vor, dass sie sich von solchen Gruppierungen einladen lasse - und mit ihrer Familiengeschichte Werbung für diese mache. Im Urteil heißt es: Zitator Urteil Für die Bewertung, ob das Halten eines Vortrags zum Thema "40 Jahre Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland" eine extremistische Bestrebung darstellt, geht es (...) nicht allein um den Inhalt des Vortrages der Klägerin, sondern auch darum, zu welchem Anlass und in welchem Umfeld dieser gehalten worden ist. (...) Hierbei zieht das Gericht in Betracht, dass die Klägerin wegen der relativen Bekanntheit ihres Namens als Tochter eines Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus quasi als Magnet für Personen gewirkt hat, die den Zielen der Veranstalter bislang eher ferngestanden haben. Atmo 8 - Metzner O-Ton 23, Mathias Metzner ... das Landesamt kann Daten erheben auf der Grundlage seiner Aufgabenstellung und die ist definiert: ... Erzählerin Mathias Metzner ist Vize-Präsident des Verwaltungsgerichts Kassel und stellvertretender Pressesprecher. Er will das Urteil gern erläutern, wird die Arbeit der Kollegen aber nicht werten, sagt er und zitiert Paragraf 2 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes. Danach kann der Verfassungsschutz Daten sammeln, um rechtzeitig Gefahren abzuwehren .... O-Ton 26, Otto Jäckel Hier wird sozusagen eine Brücke geschlagen, von den Meinungen und der politischen Betätigung der Frau Gingold selbst, die völlig außer Betracht bleibt, zu unterstellten extremistischen Bestrebungen anderer ... Erzählerin Otto Jäckel hält die Beobachtung und Datensammlung für verfassungswidrig. O-Ton 27 A, Otto Jäckel ... denn hier werden die verfassungsmäßigen Rechte von Frau Gingold verletzt. Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Organisationsfreiheit. Erzählerin Für ihn stehen politische Gründe dahinter. O-Ton 27 B, Otto Jäckel Im Grunde genommen sollen Personen, die bestimmte politische Auffassungen vertreten, so aus dem politischen Diskurs, aus dem Meinungsspektrum im Grunde genommen, entfernt werden und isoliert werden. Und das halte ich für einen ganz massiven unzulässigen Eingriff in die freie Meinungsäußerung und in das freie Spiel der politischen Kräfte. Erzählerin Das Problem für Silvia Gingold und ihren Anwalt ist: Sie wissen nicht, was der Verfassungsschutz alles über sie gesammelt hat. Einen Großteil der Akten gibt das Amt nicht heraus oder Papiere sind geschwärzt. Und es ist fast aussichtslos zu erfahren, was es überhaupt an Material gibt. Denn der Verfassungsschutz legt auch dem Gericht nicht alles vor. O-Ton 28 A, Mathias Metzner Wir bekommen zunächst mal überhaupt keine Akten. Die Behörde verweigert die Vorlage der Akten und kann das nach Paragraf 99 VwGO unter bestimmten Voraussetzungen tun ..... O-Ton 28 B, Mathias Metzner Ich würde das jetzt einfach mal zitieren: Die Vorlage der Akten kann dann verweigert werden, wenn ... Erzählerin Es geht um Gefährdung von Bund und Ländern und um Geheimhaltungsbedürfnisse. In einem nicht öffentlichen Verfahren, dem sogenannten In-Camera-Verfahren, hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Sperrungen und Schwärzungen überprüft - und zum Großteil bestätigt. Würden die Schwärzungen aufgehoben, sei die Arbeit der Geheimdienste behindert, heißt es. Für das Gericht ist die Entscheidung bindend. Es kann deshalb nicht über die Löschung der Daten urteilen, sagt Mathias Metzner. O-Ton 29, Mathias Metzner Da man das nicht weiß, was das Landesamt im Übrigen über die Klägerin gespeichert hat, kann man auch nicht darüber entscheiden. die Klägerin müsste dann in diesem Fall auch erst einmal darlegen, was hat das Landesamt für Daten von mir - was sie grundsätzlich natürlich auch in diesem Fall nicht kann. Atmo 9 - Blättern O-Ton 30, Silvia Gingold Da gab es sozusagen eine Sperr-Erklärung und da über 100 Seiten geschwärzt waren, musste jede Seite begründet werden, warum sie geschwärzt ist. Da gibt es ein paar beispielhafte Erklärungen: Es steht zu befürchten, dass auch die eingeschränkte Bekanntgabe der Deckblatt-Meldungen aus diesem Bereich, das Beobachtungsobjekt und das damit verbundene Aufklärungsinteresse des Landesamtes für Verfassungsschutz offenbaren würde ... Erzählerin Am Esstisch im Wohnzimmer durchsucht Silvia Gingold ihre Akten, liest Sperrerklärungen vor, zeigt die Schwärzungen. Dicke schwarze Balken über jeder Zeile, über fast jedem Wort. Zu lesen ist oft nur ihr Name und ein Datum. Als Grund steht da auch: Weiter O-Ton 30, Silvia Gingold .... zudem handelt es sich um hochsensibles Aufkommen, da die Informationen aus persönlichen Gesprächen gewonnen wurden oder: Wurde geschwärzt aufgrund von schutzwürdigen Belangen Dritter, in Klammer: Quellen-Bezeichnungen, Namen anderer Personen, Bezeichnungen der Beobachtungsobjekte .... Erzählerin Sie engagiert sich im Kasseler Friedensforum. Das taucht in den Akten konkret auf. O-Ton 31, Silvia Gingold .. es wird gebeten von oben genannten Personen folgendes zu ermitteln, abzuklären bzw. zu beschaffen und dann ist hier angekreuzt: vollständige Personendaten, Meldedaten, Lichtbild und unter sonstiges steht: die beschafften Lichtbilder BITTE vor Übersendung Zwecks Identifizierung der Personen als Teilnehmer von Veranstaltungen des Kasseler-Friedens-Forums vorlegen. Erzählerin Für ihren Anwalt Otto Jäckel sind die Sperrerklärungen ein Hinweis, dass Informanten eingesetzt werden. Von "Beifang" kann für ihn da keine Rede sein. O-Ton 32, Otto Jäckel ... das deutet darauf hin, dass es möglicherweise nicht nur einen sondern eine Vielzahl von Informanten gibt, die den Verfassungsschutz mit Informationen versorgen. Vielleicht auch hauptamtliche Mitarbeiter des Verfassungsschutzes selbst, aber auch vielleicht informelle Mitarbeiter, die gegen Geld dann vielleicht die Lesereisen von Frau Gingold begleiten und dort im Zuschauerraum sitzen und vielleicht mit Aufnahmegeräten das alles aufnehmen, was sie dort sagt. Oder mitschreiben und dann anschließend Spitzel-Berichte darüber anfertigen. Davon muss man ausgehen. O-Ton 33, Silvia Gingold Das hat schon was mit mir gemacht. Ich bin nach wie vor politisch aktiv und werde auch nichts ändern und trotzdem bringt das eine Form von Misstrauen mit sich, dass ich natürlich immer auch im Hinterkopf habe, könnte das jemand sein der irgendwelche Informationen weitergibt. Erzählerin Sie ist bei Kundgebungen gegen die AfD, beteiligt sich an Mahnwachen gegen den Syrien-Krieg, demonstriert gegen Missstände in der Bildungspolitik. Und liest immer wieder aus der Biografie ihres Vaters. Im Urteil wird eine Lesereise explizit genannt: die vom Oktober 2011 in Bayern - organisiert von der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten", kurz VVN-BdA, wie die Vereinigung heute komplett heißt. Auch hier mache Silvia Gingold mit ihren Auftritten Werbung für eine linksextremistisch beeinflusste Organisation, urteilt das Gericht: Zitator Urteil Die VVN-BdA ist als linksextremistisch beeinflusste Organisation langjähriges Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Daran ändert nichts, dass die VVN-BdA in den jüngsten Verfassungsschutzberichten des Bundes und des Landes Hessen nicht mehr aufgeführt ist. Atmo 10 - VVN 10 A Sprecher Berlin, Stadtteil Lichtenberg. Das Bundesbüro der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Erzählerin Im Flur stapeln sich Kartons mit Broschüren und Flyern: Gegen Rechts, gegen die AfD, gegen Neonazis. Im Besprechungsraum stehen Zeitzeugenberichte in Zweierreihen im Regal. Das Bundesbüro hat Hans Coppi gefragt, ob er das Gespräch übernehmen will. Coppi, 76, ist Ehrenvorsitzender der VVN, seine Eltern waren in der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" aktiv - sie wurden vom Naziregime hingerichtet, da war er noch kein Jahr alt. Er ist bei seinen Großeltern in Ost-Berlin aufgewachsen, war einige Jahre Parteisekretär der SED, forschte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, war nach 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Er kennt die wechselvolle Geschichte der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes". Und erklärt erst einmal, warum diese bei ihrer Gründung überparteilich und offen für alle sein sollte. O-Ton 34, Hans Coppi ... es kreisten natürlich auch immer wieder die Diskussion darum, wie konnte es überhaupt dazu kommen und was sollten wir denn als Überlebende an Schlussfolgerungen ziehen. Und eine Schlussfolgerung war, dass man davon ausging, dass es jetzt nicht mehr um die Herkunft geht, ob der eine in der SPD oder KPD oder gar keiner Partei oder christlich war oder jüdisch, sondern alle hatten unter diesem Nazi-Regime zu leiden, sie hatten alle größtenteils auch Verluste, das heißt Angehörige hatten diesen Krieg und die Verfolgung und den Terror nicht überlebt. Erzählerin Schon kurze Zeit später gerät die Vereinigung aber zwischen die Systeme. O-Ton 35, Hans Coppi Die Besatzungszonen setzten auch die Politik ihres Landes um. Die Regierung hatte sich gewandelt und schlug dann auch zum Beispiel auf die SPD durch, wo man gewissermaßen die VVN damals so als eine Organisation wahrnahm wo mehr Kommunisten organisiert waren. Das war aber auch natürlich darauf zurückzuführen, dass die KPD auch in ihren Reihen die größten Verluste zu verzeichnen hatte und der Widerstand, auch in der Zeit 33 bis 45, immer wieder auch von Kommunisten forciert wurde, teilweise in Gemeinschaft mit Sozialdemokraten und, und, und .... Erzählerin Im Westen kritisiert die SPD, dass die VVN zu sehr von Kommunisten geprägt sei und beschließt die Unvereinbarkeit: Man kann nicht mehr in der SPD und gleichzeitig in der VVN sein. Viele Nicht-Kommunisten treten daraufhin aus. 1959 versucht das Innenministerium die VVN als kommunistische Tarnorganisation zu verbieten, scheitert aber am Verwaltungsgericht. Auch im Osten hat es die Vereinigung schwer. Erst wird sie von der SED vereinnahmt - und 1953 schließlich vom Zentralkomitee aufgelöst. Die DDR versteht sich als antifaschistischer Staat. Antifaschismus gilt in der DDR als Staatsdoktrin. Da braucht es aus Sicht der SED keine eigenständige Vereinigung der Verfolgten. O-Ton 36, Hans Coppi Damit verlor ja die VVN praktisch, die Verfolgten, verloren damit eine eigene Stimme die sie hatten, ja, und zwar gab es dann ein Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer. Was das aber nicht wirklich ersetzen konnte. Das Komitee der Widerstandskämpfer war eigentlich eine verlängerte Abteilung oder Ressort des Zentralkomitees der SED. Erzählerin Hans Coppi war Mitglied im Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer. Die große Erinnerungskultur war Sache der Partei, sagt er. Der "Tag der Opfer des Faschismus", jeder zweite Sonntag im September, diente immer mehr der Mobilisierung für den Sozialismus. Nach Coppis Eltern wurden Schulen benannt. In der DDR wurden sie als antifaschistische Helden verehrt. In der Bundesrepublik galten sie als Landesverräter. O-Ton 37, Hans Coppi Und eines ist eben auch der Umgang mit dem Antifaschismus, der bei allem Engagement auch darunter gelitten hat, dass er zu sehr politisch war. Und wenn ich mich erinnere, worüber habe ich gesprochen, ja natürlich über die Geschichten die ich von Freunden meiner Eltern weiß. Aber es war gewissermaßen immer auch eine Auseinandersetzung von mir, mit dem was im Westen war, weil da die Gestapo-Leute, oder auch die Richter des Reichsgerichtes, ja nie belangt wurden für das, war für mich gewissermaßen auch die Grenze, eine Grenze die für mich auch war. Erzählerin Während die SED die VVN in der DDRauflöst, unterstützt sie die Vereinigung im Westen finanziell. O-Ton 38 Johannes Tuchel Die VVN hat bis 1989, soweit ich es weiß, eine Finanzierung aus der DDR bekommen. Und dann würde ich nicht sagen, es ist linksextrem unterwandert gewesen, sondern Entschuldigung, das ist dann eine unmittelbare Einflussarbeit des anderen deutschen Staates gewesen ... Erzählerin Johannes Tuchel, Politikwissenschaftler und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. O-Ton 39, Johannes Tuchel Sie haben bestimmte Verlage gehabt, wie den Röderberg-Verlag, der damals komplett aus der DDR finanziert worden ist. Sie haben die Zeitschrift "Die Tat" der VVN gehabt, die, sagen wir mal, zu großen Teilen aus der DDR finanziert worden ist. Und sie haben die VVN gehabt, deren Funktionäre finanzielle Unterstützung aus der DDR erhalten haben. Das wusste man, das war bekannt. Erzählerin Ost gegen West. Kommunismus gegen Kapitalismus. Der kalte Krieg. Was war Propaganda, was reale Bedrohung? Der Historiker Dominik Rigoll O-Ton 40, Dominik Rigoll Ich glaube, selbst in den offiziellen Diskursen, meinetwegen im Verfassungsschutzbericht, wird eigentlich immer betont, wie schwach die Kommunisten sind. Das ist in den 70er-Jahren ganz anders, als in den 50er-Jahren noch. Anfang der 50er Jahre, da waren die Kommunisten auch schwach, da hat man so getan als würde der Iwan hier gleich im Wohnzimmer stehen und man hat meines Erachtens ganz bewusst so getan als stünde ein kommunistischer Aufstand bevor und ein Angriff der Roten Armee. Und vor diesem Hintergrund hat man Westdeutschland wiederbewaffnet und die KPD verboten. Erzählerin Der hessische Landesverfassungsschutz argumentiert bei der Einordnung der VVN mit deren Faschismustheorien - und mit dem "Schwur von Buchenwald", den die befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald am 19. April 1945 bei einem Gedenkappell für die Ermordeten verlesen. Zitator Schwur von Buchenwald Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Erzählerin In Buchenwald hatte das NS-Regime viele politische Gegner inhaftiert, Antifaschisten aus ganz Europa: kommunistische Widerstandskämpfer, Künstler, Politiker, Literaten - spätere Nobelpreisträger. Sie organisierten sich im Lager, gründeten ein illegales Komitee. Die DDR hat diesen kommunistischen Widerstand innerhalb des Lagers lange überhöht. Der Schwur von Buchenwald wurde zu einem antifaschistischen und antikapitalistischen Gründungsmythos der DDR. O-Ton 41, Silvia Gingold Den Nazismus mit den Wurzeln auszurotten, und das heißt, im Grunde genommen auch die Ursachen des Faschismus aufzuzeigen, die im Kapitalismus gesehen werden. Was aber nicht heißt, dass der Kapitalismus automatisch zum Faschismus führt, aber in dem Fall war es so. Erzählerin Der Verfassungsschutz zieht daraus einen Rückschluss und erklärt: Zitator Schriftsatz Die VVN-BdA beruft sich (...) auf den "Schwur der Häftlinge von Buchenwald", der sich wiederum auf die, in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte, kommunistische Faschismustheorie stützt. Diese bezeichnet den Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus. "Demokraten" seien demnach nur jene, die sich im Sinne dieser Theorie als "Antifaschisten" betätigen. Konkludent lehnt der Verband also die "kapitalistische", mithin freiheitlich demokratische Grundordnung ab. Erzählerin Der hessische Landesverfassungsschutz definiert die freiheitlich demokratische Grundordnung als "kapitalistische" Grundordnung. Dabei gibt das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschafts- oder Gesellschaftsform für Deutschland vor. O-Ton 42, Silvia Gingold Natürlich wollen wir auch Veränderungen in der Gesellschaft, aber natürlich nur mit Mehrheiten und natürlich nur im Rahmen des gesetzlichen Rahmens. Und es gibt überhaupt keinen konkreten Nachweis, wo sich die VVN irgendwo verfassungswidrig verhalten hätte. Das sind Behauptungen oder Unterstellungen, die in keinster Weise juristisch oder sonst irgendwie legitimiert sind .... Erzählerin Peter und Ettie Gingold haben nach der Hitler-Diktatur, nach Verfolgung und Flucht auf ein besseres Deutschland gehofft. Für sie lag diese Hoffnung in einem anderen Gesellschaftssystem. 1989 fällt die Mauer. O-Ton 44 a, Silvia Gingold (...) Meine Eltern haben das sozusagen als ein Rückschlag in der Hoffnung einer besseren Gesellschaft gesehen ... Erzählerin [oc] In der Familie Gingold wurde viel aufgearbeitet und diskutiert, erinnert sich Silvia Gingold. O-Ton 44 b, Silvia Gingold [oc] ... viele Menschen sind arbeitslos geworden, die soziale Situation hat sich vehement verschlechtert. Insofern gab es eigentlich nicht nur Positives zu sehen, weil es aus unserer Sicht nicht nur um die sogenannte Befreiung der Menschen ging, sondern viele waren durch ihre Arbeitslosigkeit alles andere als frei. Die Mieten sind gestiegen, soziale Zusammenhänge sind zerbrochen. Von daher muss man auch die andere Seite der Vereinnahmung der ehemaligen DDR sehen. Erzählerin Auf der Homepage des Bundesamts für Verfassungsschutz gibt es die Rubrik "Häufig gestellte Fragen". Frage Vier lautet: Was ist der Unterschied zwischen radikal und extremistisch? Das Bundesamt erklärt dazu: Zitator Homepage Verfassungsschutz Über den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er häufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind zum Beispiel Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt. Musik-Ausschnitt Lied Hannes Wader Erzählerin Silvia Gingold hat bei Gericht die Zulassung der Berufung beantragt. O-Ton 47, Silvia Gingold Es ist ja so, dass ich nicht unbedingt darauf bedacht bin, immer im Rampenlicht zu stehen. Aber ich spüre, dass ich das nicht nur mir, sondern vor allen Dingen auch meinen Eltern schuldig bin. Ihnen war es ganz wichtig, die Erinnerung wach zu halten und das wofür sie gekämpft haben, dass das nicht vergebens war. Erzählerin Weder das hessische Landesamt für Verfassungsschutz noch ein Vertreter des Bundesamtes waren zu einem Interview bereit. Das Bundesamt schrieb in seiner Absage-Email, das Amt würde einfach zu viele Interviewanfragen erhalten. Absage Unter Beobachtung Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz Ein Feature von Christine Werner Es sprachen: Hildegard Meier und Axel Gottschick Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Roman Weingardt Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019. 1