"Unsere Kunstbürokratie stammt noch aus der Sowjetzeit"

Andrej Jerofejew im Gespräch mit Ulrich Ziegler · 13.11.2010
Der Kunsthistoriker Andrej Jerofejew hat der Staatsführung unter Putin vorgeworfen, die russische Kultur der extremen Rechten in Russland zu opfern. Man lasse die ultrakonservativen Kräfte die Kultur zerstören, um ihnen keinen Platz in der Politik einräumen zu müssen, erklärte der ehemalige Leiter der Abteilung für zeitgenössische Kunstrichtungen der Moskauer Tretjakow-Galerie.
Deutschlandradio Kultur: Im Oktober konnten erstmals Homosexuelle in der russischen Hauptstadt für ihre Rechte demonstrieren. Auch die Bewegung "Strategie 31", die sich schon lange für die Versammlungsfreiheit einsetzt, erhielt eine Demonstrationserlaubnis. Aber auch Zehntausende rechtsradikale Nationalisten durften landesweit für ein starkes Russland auf die Straße gehen.
Herr Jerofejew, sind das gute Nachrichten aus Moskau?

Andrej Jerofejew: Wissen Sie, es vollzieht sich ein Machtwechsel in Moskau. Nicht nur der Bürgermeister wird gewechselt, sondern auch der ganze bürokratische Apparat wird ausgetauscht. Und es ist im Moment natürlich, dass es etwas schwächer zugeht bei der Kontrolle, was die Handlungen der Bevölkerungen anbelangt. Die Situation hat vielleicht im Moment einen Übergangscharakter.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie können noch nicht eindeutig eine Richtung erkennen, möglicherweise in Richtung mehr Demokratie?

Andrej Jerofejew: Wir warten jetzt auf demokratische Änderungen im Lande. Alle versuchen den Wind zu fühlen, wie früher die Seemänner bei den Segelschiffen. Wir sind jetzt in einer Situation, wo wir eine Windstille haben. Die Situation wird sich wohl so schnell noch nicht ändern.

Deutschlandradio Kultur: Andererseits erleben wir den Prozess gegen Michail Chodorkowski, den inhaftierten Kreml-Gegner und Öl-Milliardär und reiben uns im Westen verwundert die Augen. Hat Chodorkowski recht, wenn er zum Abschluss seines Prozesses Russland als einen "kranken Staat" bezeichnet?

Andrej Jerofejew: Er sagt doch auch, dass die russische Politik, das russische öffentliche Leben einen Übergangscharakter hat. Ich unterstütze das, weil das tatsächlich so ist. Einerseits passieren Dinge, die die Gesellschaft nicht kontrollieren kann, wo sie sich nicht einmischen kann. Dieser schreckliche Prozess gegen Chodorkowski und gegen Platon Lebedew, ein Prozess, der völlig falsch ist, das ist völlig klar, dass das ein falscher Prozess ist, dass er auf falschen Beweisen beruht ... Und man kann doch nichts machen, außer dass man darüber reden und darüber schreiben kann. Man kann im Rundfunk darüber sprechen und man kann in der freien Presse darüber schreiben. Diese Situation hatten wir zu sowjetischen Zeiten nie. Das ist eine völlig neue Situation für uns jetzt, dass wir eine Freiheit des Wortes haben, die aber völlig ineffizient ist.

Deutschlandradio Kultur: Dann kommen wir auf Sie zu sprechen. Denn Sie haben ja wohl auch versucht, im Jahr 2006 sich einzumischen, indem Sie Bilder gezeigt haben von russischen Künstlern, die anderswo nicht gezeigt werden durften oder sollten. Und Sie sind deshalb verurteilt worden mit der Begründung, Sie hätten das schlimmste aller Verbrechen begangen als Kurator, nämlich den Glauben beleidigt. Haben Sie das?

Andrej Jerofejew: Nein, natürlich habe ich niemanden beleidigt. Das Thema meiner Ausstellung war die Zensur im russischen Kulturleben nach 17 Jahren der Freiheit. 1991 wurde die Verfassung verabschiedet. In dieser Verfassung gibt es ein Verbot der Zensur. Das ist dort festgeschrieben worden und bisher hat das niemand angezweifelt von den Staatsführern.

Aber seit dem Jahr 2006 werden Ausstellungen regelmäßig mit unbegründeten Beschlagnahmen von Kunstwerken belegt. Das heißt, die Verwaltung versucht, sich jetzt in einem bestimmten Moment einzumischen und nach eigenem Benehmen da Kunstwerke herauszuziehen. Das geschieht oftmals nicht nur durch sehr unprofessionelle Erwägungen.

Das sind Vorstellungen von der Kunst. Unsere Kunstbürokratie stammt noch aus der Sowjetzeit und hat gar keine entsprechende fachliche Ausbildung. Und die moderne Kunst, die moderne Kunst und moderne zeitgenössische Kultur verbindet nichts mit diesen Leuten. Seit der sowjetischen Zeit muss diese Kunst kämpfen. Und es läuft unter der Beleidigung der Figur des Künstlers an sich. Es wurde in der sowjetischen Zeit verbunden mit allen negativen Sünden, die der Mensch nur haben kann. Dieser Kampf hat im ganzen sozialistischen Lager, in allen sozialistischen Ländern stattgefunden. Und dieses kulturelle Erbe hat sich noch nicht geändert, auch nicht in der Perestroika-Zeit.

In einer bestimmten Phase hat man versucht, aktive eigene Politik zu machen. Man hat versucht, abwartende Positionen einzunehmen. Seit Jelzin aber nicht mehr da ist und seitdem wir Putin an der Macht haben, geht das Land doch in eine Richtung, die eher zurückgeht zu sowjetischen Positionen. Und die Leute denken wieder daran, wie sie sich standardmäßig damals verhalten haben in Bezug auf die Kunst, dass sie verbieten müssen, dass die Kunst etwas ist, was der Macht zu dienen hat, der herrschenden Partei zu dienen hat. Das ist die Position.

Deutschlandradio Kultur: Nun stellt sich natürlich die Frage, ob im Zusammenhang mit Ihrem Prozess und der Frage, was Kunst im Land darf und was nicht darf, ob wir oder Sie in Russland stellvertretend eine Diskussion führen, wo es nicht nur um Kunst geht, sondern möglicherweise auch um die Frage, in welche Richtung wird das Land gehen.

Andrej Jerofejew: Ich wollte noch einmal fortsetzen zur Kulturbürokratie. Die Kulturbürokratie hat keine legalen Mittel, sich einzumischen in das kulturelle Leben. Deshalb versucht sie es mit anderen Mitteln, mit fremden Händen. Sie nutzt den konservativen Teil der Bevölkerung, die orthodoxe Bevölkerung, die aktiv auf diese Formen reagiert, auf diese zeitgenössische Kunst, auf diese, wie sie meint, bestialischen Formen der Kunst reagiert. Die orthodoxe Kirche und die Kirche an sich stehen auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite sind das ultrarechte Organisationen. Die treten auf als Schutzpatron des Volkes, als Helfershelfer der orthodoxen Bevölkerung, weil das die einzige Form ist, das gesellschaftliche Leben zu erreichen, in die große Politik hineinzugelangen. Die ultrarechten faschistischen Organisationen, die wir haben in unserem Lande, haben keine Präsenz im Parlament. Sie sind nicht in den kommunalen Parlamenten vertreten. Der Kampf gegen die Kunst ist die einzige Ausdrucksform, die sie haben.

Deutschlandradio Kultur: Im Moment scheint dann Russland, das demokratische Russland überfordert zu sein mit solchen Auseinandersetzungen, die Sie gerne im Land führen würden.

Andrej Jerofejew: Unser Wappen, im Unterschied zu Ihnen, hat einen Adler mit zwei Köpfen. Diese Richtung der russischen Politik sieht man überall. Das ist personifiziert sogar in der Führung des Landes. Russland erklärt einerseits, dass es sich modernisieren will, andererseits gab es vor Kurzem ein Manifest des bekannten Regisseurs Michalkow, das Russland in Richtung eines fundamentalistischen konservativen Staates gehen solle. Sowohl die eine als auch die andere Haltung reflektieren die Position großer Bevölkerungsgruppen. Die Kultur schätzt man nicht. Und um irgendwie sich da zu einigen mit den ultrarechten Kräften, mit den konservativen Kräften, um ihnen keinen Platz geben zu müssen in der Politik, gibt man ihnen das Recht, die eigene Kultur zu zerstören.

Deutschlandradio Kultur: Dann könnte man vielleicht zugespitzt sagen: In Russland herrscht im Moment so etwas wie ein ideologisches Vakuum, das die Rechte oder auch Teile der orthodoxen Kirche versucht zu besetzen, weil der Kreml, weil die Putins und Medwedews dies nicht erreichen können?

Andrej Jerofejew: Man kann von einem Vakuum sprechen, ja. Ich glaube aber nicht, dass das ein negativer Umstand wäre. Einerseits ist in Russland das sogenannte Westlertum sehr verbreitet, die europäische Linie. Das hat nicht nur mit der Kultur zu tun, wie in sowjetischen Zeiten, sondern auch im politischen Bereich, in der politischen Opposition gegenwärtig. Es gibt eine ganze Reihe von nicht sehr populären, nicht sehr großen, aber doch pro-westlichen, liberalen Parteien. Das ist der ideologische Teil zum einen. Und der Kreml sieht das und lässt sich deshalb auf eine Modernisierungspolitik ein.

Zum Zweiten gibt es Menschen, die versuchen, das Land in die konservative Richtung zu drängen, in die Richtung eines diktatorischen Staates, noch schlimmer, in Richtung eines fundamentalistischen Staates, eines bürokratischen Staates, der aufgebaut ist nach den Prinzipien, nach dem Beispiel des Iran.

Deutschlandradio Kultur: Sie benennen diese einzelnen Kräfte. Wie sind denn die Gewichte im Moment? Wie würden Sie das einschätzen? Ist das noch völlig unentschieden? Sie sprachen zu Beginn von einem offenen Rennen sozusagen im Moment.

Andrej Jerofejew: Russland ist jetzt am Scheideweg. Wir sehen dies an diesen Manifestationen, die einander gegenüberstehen. Und dieses Schwanken, dieses Auf-der-Schwelle-Stehen und dieses Überlegen, wohin geht man, welche Richtung zwischen Ost und West, dieses traditionelle Hin- und Herschwanken, das ist recht schädlich, sehr schädlich für unser Land, für die Entwicklung in unserem Land. Das ist eine reale Gefahr für unser Land, wirtschaftlich, politisch, kulturell. Das führt zu dem Rückstand unseres Landes. Unser Land verliert gegenüber dem Rest der Welt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie von einem Hin- und Herschwanken reden und wir betrachten die Geschichte Russlands, die ja anders gelaufen ist als im Westen, in Frankreich, in Deutschland, muss Russland seinen eigenen Weg finden, der vielleicht nicht mit der Schablone funktionieren kann, wie wir uns das im Westen vielleicht schön vorstellen könnten?

Andrej Jerofejew: Das ist ein verbreitetes Stereotyp der Ideologie. Dieses Klischee des Sonderwegs Russlands wird sehr gerne benutzt. Dieser Weg, der isolationistischen Entwicklung abseits der Welt, irgendwo im Wald, so wird oftmals von Leuten gesprochen, die nicht den Weg in die moderne Zivilisierung finden. Nach der Revolution, nach der großen Wende war ein großer Teil unserer Gesellschaft in der Situation, dass sie an den Rand gedrängt wurden. Sie waren frustriert. Sie waren krank. Sie waren traumatisch behandelt. Und daher kommt jetzt auch diese Sehnsucht nach diesem isolationistischen Entwicklungstyp. Aber ich glaube, das ist eine Idee, die schädlich ist für unser Land. Es hat keine Perspektive. Wir verlieren das ganze Land dabei. Obwohl viele davon reden, wir sind ein riesiges Land mit riesigen Problemen, ist es ein riesiges Land, das keine eigene Identität hat.

Ich hoffe trotzdem, dass das Verständnis dessen, dass Russland im politischen, im kulturellen Bereich, gerade im kulturellen und politischen Bereich ein Teil Europas ist, nicht nur im geografischen, ist ein Verständnis, das bei uns existiert seit dem 18. Jahrhundert, seit Peter dem Großen. Wir haben das 18., 19. Jahrhundert erlebt als Teil der großen europäischen Kultur. Wir waren ein Teil der europäischen Kultur, der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Und Russland hat da große Beiträge geleistet. Die Avantgarde der 20er, der 30er-Jahre war kein einzelner Weg, sondern diese Avantgarde war ein Teil der europäischen Entwicklung. Und ich glaube, deshalb müssten wir, um die Existenz unserer Kultur zu sichern, auch der Wissenschaft, darüber wird auch sehr viel gesprochen, alles dafür tun, dass wir auf dem Weg der Integration vorankommen.

Eine andere Sache ist, dass wir in letzter Zeit im Unterschied zur sowjetischen Zeit – wir können uns noch gut daran erinnern, ich habe die Hälfte meines Lebens in der Sowjetzeit verbracht – immer weniger Unterstützung seitens Europas bekommen. Wir sehen immer weniger Interesse. Ich sage das aus meinem eigenen Bereich in der Kultur. Wir sehen immer weniger Interesse unserer europäischen Kollegen, teilzuhaben an diesem Integrationsprozess. Es gibt den Wunsch, ja, natürlich, aber es gibt keine grundsätzlichen großen Aktionen, die der Integration helfen. Solche Aktionen fehlen. Und es gibt sie immer weniger und weniger. Man hat das Gefühl, dass Europa zwar einverstanden ist, das zu machen und zu akzeptieren, aber man sagt: Russland ist irgendwie anders.

Ich glaube, das ist ein großer Irrtum. Und diese Position kann man nicht akzeptieren und man muss Russland an die Hand nehmen und muss Russland herausziehen aus dieser schwierigen Situation, in der sich Russland befindet. Es gibt Geld, es gibt Öl, ja. Aber wirtschaftlich, kulturell, ideologisch befindet sich das Land in einer schwierigen Zeit. So, wie damals die DDR, die man auch herausgezogen hat. So, wie man die DDR herausgezogen hat, wäre es gut, wenn man auch Europa wie einen Anhänger herauszieht aus dieser Situation und dass man Veränderungen vollzieht in der Infrastruktur, dass man Hilfe leistet bei der Ausbildung von Personal, all das fehlt. All das fehlt bis jetzt.

Wir haben vor 20 Jahren, vor 10 Jahren das nicht gehabt. Wir haben alle davon gesprochen, es soll keinen Bürgerkrieg geben bei uns. Gott möge verhüten, dass wir einen Bürgerkrieg haben und eine Spaltung unserer Gesellschaft. Aber im Ergebnis dieses einigen Willens haben wir jetzt ein Land, das einen sehr verlangsamten Entwicklungsweg geht und dass konservative Kräfte immer mehr die Oberhand in der Politik gewinnen.

Deutschlandradio Kultur: Dann müssen Sie mir eines erklären: Russlands Präsident Medwedew will, das hat er gesagt, dass die "chronische Rückständigkeit des Landes überwunden wird". Und er setzt dabei auch auf eine "offene Diskussion und auf eine Demokratisierung der Gesellschaft". So könnte man doch glauben, der Weg, den Russland aus eigener Kraft Richtung Westen gehen möchte, wenn das keine Lippenbekenntnisse sind, ist doch der richtige.

Andrej Jerofejew: Der Weg. Aber Sie sagen ja selbst "Lippenbekenntnisse". Oftmals haben unsere Politiker in der sowjetischen Zeit – und mein Vater war Diplomat, ich kenne mich da aus, mein Vater galt als politisch so klug, dass man Erklärungen abgegeben hat, die waren völlig konträr zu der wirklichen Situation. Das heißt, das kommunistische Regime hat immer geschworen auf Freiheit und Demokratie. Man sprach von volksdemokratischen Ländern. Und das waren alles unsere Verbündeten. Alle Länder waren Volksdemokratien. Aber Wort und Tat gingen völlig auseinander. Und Russland mit der Bürokratie, die aus dem sowjetischen Apparat noch auf uns überkommen ist, aus der sowjetischen Nomenklatur, das ist immer noch der Typ der beruhigenden Demagogie.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt gibt es mehr als fünf Millionen Russen, die mittlerweile mit russischem Pass im Ausland leben. Es sind auch viele Intellektuelle dabei, die sich entschieden haben, in den Westen zu gehen – nach Amerika, wo auch immer. Sind das die umtriebigen Intellektuellen, die auch dem Land fehlen?

Andrej Jerofejew: Ja. Das ist ein großes Problem. Das sind diese Leute, die, die aus dem Nest gefallen sind. Sie helfen jetzt nicht dem Land, sich zu entwickeln. Sie nutzen das Land für ihre persönlichen Dinge. Sie treffen sich mit ihren Angehörigen und suchen dort ihr Nest gelegentlich wieder, aber eigentlich arbeiten sie für die ganze offene Welt und helfen Russland nicht. Und ich meine hier nicht nur die Wirtschaftsleute. Und ich meine nicht die Politiker. Ich meine auch die Kulturschaffenden. Viele Künstler, russische Künstler leben auch in Deutschland. Sie nehmen nicht mehr teil am kulturellen Leben des eigenen Landes. Das ist also eine Gefahr, denn unsere Kultur und auch die Kunst bei uns im Land, die zeitgenössische Kultur, die derzeitige Kultur ist eine exterritoriale oder wird eine exterritoriale sein.

Kandinsky hatten wir als Künstler, andere, sie sind seinerzeit aus dem Land ausgereist, haben das Land verlassen und haben den größten Teil ihres Lebens in Deutschland und in Frankreich verbracht. Sie hatten auch solche Künstler, die auch in den schwersten Zeiten Deutschlands das Land verlassen haben. Ich glaube, dass diese Dinge miteinander im Zusammenhang standen. Ich glaube, für unser Land wird es eine schwere Zeit geben, wenn das Land durch Emigration den denkenden Teil der Bevölkerung verliert, die Kultur. Wir müssen diesen Prozess mit allen Kräften stoppen. Hier haben wir ein Problem, weil doch die Menschen bei uns, die Staatsführer, die Politik bei uns traditionell entfernt sind von der Kultur. Sie verstehen nicht den wirklichen Sinn einer kulturellen Botschaft. Sie können das nicht adäquat bewerten. Und sie fassen die Kultur als ein Reizmittel auf, was noch zusätzlich die Gesellschaft in Aufruhr bringt und was man neutralisieren muss. Daher kommt es, dass unser kulturelles Leben ein aktives Leben ist. Und es findet statt im Lande gegen die Staatspolitik, gegen die Institutionen. Und in den Kultureinrichtungen sehen wir ein eigenes Leben. Wir sehen es in den staatlichen Kulturinstitutionen, aber vor allem auch in den privaten.

Und jetzt, da wir auch noch Zensur haben und ultrarechte Kräfte, die Verteidiger der traditionellen Werte, in die privaten Kulturinstitutionen kommen und dort mit Pogromen, mit Zerstörung und mit Gerichtsverhandlungen drohen, leidet das moderne kulturelle Leben natürlich völlig. Es wird auf die Straße getragen und stellt nur noch eine Straßenintervention dar, wie eine Partisanenbewegung sozusagen. Es wird nicht geregelt und wird auch in keiner Weise durch kulturelle Institutionen kontrolliert. Es ist eine wilde Kultur, die sich im Moment darstellt und die gar keine legalen Formen mehr hat.

Deutschlandradio Kultur: Aber an Ihrem Beispiel, dem Verbot dieser Ausstellung, wird doch auch klar, dass ein Diskussionsbedarf besteht. Sonst wäre nicht diese Aufregung in der Kirche, überall gewesen. Man hätte es ja auch einfach wegdrücken können.

Andrej Jerofejew: Sie hätten natürlich die ganze Ausstellung wegdrücken können. Aber wie wollen Sie sich das denn wirklich vorstellen, das Wegdrücken der Ausstellung? Ich will noch mal zurückkommen zu dem, was wir sagten. Das ist ein Verstoß gegen die Verfassung. Man muss doch dabei auch sagen, dass die Staatsmacht bestrebt ist, zumindest formal bestrebt ist, die in die Verfassung übernommenen Verpflichtungen einzuhalten. Deshalb handelt sie nicht unmittelbar durch Einmischung der Strafverfolgungsbehörden. Keiner kommt in eine Ausstellung und bringt die Polizei mit und noch andere Geheimdienste und macht eine Ausstellung einfach zu. Warum soll man das machen? Das sieht doch nicht schön aus. Man kann das doch auch anders machen, indem man fremde Hilfe nutzt und sagt, damit haben wir nichts zu tun. Das sind diese konservativen Leute, ultrarechte, faschistische Leute, die Orthodoxie. Was wollt ihr, das ist unsere Bevölkerung. Damit haben wir nichts zu tun.

Sie haben an Chodorkowski erinnert und die kranke Gesellschaft in unserem Land. Ich möchte daran erinnern, dass Putin selbst gesagt hat, man hat über ihn erzählt, dass Putin dieses Bild des kranken Landes eben gerade vorantreibt, das regiert wird von einem gesunden Menschen. Und deshalb sagt man, ja, die Staatsmacht ist zurechnungsfähig. Mit der Staatsmacht kann man reden. Die Staatsmacht ist bereit zum Dialog. Aber drum herum gibt es nur Verrückte und Dumme, die zerstören, die nicht zu steuern sind, die nicht zu lenken sind, es sei denn, neben jedem steht ein Polizist.

Deutschlandradio Kultur: Ihr Bruder, der Schriftsteller Victor Jerofejew hat einmal gesagt: Im Vergleich zur Mehrheit des Volkes sind Leute wie Putin und auch der Patriarch der orthodoxen Kirche eigentlich Liberale. Das Problem steckt woanders, nicht unbedingt im Kreml. Sehen Sie das auch so? Oder habe ich den Bruder falsch verstanden?

Andrej Jerofejew: Nein, nein, das stimmt. Ich bin vielleicht nicht ganz einverstanden mit meinem Bruder in diesem Punkt. Im Russland, im kommunistischen Russland, im zaristischen Russland war es doch so, dass die Staatsmacht viel liberaler war und viel pro westlicher als die Bevölkerung selbst. Aber jetzt in der Regierungszeit Putins und Medwedew scheint es mir so zu sein, dass diese Leute nicht ganz an der Spitze der Erneuerung des Landes stehen. Die Gesellschaft, diese neue Elite, die entstanden ist auf den Ruinen der alten Intelligenz und auch aus der neuen Bourgeoisie herausgewachsen ist, diese Elite sieht die Entwicklung wesentlich klarer und exakter und konkreter als dies Putin und Medwedew selbst tun.

Deutschlandradio Kultur: Es finden Parlamentswahlen im nächsten Jahr statt. Es finden Präsidentschaftswahlen statt im Jahr 2012. Hat die Opposition überhaupt eine Chance, an einem demokratischen Verfahren bei der Wahl teilzunehmen oder wie beurteilen Sie das?

Andrej Jerofejew: Ich glaube, dass solche Möglichkeiten bestehen, zumindest symbolisch. Das ist schon mal gar nicht so schlecht. Aber auf irgendeinen Sieg zu zählen, braucht die Opposition nicht. Der Prozess der Transformation in unserer Gesellschaft ist ein langer Prozess. Es hilft auch niemand dabei. Und deshalb wird es einen Sieg von gesunden Kräften nur am Ende eines langen, langen Weges geben.

Deutschlandradio Kultur: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie sind, man kann das vielleicht so beschreiben, nach dieser Ausstellung "arbeitslos", leben aber weiterhin in Moskau und sicherlich stolz auch, russischer Bürger zu sein. Welche Perspektiven gibt es für Sie in diesem großen russischen Land? Oder denken Sie auch manchmal drüber nach, aus diesem Land zu gehen?

Andrej Jerofejew: Ja, ich bin dafür, im Lande zu bleiben, zumindest im Rahmen des Vernünftigen, solange wie man arbeiten kann und in den Dialog eintreten kann. Ich habe dafür gelitten, dass ich eine politische Aussage gemacht habe. Ich habe erstmalig mit meiner Ausstellung gegen die Zensur protestiert. Dafür musste ich bezahlen. Das bedauere ich. Ich habe die Möglichkeit, auch im Fernsehen zu sprechen. Ich kann im Rundfunk sprechen in Moskau. Ich kann Ausstellungen machen. Ich kann Artikel schreiben, nicht so, wie das früher war, aber ich kann dennoch in meinem Beruf weiter arbeiten, aktiv arbeiten.

Deutschlandradio Kultur: Herr Jerofejew, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Andrej Jerofejew: Ihnen vielen Dank.
Der Moskauer Kurator Andrej Jerofejew (links) und der ehemalige Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow
Wegen der Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" in Russland zu einer Geldstrafe verurteilt: Andrej Jerofejew (links) und der ehemalige Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow© AP
Mehr zum Thema