"Unser Immunsystem ist falsch gepolt"

Moderation: Birgit Kolkmann · 21.04.2008
Nicht jeder Allergiekranke in Deutschland wird qualifiziert behandelt, kritisiert Ulrich Wahn, Leiter des Allergiezentrums an der Berliner Charité. Dadurch leide nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen. Arztkosten und die Abwesenheit vom Dienst verursachten auch finanzielle Belastungen.
Birgit Kolkmann: Wer sich jetzt freut über das frische Grün an Büschen und Bäumen, die satten gelben Kätzchen an den Weiden, der gehört bestimmt nicht zu den 18 Millionen Menschen in Deutschland, denen herumfliegende Pflanzenpollen das Leben zur Hölle machen. Juckende, tränende Augen, geschwollene, triefende Nasenschleimhäute, brummender Schädel: Heuschnupfengeplagte haben jetzt keine schöne Zeit. Und wegen des Klimawandels fliegen inzwischen fast das ganze Jahr Pollen umher, die immer irgendein Opfer finden. – Professor Ulrich Wahn ist für viele Allergiker so etwas wie die letzte Hoffnung, denn Hilfe tut Not, wenn das Immunsystem so verrückt spielt. Professor Wahn ist Chef des Allergiezentrums an der Berliner Charité. Schönen guten Morgen!

Ulrich Wahn: Guten Morgen!

Kolkmann: Professor Wahn, jeder Vierte ist betroffen. Nehmen Allergien in erschreckendem Maße zu?

Wahn: Ja. Sie haben in der Tat in Ihrer Anmoderation nicht übertrieben. Allergien sind bei uns zu einer Art Volkskrankheit geworden und manche sprechen von der Epidemie des 21. Jahrhunderts. Wir haben heute davon auszugehen, dass beispielsweise jeder vierte Teenager an einem Heuschnupfen leidet.

Kolkmann: Sie sprechen die Teenager an. Sie sind selber Kinderarzt. Ist die Situation der Kinder, der Jugendlichen besonders schlimm geworden?

Wahn: Na ja, bei den Kindern beobachtet man die Entwicklung früher und auch intensiver als bei den Erwachsenen. Zwar ist es nie zu spät für die Entwicklung eines Heuschnupfens. Auch Menschen, die bereits im Pensionsalter sind, können dies noch zum ersten Mal bekommen. Aber bei den Allermeisten ist es doch in der Tat eine Kinderkrankheit. Der allergische Marsch beginnt im ersten Lebensjahrzehnt - oft schon im frühen Säuglingsalter. Bei Teenagern ist unser Immunsystem besonders reaktiv. Dort beobachten wir die höchsten Zahlen von Heuschnupfen.

Kolkmann: Sie sprechen von einem allergischen Marsch. Wie muss man das verstehen? Die Umwelt und auch die Luft in den Industriestaaten ist ja eigentlich sauberer geworden. Trotzdem diese erschreckende Zunahme an allergischen Erkrankungen. Was passiert da in unserem Immunsystem?

Wahn: Das ist die 100.000-Dollar-Frage, an der viele Arbeitsgruppen und Forschergruppen auch in unserem Land sehr intensiv tätig sind. Es kann nicht einfach die Verschmutzung der Umwelt sein, wie wir noch vor zwei, drei Jahrzehnten glaubten, die diesen epidemiologischen Trend, den wir beobachten, erklärt. Es muss irgendetwas sich anders verhalten mit dem kindlichen Immunsystem sein, was gegen harmlose Stoffe der Umwelt zu reagieren beginnt. Das sind ja alles reine natürliche Stoffe: Blütenstäube, Tiere, auch Eiweiße aus Nahrungsmitteln.

Viele von uns sagen, das Immunsystem unserer Urgroßeltern noch, was ja mit Allergien kaum etwas zu tun hatte, was anders beschäftigt war mit der Abwehr von Erregern - beispielsweise Bakterien, Viren oder Pilzen -, dieses Immunsystem ist nicht mehr so gefordert durch Infektionserreger und möglicherweise ist der Preis, den wir für die Gesundheit unserer Kinder in dieser Richtung zahlen, die Allergie.

Kolkmann: Sind wir also in gewisser Weise degeneriert?

Wahn: Na ja, ich möchte es nicht unbedingt so bewerten, aber man kann das natürlich tun. Man kann sagen, unser Immunsystem ist falsch gepolt. Es war mal für andere Dinge eingerichtet, nämlich zur Abwehr von Mikroben und Mikroorganismen und jetzt fängt es an, auf Abwege zu geraten. Die Forscher müssen versuchen, dies zu verstehen, um möglicherweise aus diesem Verständnis heraus, neue Strategien zur Behandlung und neue Strategien vor allem zur Vorbeugung zu entwickeln.

Kolkmann: Wenn das Immunsystem also auf falsche Wege gerät, auf die schiefe Bahn quasi, wie kann man ihm die Rote Karte zeigen? Sie sprachen eben davon, das ist die 100.000-Dollar-Antwort, wahrscheinlich sogar die Million-Dollar-Antwort. Sie sagen, die Ärzte haben relativ wenig in der Hand. Aber es ist doch einiges, was sie inzwischen tun können?

Wahn: Ja, absolut. Man sollte die Dinge auch nicht für die vielen Betroffenen dramatisieren. Wir sind heute glücklich, eine Reihe von hoch wirksamen und vor allem gut verträglichen Medikamenten in der Hand zu haben, mit denen wir den Betroffenen wirklich Hoffnung machen können. Aber das genügt nicht! Symptomatische Behandlung kann nicht alles gewesen sein.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Man hat Bevölkerungsteile in Deutschland, die nun exquisit wenig Allergien entwickeln. Dazu gehören diejenigen bayerischen Bauernkinder, die in einem sehr traditionellen Bauernunternehmen groß werden, die quasi im Kuhstall dann gefüttert werden oder Wand an Wand mit Schweinen und Kühen oft leben. Man hat gefunden, dass in den Betten dieser Kinder in hoher Konzentration Moleküle aus bakteriellen Zellwänden zu finden sind – viel höher als dies in anderen Kinderbetten sonst der Fall ist.

Wir sind derzeit dabei, diese Extrakte aus den bakteriellen Zellwänden in eine Art Impfung umzumünzen. Im Tiermodell funktioniert das ganz gut. Wir haben eine große Zahl allergischer Mäuse hier an der Charité, wo man dies schon sehr gut zeigen kann, dass hinter dieser Beobachtung aus den bayerischen Bauernfamilien tatsächlich ein Wirkprinzip zu liegen scheint. Und wir sind natürlich auch dabei, Ideen zu entwickeln, wie man dies für den Menschen nützlich anwenden könnte.

Kolkmann: Ich schließe daraus, wer sich viel in natürlicher Umgebung aufhält hat auch mehr Abwehrstoffe gegen diese natürlichen Erreger, die da kommen. Wir müssen vielleicht noch mal auf das Thema kommen: Welche Folgen hat es denn eigentlich, wenn jeder Vierte an Heuschnupfen, an einer Allergie erkrankt, auch wirtschaftlich für unser Land?

Wahn: Ja. Das ist in der Tat etwas, was man gar nicht gravierend genug einschätzen kann. Es sind ja nicht nur die direkten Kosten für Medikamente und Arztbesuche, die sie in Rechnung stellen müssen, sondern sie müssen auch überlegen, was an Abwesenheit von Schulen und Abwesenheit vom Dienst an indirekten Kosten dazu kommt. Die Lebensqualität dieser betroffenen Menschen ist nicht immer, aber in vielen Fällen doch erheblich eingeschränkt und man tut ihnen absolut Unrecht, wenn man diese Symptome bagatellisiert.

Kolkmann: Wird zu viel herumgedoktert?

Wahn: Leider ja. Es ist nicht so, dass jeder Patient in die Hände von erfahrenen und qualifizierten Allergologen kommt, wie ich ihm das wünschen würde. Ich war erstaunt, in einer Untersuchung neulich zu sehen, dass zum Beispiel für an Heuschnupfen erkrankte Kinder 34 verschiedene Medikamente verordnet wurden, von denen 20 überhaupt nicht auf der Liste der Leitlinien standen. Also nicht jeder Patient wird qualifiziert behandelt mit den Medikamenten, die wir heute anbieten können.

Kolkmann: Auf jeden Fall gut beraten an der Charité in Berlin im Allergiezentrum. Dort ist Professor Ulrich Wahn der Chef. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur.