Ungewohnte Sicht auf die Geschichte

Rezensiert von Wolfgang Sofsky · 08.12.2006
Am Anfang war der Zorn. Das erste Buch der abendländischen Literaturgeschichte berichtet vom Groll des Achilles, der brütend in seinem Zelt vor Troja hockt, weil ihn sein Kriegsherr um das Ehrengeschenk gebracht hat. Während seine Gefährten kämpfen und sterben, verharrt er in untätigem Grimm. Doch plötzlich wendet sich sein Zorn wieder nach außen. Getrieben vom Furor der Vergeltung, stürzt er hinaus in die Schlacht.
"Beim reinen Zorn gibt es kein verknotetes Innenleben, keine psychische Hinterwelt und kein privates Geheimnis. Vielmehr gilt der Grundsatz, das Innere des Akteurs solle ganz manifest und öffentlich, ganz Tat werden. Dem aufwallenden Zorn ist es eigentümlich, in seinem verschwenderischen Ausdruck restlos aufzugehen."

In der Explosion akuten Zorns liegt eine enorme Destruktivkraft. Es ist nicht erstaunlich, dass schon Homers Heldenlied die jähe, vorweltliche Grausamkeit zu kritisieren wusste. Zivilisation heißt nicht nur Sublimierung seelischer Urtriebe, sondern stets auch Zähmung, ja Austreibung animalischer Wut.

Dagegen sucht Peter Sloterdijk den Zorn zu rehabilitieren. Wider die idyllische Mentalität hierzulande, die falsche Bescheidenheit, Feigheit und konsumistische Habgier singt er ein Loblied des Stolzes und der Ambition, der Streitlust und der eitlen Verschwendung. Ohne die Sache beim bekannten Namen zu nennen, möchte er der kultivierten Aggression wieder zu ihrem Recht verhelfen. Das alte Zivilisationsprogramm der Unterdrückung des Zorns ist gründlich gescheitert. Es endete in einem Exzess der Rache und der kollektiven Ausrottung. Daher bedarf es, so Sloterdijk, eines politischen Zornmanagements jenseits rachsüchtiger Demut und dumpfer Ressentiments.

"In der globalisierten Situation ist keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut, unter welchen welterlöserisch, sozialmessianisch oder demokratiemessianisch codierten Verbrämungen auch immer. Diese Erkenntnis setzt der moralischen Produktivität von Vorwurfsbewegungen enge Grenzen, selbst wenn sie - wie der Sozialismus, der Feminismus, der Postkolonialismus - für eine jeweils an sich respektable Sache eintraten."

Eine Politik ohne gütlichen Ausgleich und ohne gerechtes Entgelt: Das bedeutet einen definitiven Abschied von der christlichen Ethik und von allen Projekten, die im Namen der Gleichheit oder nationalen Gemeinschaft den Zorn der unteren Klassen entfachen. Zuletzt richten Groll und Rache ein großes Blutbad an, im Jenseits und im Diesseits.

"Wo der Neid das Gewand der sozialen Gerechtigkeit überstreift, kommt eine Lust an der Herabsetzung zum Zuge, die schon die Hälfte der Vernichtung ist."

Sloterdijks erste Abrechnung gilt der monotheistischen Religion. Kurz nach der Schöpfung ließ der zürnende Gott seinem Zerstörungswillen noch freien Lauf. Dann begann er, die Stunde der Gerechtigkeit zu verschieben. Seine unterlegenen Anhänger mussten ihre Ohnmacht mit Phantasien später Revanche und eigener Auserwähltheit ausgleichen. Hasstiraden gegen fremde Mächte, prophetische Anklagen der eigenen Frevel, apokalyptische Vorstellungen eines finalen Weltgerichts, und dann die ewige Tortur der Hölle - in der Geschichte der jüdisch-christlichen Religion wurden die Zeiten des Zorns immer länger. Seitdem kennt die gerechte Vergeltung kein Ende, kein Vergessen mehr.

"Auch das Haus der Rache soll nichts verlieren. Wo das Nachtragen von Schuld über weite Strecken gehen muss, ist der Rekurs auf Ewigkeit unverzichtbar. Zum Guten wie zum Bösen ist die Ewigkeit das Asyl des Ressentiments."

Sloterdijks zweite, große Abrechnung gilt der linken Mobilisierung des Grolls. Die Agitatoren der sozialen Entrüstung sammelten die Wut der Erniedrigten, nicht ohne ihre eigene Machtgier mit der Aura der Welterlösung zu umgeben. Ließen es die Massen an der geforderten Empörung fehlen, bediente sich die Avantgarde bewährter Mittel. Die Anarchisten suchten ihre Zerstörungswut mit dem Volkszorn zu verschmelzen und mit tätlicher Propaganda den Aufstand zu entfachen. Der Bolschewismus erklärte die Partei zum Zornmonopol des Proletariats. Nach dem Oktoberputsch erhob sie sich zum Weltgericht, das jede wirkliche oder vermeintliche Opposition brutal dezimierte. Der rote Terror war kein Betriebsunfall, er war von Anbeginn im System angelegt.

"Das sowjetische Regime war auf die stetige Regeneration des Schreckens angewiesen. Die Unterdrückung jeder Opposition war eine schlichte geschäftliche Notwendigkeit, wenn die Partei ihren Alleinvertretungsanspruch für die Zornenergien der Massen nicht aufgeben wollte."

Neid und Aggression tobten sich an den Bauern und fremden Völkerschaften aus; Abermillionen wurden als vermeintliche Klassenfeinde erschossen oder ausgehungert. Zustimmung erzwang man durch Angst oder nationale Mobilisierung. Immer neue Kampagnen provozierten revolutionäre Energien. Die maoistische Kulturrevolution erklärte die gesamte ältere Generation zum Klassenfeind, derweil ihre westlichen Sympathisanten sich in antifaschistischen Sprachspielen ergingen, um ihre Affinitäten zum roten Terror zu übertünchen.

Nach dem Ende des Sowjetregimes hat die soziale Empörung keine Weltidee mehr vorzuweisen. Der Zorn hat sich zerstreut und der Habgier Platz gemacht. Niemand soll aus seinem Genuss mehr ein Geheimnis machen, und jeder soll begehren, was auch sein Nachbar haben will. Die Sozialtherapie wurde von der staatlichen Vorsorge auf die Entsorgung der Überflüssigen umgestellt. So ist der Zorn - in den brennenden Vorstädten und den demolierten Schulen der Gettos - zu seiner frühesten Zeitform zurückkehrt, zur abrupten Aufwallung purer Zerstörungslust.

"Es handelt sich um einen Extremismus der Müdigkeit - eine radikale Dumpfheit, die sich jeder Gestaltung und Kultivierung verweigert. Wenn sie um sich schlagen, um zu zerstören, was ihnen zufällig in die Quere kommt, geschieht das wie in einer Fremdsprache aus Gebärden, an deren Sinn sie selbst nicht glauben. Diesen Extremisten des Überdrusses bedeutet ihr eigenes massenhaftes Vorkommen nichts."

Man kann gegen Sloterdijks Essay manches einwenden: die wuchernde Metaphorik, die ausufernden Assoziationen, die eigenwillige Wortakrobatik. Ohne begriffliche Trennschärfe verhandelt der Philosoph ganz verschiedene Phänomene: Stolz und Ehrgeiz, Groll, Wut, Haß oder Courage. Der Übergang vom akuten Affekt zur Haltung bleibt ebenso undeutlich wie die Dynamik kollektiver Emotionen. Der tragende Affekt einer Revolution ist keineswegs nur der Zorn gegen die Reichen und Mächtigen. Manchmal fordern die Plakate des Aufruhrs nur Frieden und Brot. Religionen erschöpfen sich mitnichten in der langfristigen Archivierung des Leidens für den Jüngsten Tag. Die Rache, diese elementare Form der Gerechtigkeit, kennt zahllose Regeln, die den langen Unwillen zügeln und die Strafaktion begrenzen. Stolze Verschwendung war in der Geschichte der Macht meist nur eine ruinöse Variante im endlosen Kampf um Status und Prestige.

Und dennoch, Sloterdijks Versuch vermittelt eine ungewohnte Sicht auf die Triebkräfte der Geschichte, auf die Leidenschaften des Zorns, die man hierzulande am liebsten verleugnen möchte. Man kann die Lektüre jedem empfehlen, dem das leere Gerede von "sozialer Gerechtigkeit" hin und wieder die Zornesröte ins Gesicht treibt.


Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit
Politisch-psychologischer Versuch
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit (Coverausschnitt)
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit (Coverausschnitt)© Suhrkamp Verlag