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Tel Aviv
Jiddische Kultur im Busbahnhof

Wie ein Gewirr aus Treppen wirkt der fehlkalkulierte Busbahnhof in Tel Aviv. Doch wo potenzielle Kunden fehlten und Ladenlokale pleite gingen, entwickelte sich ein Mikrokosmos verschiedener Kulturen: eine eigene Infrastruktur für Asylbewerber und die größte jiddische Bibliothek der Welt.

Von Stephan Beuting | 03.11.2019
Jongleure auf der vierten Etage der Central Bus Station in Tel Aviv
Am zentralen Busbahnhof von Tel Aviv sammeln sich Jongleure (Deutschlandradio / Stephan Beuting)
Wann gehen Busse eigentlich schlafen, in einer Stadt, die so gar nicht müde zu werden scheint? Jedenfalls noch nicht um kurz nach halb elf. Sechster Stock in der Tel Aviver Central-Bus-Station. Es ist laut und stinkt nach Diesel und kaum einer der Passagiere scheint sich hier länger aufzuhalten als unbedingt nötig. Bei mir reicht die Zeit gerade aus, um mich zu fragen, warum eine Bus-Station so viele Stockwerke braucht, insgesamt sieben, obwohl doch die Busse prima auf eine Ebene passen würden.
In den ersten Entwürfen, aus dem Jahr 1967, war auch nur von zwei Ebenen die Rede, eine für den Busbetrieb und eine für Geschäfte. Entworfen wurde sie von einem der damals gefeiertsten Architekten Israels. Das mit dem Feiern ebbte dann nach und nach ab, auch weil die Bus-Station, nun ja, volle 26 Jahre brauchte, bis sie fertig wurde und dann, nun ja, nicht so funktionierte, wie sie eigentlich sollte.
Zahlreiche Rolltreppen kreuz und quer
Wer einmal oben, im sechsten Stock bei den Bussen steht, der ist vielleicht zuvor, wie ich, im dritten Stock hereingekommen. Vielleicht durch die Sicherheitsschleuse an der Levinski Street, vorbei an der Polizistin mit dem umgehängten Sturmgewehr. Dann hat er sich für vermutlich für einige der unzähligen Rolltreppen entschieden, die kreuz und quer durch das Gebäude führen, wahrscheinlich für eine, die funktioniert, aber weil so viele kaputt sind, ist er mit Sicherheit auch ein paar gelaufen. Er ging vorbei an geschlossenen Ladenlokalen, an Fenstern, völlig verstaubt oder eingeschlagen, so wie die im vierten oder fünften Stock zum Beispiel.
Auf den ersten Blick ist das alles hier ein städtebauliches Drama. Nach den Ideen von Architekt und Planern sollten hier Menschen flanieren, die dann Dinge kaufen, von Ladenbesitzern, die hier ihre Existenz hätten aufbauen sollen. Mit deren Einnahmen wären dann die Kredite an diejenigen zurückgezahlt worden, die das Ganze hier gebaut haben: sollte, hätte, wäre. Weil keine dieser Möglichkeiten je eintrat, passierte längere Zeit nichts und dann passierten Dinge, mit denen keiner rechnen konnte. An die Stelle des Möglichen, trat das Unwahrscheinliche:
"Das war geplant wie ein Airport for Bussen."
Das ist Mendy Cahan. Die Central Bus-Station ist so etwas wie sein zweites Zuhause:
"Groß, schön, luftig, wo Menschen können einkaufen und die Zeit verbringen, da war ein Cinema und ein Theater, da sollte alles sein. Und dann ging das verjieht. Dann haben andere das aufgekauft und gesagt, wir machen das doppelt so groß und dann können wir mehr Geschäfte verkaufen."
Der Architekt Rafik Karmi hatte damals die Idee einer großen Halle. Doch als sich die Bauzeit immer mehr verlängerte, die Kosten stiegen, da kamen die Investoren darauf, Zwischenstockwerke einzuziehen. Die Israelis sind stolz auf ihren Erfindungsreichtum, in dem Fall hat das aber überhaupt nicht so funktioniert, wie geplant:
"Und dann haben sie das weiterverkauft und wenn wir noch mehr kleine Korridore machen und noch mehr Mitten-Stocken machen, dann können wir noch mehr verkaufen und dann ist das wie ein großes kapitalistisches Monster geworden, die viele Menschen unglücklich gemacht hat, weil die haben hier investiert und gar nichts dafür bekommen."
Planungspannen aufgrund von Fehlannahmen
Wenn täglich 1.000.000 Menschen in den Busbahnhof gekommen wären, wie geplant, vielleicht hätte das noch geklappt, aber es kamen nur 50.000, also gerade mal fünf Prozent. Das geplante Kino, pleite, die Geschäftslokale im vierten und fünften Stock, pleite. Die vielen Zwischenstockwerke und ihre Treppen, sollten die Besucherströme von Stockwerk zu Stockwerk leiten, sie haben das Gegenteil dessen bewirkt. Früher fuhren die Busse unten ab, bis die Luft zu schlecht wurde und die Plattformen nach oben verlegt wurden:
"In der dritten sind noch Geschäfte aber in der ersten und zweiten ist gar nichts. Viel nix!"
Es ist leicht, in die Bus-Station hereinzukommen aber wer einmal in dem Gewirr der Treppen und Ebenen steckt, der verliert früher oder später das Gefühl dafür, wie er wieder herauskommt. Mitten in der Stadt zücke ich mein Handy raus und stecke es wieder weg: kein GPS-Signal, selbst Google Maps kann dir hier nicht helfen:
"Ich denke, dass das ein kafkaeskes Traum ist, ein Nightmare. Of an Escher-Painting. All die Treppen, die rauf und runter gehen und du weißt nicht wo du bist und wo du kommst, das ist keine ideale Konstruktion für einen Bahnhof."
Für einen Bahnhof nicht ideal, aber was ist schon ideal? Die Staatsgründung Israels, eines der geschichtspolitisch kompliziertesten Ereignisse überhaupt, nicht ideal, die Stadt Tel Aviv, buchstäblich auf Sand gebaut und die Bus-Station: All die gesammelten Fehlannahmen und Planungspannen, das undurchdringliche Geflecht von Treppen und die vielen Sackgasen, in denen der Boden mit dickem Staub bedeckt ist. Mitten in einer Metropole, in der seit Dekaden die Grundstückspreise in immer neue Höhen klettern und der Platz knapp wird, ist eine Art Vakuum entstanden. Leute wie Mendy wissen das zu nutzen:
"Du gehst verloren und an der Ecke der Welt triffst du so einen Platz mit Licht und Wasser und Kaffee und Bücher und Stillkeit, das ist wie eine Oasis."
Jiddisch im Busbahnhof
Mendy sitzt mir gegenüber in einem senffarbenen Sessel, Oberköper entspannt zurückgelehnt, die Augen hellwach. Es duftet nach alten Büchern aus fremden Ländern. Rings um uns herum liegen sie auf Tischen und Rollwägen, sind sie sortiert in Regalen, mal geordnet, mal chaotisch wild über und untereinander. Es sind tausende und alle in jiddisch:
"Du hast hier 60.000, mehr wie 60.000 jiddische Bücher, die wir gesammelt haben mit die Jahren, die stellen vor, eine mehr als 1.000-jährige Kultur und hier in der Central Bus-Station haben all die Bücher ein Zuhause gefunden."
Yung Yidish heißt die Kultureinrichtung. Bibliothek, Bar, Bühne. Einmal pro Woche gibt es Lieder und kleine Moderationen in Jiddisch. Spannend, wie viel man davon versteht. Mendy gibt mir einen schweren Folianten in die Hand. Kleine Teile vom Einband bröckeln ab. Es sind Ausgaben einer jüdischen Illustrierten aus dem Jahr 1939:
"Was Neues, was kommt vor und auch: Wie leben Juden in Griechenland."
Es geht um neue Formen des Ackerbaus, Albert Einstein besucht den palästinensischen Pavillon auf der World-Fair in New York. Die ganze Welt für Juden in aller Welt:
"Wenn du auf die Preisliste von dem Magazin schaust, dann siehst du, das kannst du kaufen in Riga, in Israel, in Odessa, in Brasil."
Ein Jahr nach der Reichskristallnacht scheint es, als ob die Autoren des Hefts versuchen Normalität zu wahren, als ob man sich lieber nicht vorstellen mag, dass es noch schlimmer kommen könnte:
"Es kann nicht so schlimm sein, wie es geworden ist."
Fast in Form eines Reiseführers werden in einer Serie Orte für Juden vorgestellt, wo sie eventuell in Frieden und Sicherheit leben können:
"Jede Woche ein anderer Platz wird beschmüst, was tut sich in Brasil, was geschieht in Portugal, und so weiter und so weiter."
Mendy Cahan in der Kultureinrichtung Yung Yidish in Tel Aviv
Im Busbahnhof von Tel Aviv befindet sich die größte jiddische Bibliothek der Welt (Deutschlandradio / Stephan Beuting)
Damals schien es so, als ob nirgends ein Platz wäre, für Juden. Davor und danach schien es so, als ob kein Platz wäre für das Jiddische. Im 18. Jahrhundert sollte Jiddisch zugunsten der jeweiligen Nationalsprachen aufgegeben werden. Unter den Nazis konnte es lebensgefährlich sein, jiddisch zu sprechen. Nach dem Holocaust und der Staatsgründung wurde Jiddisch in Israel unterbunden, weil man sich für Hebräisch als Nationalsprache entschieden hatte, und da keine Konkurrenz wollte.
Jiddisch ist eine Komplementärsprache, sie vereint Mittelhochdeutsche Sprachanteile mit Slawischen, Hebräischen und Aramäischen. Wie das Volk der Juden selbst war die Sprache überall zuhause und nirgendwo. Bis 1993 als Mendy Cahan den Verein Yung Yidish gründete und als im gleichen Jahr der neue Tel-Aviver Busbahnhof fertiggestellt wurde, in dem einige Jahre später tausende Bücher eine Heimat finden würden.
Verschiedene Gruppen im Busbahnhof vereint
Wer durch Israel reist, spürt förmlich, wie spannungsgeladen alles Politische ist. Die Fragen nach Sicherheit und Frieden, wer wem vertrauen kann, die liegen knapp unterhalb dieser gelassenen Alltagsroutine. Aschkenasim versus Misrachim, Juden versus Araber, Sekulare versus Ultra-Orthodoxe, Arme versus Reiche, all die Gruppen mit so unterschiedlichen Weltbezügen. Um dem zu entgehen, bleiben viele der verschiedenen Gruppen soweit es geht unter sich. Der Busbahnhof, die jiddische Bibliothek sind da eine Ausnahme:
"Hier neben uns sind Leute, die Jiddisch lernen und Menschen kommen hier von all walks of life, all colors, all statuses, auch die Asylium-Seekers und auch die russischen Migranten, auch die jungen Israelis. Und auch die Anarchisten. Das ist ein Platz geworden von so vielen Strömungen."
Gemeinsam nehmen sie die Buchspenden an, sichten, katalogisieren, lernen Jiddisch und tauschen sich dabei über sich, ihre Identität aus, verhandeln ihre gemeinsame Geschichte. Das ist nirgendwo auf der Welt ganz leicht, hier aber ganz sicher nicht, in diesem extrem jungen Staat Israel, in dem es eine ganz eigene Art zu geben scheint, mit Problemen umzugehen.
Manche Probleme gibt es offiziell nicht. Wie etwa die Probleme mit Flüchtlingen oder Migranten. Wenn sie nicht Juden sind, haben sie kaum eine Chance schnell Bürger zu werden. In dieser Zeit haben sie wenig Rechte, bekommen kaum Hilfe vom Staat. Was sie haben, das ist der Busbahnhof Tel Aviv. Hier gibt es Angebote, eine Art von Anlaufstellen im vierten und fünften Stock:
"Für viele Elementen in das urbanische Landschaft, die kein Heim finden, kein Platz finden, die finden das in das Chaos. In der Central Bus-Station hast du auch ein Hospital, hast du auch einen Kindergarten, für Kinder von Asylium-Seekers, hast du auch ein Hospital für Minderpriviligierte, die keine Versicherung haben, kannst du hier Versicherung kaufen, kannst Du Essen von Philippinen kaufen, das ist wie eine Welt in einer Welt, eine Welt mit vielen Welten."
Während Mendy redet, bemerkt er meinen sorgenvollen Blick an die Decke. So massiv und solide das Gebäude wirkt, von Zeit zu Zeit quietscht und rappelt es, wackelt der Boden:
"Die Busse sind in dem sechsten und siebten Stock und das Geräusch, dass Sie hören kommt, wenn die Bussen schlafen gehen. Ja, jetzt gehen die schlafen."
Für mich klingt das unbehaglich, gefährlich. Mendy sagt, ihn beruhige der Klang ungemein. Dieses nicht-beständige, rappelige, dieser Hintergrundsound, sagt er, sei genau das Richtige für ein Kulturzentrum, wie dies hier:
"Das ist gebaut mit Beton, der 20 Mal schwerer ist, als normaler Beton. Das ist Anti-Missile, anti-whatever, dann können sie das echt nicht plattlegen."
Jeder der baut in Israel, muss einen Schutzraum, eine Art Bunker miteinplanen. Wenn eine Busstation gebaut wird, dann mit Spezialbeton, der in diesem Fall auf eine Art Federn gelagert ist:
"Wenn eine Bombe kommt, dann hüpft das etwas, dann sitzt das wieder an seinem Platz."
Ein weißer Elefant, vollgestopft mit Stockwerken und Treppen, mit leerstehenden Ladenlokalen und einer Infrastruktur für Displaced People, der in sich die größte jiddische Bibliothek der Welt beherbergt und leicht hüpft, wenn eine Rakete drauffällt. Und der so schwer und solide gebaut ist, dass er vielleicht niemals abgerissen werden wird. Schönes Bild. Vieles in Israel scheint eine Mischung aus Provisorium auf Zeit und gemacht für die Ewigkeit.
Jiddisch sprechen und denken heißt, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, Realitäten einzufügen und ihnen direkt den eigenen ironischen Stempel aufzudrücken. Das alles mit großer Leichtigkeit. Ich würde gerne in ein paar Jahren noch einmal wiederkommen und nachsehen, welche neuen Bücher dazugekommen sind. Auch wenn das Geld gerade etwas knapp sei, sagt Mendy, sei er guter Dinge, dass das von ihm aus sicher funktioniert:
"It's a 'wislach', wie man sagt in jiddisch. Wir warten und wir hoffen, dass noch unser Mäzenat uns sucht, vielleicht ist er schon in der Bus-Station aber er findet uns noch nicht. Er geht rauf und runter und das wird noch seine Zeit nehmen."
Mein Auftrag: Sollte ich ihn zufällig beim Weg raus, zum Ausgang Levinski treffen, soll ich ihn Grüßen und ihm kurz den richtigen Weg zeigen, damit er sich nicht verläuft.