Ungewöhnliche Selbstbefragung

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 26.09.2006
Weil über ihn viel Unsinn verfasst wurde, hatte der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész zusammen mit seinem ungarischen Verleger einen Interviewband herausgegeben, der Unklarheiten beseitigen sollte. Da auch dieser den Literaten nicht zufrieden stellte, interviewte er sich schließlich selbst. Durch diese ungewöhnliche Form kommt er zu allerlei neuen Einsichten über sich und sein Werk.
Auch weltberühmte Autoren haben ihre Sorgen. Imre Kertész leidet darunter, dass in keinem (oder kaum einem) der inzwischen zahlreichen Bücher, die über ihn und sein Werk verfasst wurden, wirklich von ihm und seinem Werk die Rede sei: "Nach dem Nobelpreis wurde viel Unsinn über mich geschrieben", meinte er kürzlich in einem Gespräch. "Biografien wurden veröffentlicht, in denen nichts stimmte, das Gesamtbild war so falsch, dass mein ungarischer Verleger und ich beschlossen, die Irrtümer durch einen Interviewband richtig zu stellen." Nur leider: Auch der umfangreiche Auskunftsband konnte Kertész nicht befriedigen, als er schließlich im Manuskript vorlag. So ging er daran, "Dossier K." zu schreiben, um die Deutungshoheit in eigener Sache zurück zu gewinnen. Es handelt sich um ein in zwei Stimmen geführtes Selbstgespräch über Leben und Werk.

Der Musikliebhaber Kertész - wie schwärmt er in diesem Buch etwa von Mahlers 9. Sinfonie! - hat seinen Romanen immer wieder musikalische Formen als Struktur zugrunde gelegt. In einer Art Rondosatz ist auch "Dossier K." verfasst. Obwohl sich das Buch als autobiografischer Text an die Chronologie hält - von den sehr plastisch geschilderten Vorfahren über die Scheidungskindheit, die Jugend im Zeichen des Antisemitismus und das Leben in zwei Diktaturen bis hin zur souveränen Gegenwart des Nobelpreisträgers - kehrt es doch kreisförmig immer wieder zur lebensprägenden Auschwitz-Erfahrung zurück. Und zum Schlüsselbegriff der "Schicksallosigkeit". Er meint das Charakteristikum aller Diktaturen, den Menschen seines eigenen Schicksals zu enteignen und es in ein entpersönlichtes Massenschicksal zu verwandeln.

"In der Diktatur ist der Staatsbürger, der gerade nicht im Gefängnis ist, lediglich Häftling auf Urlaub."

Mittels des Schreibens hat sich Kertész wie ein Baron Münchhausen selbst aus dem Morast des Massenschicksals herausgezogen. Ermöglicht hat das in einem beinahe perfiden Sinn gerade die Erfahrung der zweiten Diktatur des Kádár-Regimes in Ungarn, die ihm - wie die Proustsche Madeleine - die erste des Faschismus und der Lager in den Erinnerungsdetails so erschlossen habe, dass sie literaturfähig wurde. Gerade aufgrund solcher Universalisierung der Diktaturerfahrung liegt es dem Autor ganz fern, dem Ungarn des "Gulaschkommunismus" ("die fröhlichste Baracke des sozialistischen Lagers", höhnt er) historisch mildernde Umstände zu gewähren.

Ein Selbstgespräch, das tatsächlich aussieht und sich liest wie ein Interviewband - was ist der Nutzen dieser Form? Kertész gewinnt eine zweite Ebene hinzu, auf der er Markierungen setzen kann, wie es in einer durchgeschriebenen Autobiographie nicht möglich wäre. Er kann aus seinen Werken vertraute Schlüsselsituationen rekapitulieren und neue Markierungen setzen. Missverständnisse und Simplifizierungen, die über seine Werke im Umlauf sind, lassen sich im direkten Zugriff korrigieren. Das schmeichelhaft gemeinte Etikett des "Moralisten" etwa, das in jedem zweiten Artikel über ihn auftaucht, lehnt Kertész für sich ab:

"Das Zeitalter der großen Moralisten ist seit langem zu Ende. Nach Auschwitz erübrigt es sich, weiter über die menschliche Natur zu richten."

Über Adornos berühmtes Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, kann er, der sich sein Leben lang an Auschwitz abgearbeitet hat, allerdings nur den Kopf schütteln. Als "moralische Stinkbombe" bezeichnet er den Satz. Natürlich musste gerade die Kunst auf das größte historische Trauma des 20. Jahrhunderts reagieren. Allerdings ging es ihm selbst nie darum, so genannte "Holocaust-Literatur" zu verfassen, sondern über Auschwitz als "universale menschliche Erfahrung" Rechenschaft zu geben. Hier ist hier ein Art Umkehreffekt zu sehen, eine literarische Reaktion auf jene bittere Erfahrung, dass ihn erst der Holocaust zum Juden gemacht habe.

Im übrigen präsentiert sich der literarische Pessimist privat durchaus als Lebensfreund - eine weitere Korrektur, mit der Kertész sein Bild versieht. Man darf ihn sich als zumindest zeitweise glücklichen Menschen vorstellen. Eindrucksvoll beschreibt er, wie er als den Lagern Entronnener die Freiheit in den Jahren zwischen 1945 und 1948 genießen konnte, trotz Wirtschaftskrise und einer geradezu wahnwitzigen Inflation:

"Ich erinnere mich ganz genau, dass ich die ganze Zeit über im Zustand eines Verliebten war - und damit meine ich nicht eine bestimmte Liebe, sondern meine Gefühle für das Leben an sich."

Auch vom Glück des Schreibens (gerade über die absolut negative Erfahrung Auschwitz) ist die Rede. Schreiben, so Kertész, sei immer "gesteigertes Leben". Der Autor befindet sich in einem anderen Stoffwechsel mit der Wirklichkeit als die nichtschreibende Menschheit; er kann von seinen Leiden Gebrauch machen.

Kein Zweifel also, dass die anfangs ungewohnt und schwerfällig wirkende Form des Selbstgesprächs ihren Sinn und ihre Vorteile hat. Aber können sie den Eindruck von selbstverfasster Sekundärliteratur ausgleichen? Ohne Zweifel hat das Buch etwas Hermetisches, mit dem es eine größere Leserschaft ausschließt. Es setzt, in der Höhe der Reflexionen über die eigenen Romane, eine gediegene Kenntnis von Kertész' Lebenswerk voraus.


Imre Kertész: Dossier K. Eine Ermittlung
Aus den Ungarischen von Kristin Schwamm
Rowohlt Verlag 2006
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