Ungewöhnliche Erkundung

31.03.2009
Umfangreich und viel diskutiert sind die Werke des 1929 geborenen Schriftstellers Milan Kundera, darunter allein zehn Romane sehr komplexer Machart. "Agnes' letzter Nachmittag" ist eine typische Szene aus Kunderas Werk. Mit ihr beginnt der Essayist Francois Ricard seine ungewöhnliche und originelle Einführung in das Schaffen Milan Kunderas.
Eine Szene, die typisch ist für Kunderas Werk: Agnes, eine der Hauptfiguren aus "Die Unsterblichkeit", sitzt im Auto und will von der Schweiz aus zurück nach Paris, so früh wie möglich, weil sie nachts nicht gern fährt. Aber plötzlich ist sie von der Schönheit der Berge so gerührt und überwältigt, dass sie aus dem Auto aussteigt und ins Gebirge geht. Einfach so, ohne Ziel und Plan. Es wird ihr letzter Nachmittag, denn auf der späten Rückfahrt nach Paris verunglückt sie tödlich.

Francois Ricards Abhandlung beginnt mit dieser exemplarischen Szene, mehr noch: Sie macht sich die Dramaturgie von Agnes' Wanderung in die Berge zur eigenen Struktur. Kunderas Werk wird zur Landschaft, die Ricard Stück für Stück erkundet. Quasi als Schatten von Agnes in den Bergen erzählt Ricard über Kunderas Literatur, bleibt hier und dort mal länger stehen, erläutert, erzählt, zitiert.

Es ist ein ungewöhnlicher und origineller Zugriff, den Ricard gewählt hat. Das ist gewagt, funktioniert aber gut. Wohltuend unwissenschaftlich im Ton, versehen mit erfreulich wenig Fußnoten und immer in verständlichem und mitunter sehr literarischem Stil geschrieben.

Natürlich entsteht so kein chronologisch sortiertes Überblickswissen, das kurz und knapp Inhaltsangabe und Interpretation für den Oberstufenunterricht liefert. Francois Ricard springt zwischen Romanen und Essays hin und her, sucht nach übergreifenden Motiven - beispielsweise Hunde und Hüte in allen Büchern -, ergeht sich in leidenschaftlichen Deutungsansätzen und untermauert diese mit jeder Menge literaturgeschichtlichem Wissen.

Mal werden Einzelmotive analysiert, dann gibt es grundsätzliche Betrachtungen zum Wesen des Romans, dann wieder sucht Ricard nach immer wieder auftauchenden Kundera-Charakteren wie dem "Frauenheld". Es geht ihm nicht um erschöpfende Einzeldarstellungen der Werke. Ricard will der Faszination der Kundera-Welt von mehreren Seiten auf die Spur kommen, dem Autor als Baumeister beim Verfertigen seiner Romane über die Schulter gucken.

Man muss man sich auf die ungewöhnliche Machart des Buches einlassen: Keine trockene Einführung in Leben und Werk ist es, mehr eine essayistische Meditation über Kunderas Bücher im Speziellen, aber auch über das Schreiben im Allgemeinen. Francois Ricard lässt sich dafür nur knapp 200 Seiten Platz.

Die Erkundung des Werks geschieht in extrem verdichteter Weise; manche Kapitel muss man mehrmals lesen. Vielleicht bietet das Buch deshalb keine leichte Einführung, trotzdem eignet es sich unbedingt auch für Kundera-Entdecker, die erst einen oder noch keinen Roman des Autors gelesen haben.

Rezensiert von Martin Becker

François Ricard: Agnes' letzter Nachmittag. Milan Kundera und sein Werk
Aus dem Französischen von Uli Aumüller,
Hanser Verlag, München 2009,
192 Seiten, 19,90 Euro