Ungeschönte Millieustudie

28.01.2008
"Am Hang" von Ivan Cankar handelt von den gesellschaftlichen Verwerfungen im Habsburger Reich im 19. Jahrhundert. In acht Kapiteln spiegeln sich die Lebensstationen der unglücklichen Dienstmagd Francka, die immer wieder um eine bessere Existenz ringt.
"Ihr Leben war gleich, auch die Gesichter ähnelten sich, und was sie sprachen, war immer dasselbe – diese schreckliche Sorge in Tausenden Worten… Bankrotte Handwerker, Bauern, denen Hütte und Grund verkauft worden waren, Trinker, die zu keiner Arbeit taugten und nur darauf warteten, wie ein Vieh zu verrecken, im Graben, hinter einem Zaun – sie alle versteckten sich auf dem Hang, in den niedrigen Hütten mit den niedrigen Fenstern und den Stroh gedeckten Dächern."

Die Hütten am Hang bilden das Elendsquartier eines auch insgesamt wenig einladenden Ortes in der slowenischen Provinz. "Am Hang" - so heißt der Roman des hierzulande kaum bekannten, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien hingegen als Klassiker der Moderne unvergessenen Ivan Cankar. Der Klagenfurter Drava Verlag hat ihn jetzt in der Übersetzung von Erwin Köstler als zwölften seiner auf sechzehn Bände angelegten Ivan-Cankar-Werkausgabe veröffentlicht.
"Am Hang" handelt von den gesellschaftlichen Verwerfungen an der südlichen Peripherie des Habsburger Reiches, man schreibt das späte 19. Jahrhundert. In acht Kapiteln spiegeln sich die Lebensstationen der unglücklichen Dienstmagd Francka, die - unehelich geboren, von ihrer eigenen Mutter missachtet, durch die Nachbarschaft drangsaliert - immer wieder um eine bessere Existenz ringt. Doch selbst wenn Francka den Bürgern und Notabeln hinterherläuft, sie bleiben unerreichbar. Eine Wende scheint die Heirat mit dem viel versprechenden Tone Mihov anzukündigen. Mihov, der Anzüge nach Maß fertigt, geht allerdings im Konkurrenzkampf mit einem Konfektionsschneider unter, verfällt dem Alkohol und verschwindet irgendwann ganz aus dem Blickfeld. Verzweifelt versucht Francka wenigstens einem ihrer Kinder zu höherer Bildung zu verhelfen – vergeblich. Auch der begabte Sohn Lojze scheitert an der Unfreundlichkeit der Welt und an den materiellen Verhältnissen.

"Am Hang" ist indes alles andere als ein Roman mit politischer These oder gar unvermittelter Aufruf zum Klassenkampf. Bei Cankar verschmelzen Elemente naturalistischer Milieuschilderung mit märchenhaften Motiven der Romantik. Die Traum- und Albtraumwelten der Protagonisten stehen der sozialen Realität nicht nur ebenbürtig gegenüber, gelegentlich überlagern sie diese auch. Das macht den Reiz der Lektüre eines Buches aus, das von seinen Kritikern gern autobiographisch gedeutet wurde.

Ivan Cankar kam 1876 als Sohn eines Schneiders in Vrhnika nicht weit von Ljubljana zur Welt. Etliche Jahre seines Lebens verbrachte er in Wien. Cankar schrieb slowenisch, gelegentlich auch deutsch, und engagierte sich politisch. 1907 kandidierte er erfolglos als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei der Südslawen im Wiener Reichsrat. Sein Eintreten für einen unabhängigen Staat der Südslawen wurde 1913 mit Gefängnis bestraft. Angeblich serbophile Äußerungen trugen ihm ein Jahr später sechs Wochen Festungshaft ein. Ivan Cankar starb im Dezember 1918 in Ljubljana, just zu dem Zeitpunkt, als sich Slowenien von den Österreichern löste und Teil des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen wurde, das sich einige Jahre später Jugoslawien nennen sollte.
Mithilfe der vom Übersetzer Erwin Köstler ausführlich kommentierten deutschsprachigen Werkausgabe des Drava Verlags kann dieser bedeutende slowenische Erzähler und kritische Zeitgenosse der Habsburger neu oder auch wieder entdeckt werden. Er hat es verdient.

Rezensiert von Martin Sander

Ivan Cankar: Am Hang.
Roman, aus dem Slowenischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Erwin Köstler,
Drava Verlag, 311 Seiten, 23,80 Euro.