Ungeheure Lesewut

Rezensiert von Michael Opitz · 17.03.2006
In "Der Leseteufel" berichtet Siegfried Lenz über den Großvater: Der Alte, der erst spät das Lesen lernte, wird von einer wahren Lesewut erfasst. Er vergisst alles, was um ihn herum passiert. Diese Erzählung ist nur eine von zahlreichen, die nun in einem gewichtigen Band erschienen sind.
Der Verlag Hoffmann und Campe hat den 80. Geburtstag von Siegfried Lenz zum Anlass genommen, das erzählerische Werk des Autors in einem Band herauszugeben. Diese Veröffentlichung ist sehr löblich, denn auf diese Weise bekommt der Leser alle Erzählungen des in Hamburg lebenden Autors in einem Buch geboten, die in der Werkausgabe ganze vier Bände ausmachen. Und als Zugabe gibt es noch 50 Erzählungen, die bisher nicht in Buchform erschienen sind. Das alles zu einem veritablen Preis - Leser, was willst du mehr.

Es könnte allerdings sein, dass die knapp zwei Kilogramm Gewicht des Buches Lesern, die Siegfried Lenz und seinem Werk durchaus zugeneigt sind, den Kauf nicht ratsam erscheinen lassen - zu schwer für das Urlaubsgepäck und unzumutbar für den Brustkorb bei der abendlichen Bettlektüre. Doch werden solche Vorbehalte vergessen, wer sich an die Leichtigkeit erinnert, mit der es Siegfried Lenz gelingt, seine Leser auf Phantasiereisen mitzunehmen, auf denen die Erdenschwere von ihnen fällt.

Lesen ist etwas Wunderbares. Das wusste auch Hamilkar Schaß, eine Hauptfigur aus Lenz’ 1955 erschienenem Erzählungsband "So zärtlich war Suleyken". In "Der Leseteufel" wird über den Großvater berichtet, wie der Alte, der erst spät Lesen lernte, von einer wahren Lesewut erfasst wird, und alles vergisst, was um ihn herum passiert. Hamilkar Schaß hätte sich von einem zwei Kilogramm schweren Buch nicht schrecken lassen, denn er ließ sich beim Lesen auch nicht vom allseits Gefürchteten Wawrila stören. Den Bösewicht schlug er in die Flucht, weil er sämtliche Befehle des Räubers überhörte und sich von dem Störenfried allein ausbat, ihn nur noch die wenigen Zeilen bis zum Ende der Geschichte lesen zu lassen. Diese Ignoranz gegenüber dem gewaltbereiten Schurken erweist sich als so wirksam, dass der Bösewicht die Flucht ergreift.

In den Erzählungen von Siegfried Lenz spielt die Phantasie eine wichtige Rolle. Davon zeugt die erste Geschichte "Phantasie in Kisten" (1948) ebenso wie "Ludmilla" (1995), die als vorletzte des Bandes den Phantasiereigen beschließt, den der Autor seinen Lesern eröffnet. In seinen Geschichten, so Lenz, kann es, wie er in "Gnadengesuch für die Geschichte" bekennt, "keine endgültige Lösung geben. Ihre Möglichkeit und ihre Grenze ist der Augenblick."

Privates aus der Lebenswelt des Autors, über seine Vorliebe zu Hemingway und über den "Sitzplatz" des Autors oder die Strasse, in der Lenz wohnt, erfährt, wer den Band "Selbstversetzung" zur Hand nimmt, in dem sich auch das "Gnadengesuch" für die Geschichte findet. Das Buch stellt eine schöne Ergänzung zu dem Erzählungsband dar und erlaubt einen Blick in die Privatsphäre des Jubilars.


Siegfried Lenz: Die Erzählungen
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2006,
1536 Seiten.

Siegfried Lenz: Selbstversetzung. Über Schreiben und Leben
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2006,
99 Seiten.