Ungebremster Optimismus

Von Thilo Guschas · 19.06.2010
Das Image der islamischen Bewegung Milli Görüs ist schlecht in Deutschland: Seit Jahren beobachtet der Verfassungsschutz die Gruppe. Zu Unrecht, urteilt der Publizist und Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer in seinem neuen Buch.
Werner Schiffauer ist von einer Mission beflügelt. Er will ein umfassendes Bild von Milli Görüs zeichnen – von einer Gruppierung, die gemeinhin als undurchsichtig gilt. Doch Schiffauers Pläne gehen sogar noch weiter. Der Ethnologe will nichts Geringeres als die Binnensicht von Milli Görüs einfangen. Er argumentiert: Einfach nur der Frage nachzugehen, ob die Gruppierung nun integrationsfähig sei oder nicht, würde doch nur ein verzerrtes Bild hervorbringen – Verfassungsschutzberichte hin oder her. Zur Illustration führt Schiffauer ein Gedankenspiel an.

"Wenn ein türkischer Soziologe das Verhalten deutscher Einwanderer in Antalya ausschließlich unter der Perspektive beschreiben würde, inwiefern es den türkischen Vorstellungen von Ehre entspricht (oder von ihnen abweicht), dann hätten die Beschriebenen das Gefühl, nicht verstanden, geschweige denn adäquat dargestellt worden zu sein."

Fast zehn Jahre hat Schiffauer für seine Studie recherchiert und Interviews mit Mitgliedern geführt. Seine daraus entwickelte These ist spektakulär: Milli Görüs sei nicht mehr islamistisch, wie noch zu ihrer Entstehung in den 70-er Jahren. Damals gab der Gründer, Necmettin Erbakan, den in Deutschland arbeitenden Gastarbeitern ein verlockendes Versprechen. Er wollte ein neues Osmanisches Reich schaffen – eine islamisch geführte Türkei, die zudem wirtschaftlich boomt.

Doch die wirtschaftliche Blüte blieb aus. Andere Staaten haben eine islamische Revolution umgesetzt, wie sie Erbakan vorgeschwebt haben mag, der Iran etwa. Doch er wurde zu einer Diktatur, zu einem abschreckenden Beispiel. Der Gründungstraum von Milli Görüs, so Schiffauer, ist endgültig geplatzt.

"Die Intellektuellen in der Milli Görüs machten damit eine Entwicklung durch, wie ich sie wiederholt bei anderen sozialen Bewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik erlebt habe – etwa bei Radikalfeministinnen oder bei den verschiedenen Radikalmarxisten der siebziger Jahre. ... Auch wenn einige in diesem Dogmatismus stecken blieben, war er doch für die meisten (entgegen dem Augenschein) nicht End-, sondern Ausgangspunkt einer Denkbewegung."

Schiffauer ist überzeugt: Heute lenken sogenannte "Postislamisten" die Milli Görüs. Die zweite Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Sie will keinen islamistischen Staat mehr, sondern den Islam im säkularen Deutschland integrieren. Behutsam, aber bestimmt führen sie die Elterngeneration an die neuen Ideen heran.

Auch die Jugendorganisation von Milli Görüs, in der die alte Propaganda immer wieder aufflammt, wollen die Postislamisten zum Umdenken bewegen, so Schiffauer. Er zitiert hierzu aus einem seiner Interviews. Dort beschreibt ein "Postislamist" eine Begegnung mit einem Jugendlichen, der vom Osmanischen Reich schwärmt. Der Postislamist erwidert:

"'Was weißt Du eigentlich über diese Zeit? Kennst Du die Denker dieser Zeit? Was haben diese Leute gedacht?' Ich seh' da auch meine Aufgabe darin, die Leute dann auch auf diese Widersprüche in ihrem eigenen Auftreten hinzuweisen ... – okay, wir waren in dem Osmanischen Reich so oder damals war es so, aber heute ist es ganz anders, und da kann man doch nicht daran festhalten."

Das Buch entfaltet originelle Visionen. Sobald Milli Görüs in der Bundesrepublik akzeptiert sei, könne eine neue Qualität der Integration beginnen. Milli Görüs könne dann den Gang durch die Institutionen antreten. Als verlässlicher Verhandlungspartner der politischen Parteien. Das verspräche neue Transparenz, um das Stigma der "Fremden" endlich zu überwinden.

"(Milli Görüs) könnte in manchen Kreisen der CSU/CDU Bündnispartner in Bezug auf eine wertkonservative Erziehungs- und Familienpolitik finden; bei der SPD Partner in Bezug auf Sozialgesetzgebung; bei der FDP Interessengemeinschaften, was Existenzgründungen betrifft, und bei den Grünen Partner im Kampf für doppelte Staatsangehörigkeit oder für eine Antidiskriminierungsgesetzgebung."

Soweit der Traum. Die Realität könnte nicht weiter entfernt sein. Schiffauer behauptet: Die Sünden von damals, die Großmachtfantasien, die Demokratieferne, der Antisemitismus seien überwunden. Und doch glaube man Milli Görüs die Integrationsbemühungen nicht.

Deutschland versteife sich auf Islamfeindlichkeit und verrate dabei die eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien. Gleichheit vor dem Gesetz oder Religionsfreiheit werde Milli Görüs vorenthalten, vor allem bei Reizthemen wie dem Schächten oder dem Kopftuch.

Angesichts der Vielfalt der in der pluralistischen Gesellschaft nebeneinander existierenden Werteauffassungen stellt sich die Frage, welche für das Gemeinwesen insgesamt gültig sind: Sind es die Werte der Tierschützer oder die der Religionsgemeinschaften, die das Ethos definieren? Ist die christliche Kultur die Grundlage des Ethos (was bedeutet, dass man Nonnen in Bezug auf das Kopftuchtragen anders behandeln muss als Muslime) oder ist es die Tradition der Aufklärung (woraus die Gleichbehandlung folgen würde)? Und wer beantwortet diese Fragen? Ist der Verfassungsschutz wirklich legitimiert, das Ethos zu definieren?

Schiffauer ist der Auffassung, der Verfassungsschutz beobachte Milli Görüs zu Unrecht, letztlich aus veralteten Vorurteilen heraus. Das Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer, Milli Görüs eine zweite Chance zu geben.

Das Potenzial, sich zu wandeln, hat die Bewegung sicherlich. Natürlich unterscheidet sich die zweite Generation von den Migranten der ersten Stunde. Doch wer hat das Sagen? Nicht mehr die alten Hardliner, sondern die jungen "Postislamisten", ist Schiffauer überzeugt. Wirklich?

Es wäre leichter, Schiffauer zu folgen, wenn mehr kritische Töne in sein Buch gelangt wären. Seine These wirkt oft zu poliert, zu glatt. Das macht hellhörig. Und so stimmt es doch nachdenklich, wenn einer der Interviewpartner, auf die sich Schiffauer stützt, Oğuz Üçüncü ist.

Ein Funktionär, gegen den aktuell ermittelt wird – wegen Urkundenfälschung, Untreue und Geldwäsche. Da möchte man auf einen unglücklichen Zufall hoffen. Denn es wäre ein Gewinn für alle, wenn Schiffauer mit seinem ungebremsten Optimismus recht hätte.