Ungarns Märtyrer

Von Jochen Stöckmann · 16.06.2008
Während des Ungarnaufstands stellt sich Ministerpräsident Imre Nagy hinter die Forderungen der protestierenden Menge: Er setzt sich für ein demokratisches Ungarn und den Austritt des Landes aus dem Warschauer Pakt ein. Doch sowjetische Panzerverbände schlugen den Aufstand blutig nieder. Nagy wurde zwei Jahre später, 1958, nach einem Schauprozess hingerichtet.
Jugoslawiens kommunistische Führung unter Tito schickte eine diplomatische Protestnote nach Moskau, in den Hauptstädten der westlichen Welt demonstrierten die Menschen vor den sowjetischen Botschaften, mancherorts auch gewalttätig, als am 16. Juni 1958 über Rundfunk die Nachricht von der Hinrichtung Imre Nagys bekannt wurde.

Am Tag zuvor hatte in Budapest ein Volksgericht das Todesurteil über den Reformkommunisten verhängt, der als ungarischer Ministerpräsident im Oktober 1956 den Forderungen der protestierenden Menge gefolgt war. Der am 7. Juni 1896 im ungarischen Kaposvár geborene Imre Nagy stand stellvertretend für Hunderttausende seiner Landsleute, die nach Stalins Tod für Demokratie eintraten, die neben freien Wahlen, Mehrparteiensystem und Pressefreiheit auch die Öffnung des Eisernen Vorhangs auf ihre Fahnen geschrieben hatten - und die im November 1956 massenweise in den Westen flüchteten, um der Rachejustiz des Sowjetregimes zu entgehen.

"Nagy erscheint, winkt mit dem Hut, tritt jetzt an das Mikrofon. Wir versuchen seine Rede gleichzeitig ein wenig ins Deutsch zu übersetzen."

"Ich spreche wieder zu Euch, liebe ungarische Brüder, mit warmer inniger Liebe. Der revolutionäre Kampf, dessen Helden ihr ward, hat gesiegt."

Mit der Parole "Russkis raus" reagiert am 30. Oktober 1956 die Menge vor dem Amtssitz des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy auf dessen Ankündigung, das kommunistische Einparteiensystem und die Geheimpolizei abzuschaffen. Demokratisierung allein reicht der Oppositionsbewegung nicht, viele Ungarn verlangen den Austritt aus dem Warschauer Pakt, den Abzug der sowjetischen Panzer. Nagy verschließt sich diesen Forderungen nicht:

"Herr Ministerpräsident, was ist mit dem Warschauer Pakt? Na, ich rede jetzt davon. Also, wir sind da drin oder nicht?"

"Vorläufig sind wir drinnen."

"Haben Sie gesagt, Ungarn will aus dem Warschauer Pakt austreten?"

"Wir haben Verhandlungen begonnen, heute."

Das wird Nagy den Kopf kosten. Nach dem Kalkül der sowjetischen Führung soll der erfahrene, im Zuge der stalinistischen Säuberungen noch vor kurzem aus der Partei ausgeschlossene und nun eilends reaktivierte Funktionär den allseits ungeliebten, weil allzu moskautreuen Staatschef Matyas Rakosi ersetzen - und so die Wogen glätten. Aber statt den Volkszorn propagandistisch zu besänftigen, lässt Nagy sich von den Massen mitreißen. Nun sieht Chruschtschow den Ostblock bedroht. Auf seinen Befehl greifen am 4. November 1956 russische Panzerverbände Budapest an, walzen den Aufstand nieder. Und knapp zwei Jahre später, am 15. Juni 1958, ergeht das Todesurteil gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten:

Im Namen der Volksrepublik! Der Hauptangeklagte Imre Nagy, geboren 1896 in Kaposvár, pensionierter Hochschullehrer, ungarischer Staatsangehöriger, nicht vorbestraft, wird vom Volksgerichtsrat der vollendeten Straftat der Anleitung einer Organisation mit dem Ziel, die volksdemokratische Staatsordnung zu stürzen, sowie des Hochverrats schuldig befunden und zum Tode verurteilt.

Bereits am nächsten Morgen, am 16. Juni, wird Imre Nagy durch den Strang hingerichtet, seine Leiche in einem anonymen Grab auf dem Zentralfriedhof verscharrt. Janos Kádár, Chef einer von den Sowjets eingesetzten sogenannten "Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung" kennt keine Gnade:

Gäbe es jetzt eine Amnestie, würde diese die Hauptschuldigen betreffen, und das würde die Volksdemokratie schwächen.

Ihr wahres Gesicht zeigt diese sogenannte "Volksdemokratie" im Fall Nagy: Beim Einmarsch der Roten Armee hat der ungarische Reformkommunist sich in die jugoslawische Botschaft flüchten können. Am 22. November wird Nagy mit dem Versprechen auf freies Geleit aus dem exterritorialen Gebäude gelockt - gegen alle Vereinbarungen auf die sowjetische Kommandantur geschafft und am nächsten Tag per Flugzeug nach Rumänien deportiert.

Politische Weggefährten von einst sollen den langjährigen Parteisoldaten zu der unter Kommunisten üblichen "Selbstkritik" veranlassen: Um im Westen und vor allem gegenüber Jugoslawiens Staatschef Tito sein Gesicht zu wahren, verlangt das Moskauer Regime Nagys Bekenntnis zur Kádár-Regierung, zumindest eine öffentliche Erklärung, dass der ehemalige Ministerpräsident aus freien Stücken nach Rumänien ausgereist ist. Aber der fast sechzigjährige Politiker bleibt standhaft, schreibt an einen Freund:

Ich werde Ungarn freiwillig nicht verlassen, schlimmstenfalls wird man mich verschleppen, und ich weigere mich, irgendwelche Erklärungen zu unterschreiben. Ich werde mich zu meiner politischen Haltung erst als freier und unabhängiger Mensch äußern.

Das aber lässt ein Tribunal nicht zu, dessen Urteil von kommunistischen Parteiinteressen diktiert wird. Und so bleibt Imre Nagy nur das Schlusswort:
"Mein einziger Trost in dieser Situation ist der Glaube daran, dass ich früher oder später vom ungarischen Volk und der internationalen Arbeiterklasse frei gesprochen werde. Ich glaube, die Zeit wird kommen, dass in diesen Fragen unter ruhigeren Umständen, mit dem gebotenen Weitblick und in besserer Kenntnis der Tatsachen, so auch in meinem Fall, Recht gesprochen werden kann."

1989 war diese Zeit gekommen: Als nationale "Märtyrer" wurden Imre Nagy und die mit ihm Verurteilten am 16. Juni, dem Jahrestag ihrer Hinrichtung, feierlich beigesetzt. Ihre Särge waren zuvor aufgebahrt worden - nicht mehr anonym, sondern auf dem Budapester Heldenplatz.