Unfertig und voller Brachflächen

Günter Schlusche im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 02.08.2011
Berlin bestand immer aus vielen einzelnen Stadtteilen, Quartieren oder alten Dorfkernen - wie Spandau oder Köpenick. Dann kam der Krieg. Und in der zerstörten Stadt wurden zwei unterschiedliche städtebauliche Wege verfolgt. Die Spuren der Geschichte werden im Berliner Stadtbild noch lange erkennbar bleiben, sagt der Architekt Günter Schlusche.
Stephan Karkowsky: Touristen in Berlin stellen diese Frage häufig: War das hier nun früher Ost- oder war es Westberlin? Und vor allem: Wo stand die Mauer? Gerade am Mauergedenktag, dem 13. August. Architekten fällt es da leichter, sich in Berlin zu orientieren, sie erkennen im Stadtbild auch 22 Jahre nach dem Mauerfall noch das jeweils typische aus Ost und West.

Doktor Günter Schlusche soll uns durch die Architektur Berlins führen. Der Architekt war Planungs- und Baukoordinator für das Holocaust-Mahnmal und leitet heute die Erweiterung der Gedenkstätte Berliner Mauer. Herr Schlusche, guten Tag!

Günter Schlusche: Guten Tag!

Karkowsky: Wer sich alte Filme oder Bilder ansieht vom Vorkriegsberlin, der kann ja ganz wehmütig werden, wie prachtvoll diese Stadt einmal aussah. War die Architektur in Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg eigentlich einheitlich geplant, damit das gesamte Stadtbild berücksichtigt werden konnte?

Schlusche: Also, es gibt so ein Bonmot von dem früheren Senatsbaudirektor Düttmann: Berlin ist viele Städte. Und das trifft durchaus die Situation vor 1945, denn Berlin war nie so eine einheitliche, systematisch durchgeplante Stadt, sondern es bestand immer aus vielen einzelnen Stadtteilen, Quartieren, Kiezen, und auch aus alten Stadtkernen – wenn Sie zum Beispiel an Spandau denken, wenn Sie an die mittelalterliche Stadt Köpenick denken oder an die ganzen Dorfkerne –, all dieses hat sich in der Stadtstruktur eigentlich … – bis 45 war das sehr präsent und das hat sich auch jetzt nach diesen schweren Einschnitten und Störungen immer noch irgendwo erkennbar gehalten.

Karkowsky: Aber zumindest funktionierte der Städtebau in der Zeit unter einem einheitlichen politischen System – das war dann anders. Vor allem, als die Trennung besiegelt wurde mit dem Mauerbau 1961. Da waren die beiden Teile Berlins politisch ja schon mehrere Jahre getrennt. Gab es denn in dieser Zwischenzeit jemals die Bestrebung trotz der Trennung, einen gemeinsamen Wiederaufbau und damit eine gemeinsame Stadtplanung voranzutreiben?

Schlusche: Diese Phase gab es, die war sehr kurz, aber sie war vorhanden, und sie begann 1945, unmittelbar nach Kriegsende. Beteiligt daran war übrigens maßgeblich der in Westberlin ja sehr bekannte Architekt Hans Scharoun. Der war nämlich damals Leiter der Planungsabteilung des Berliner Magistrats, der noch für die gesamte Stadt fungierte, und er hatte mit anderen zusammen die Vision dieses Berliner Kollektivplans entwickelt, die kurze Zeit lang tatsächlich eine mögliche Vision darstellte. Dann aber – drei Jahre später bereits – waren diese gemeinsamen Grundlagen nicht mehr existent. Die Stadt baute auf getrennte Verwaltungen auf. Schon 1949 waren die Stadtverwaltungen in beiden Stadthälften getrennt, und seitdem begann auch eine getrennte, zwar immer von der einen Seite für die Gesamtstadt her gedachte, aber nie mehr gemeinsam geplante Entwicklung der Stadt.

Karkowsky: Und weiß man da jetzt, nur weil man die Geschichte kennt, das eine war Ost, das andere war West? Oder sind die Bauvorhaben einfach auch ganz unterschiedliche Repräsentanten ihrer Systeme?

Schlusche: Die sind ganz unterschiedlich, und die baukulturelle Haltung, die sich da in diesen beiden Demonstratievorhaben realisiert hat, war zu dem Zeitpunkt ganz unterschiedlich! Im Osten war es eine eher klassizistisch orientierte – das ist eigentlich bemerkenswert! – eine klassizistisch orientierte Bauerfassung mit zentralen Achsen, mit Säulen – gucken Sie sich die Stalinallee, die Details an, die Kuppeln des Frankfurter Tores, das waren Anklänge an den Gendarmenmarkt – das war eine auf die klassischen Bautraditionen bezogene Architektursprache. Und deswegen nannte sie sich auch national in der Form, sozialistisch im Inhalt. Das war die Parole.

Im Westen war das anders: Das Hansaviertel war ja Verkörperung der – durch die Nazis verpönten und nun wieder reaktivierten – Ideale der Moderne, in diesem Fall der Nachkriegsmoderne. Man hat hier einen völlig anderen Städtebau demonstriert, der sich sehr stark an dem Licht-Luft-Sonne-Programm der 20er-Jahre orientierte, aber eigentlich darüber hinaus ging. Das Ideal war die Stadtlandschaft, die Verbindung von Stadt und Tiergarten, das war eine ganz andere Formsprache! Die war sehr modern, stieß aber gleichwohl auch auf großen Zuspruch und war für die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadthälfte von ebenso großer Bedeutung. Aber beides waren eben auch Abgrenzungs- und konkurrierende Bauauffassungen und architektonische Verkörperung.

Karkowsky: Sie hören zu den Folgen des Berliner Mauerbaus für den Städtebau in Ost- und Westberlin den Chefplaner der Gedenkstätte Berliner Mauer, Dr. Günter Schlusche. Herr Schlusche, das ist ja verwirrend! Wenn man durch den Ostteil Berlins fährt, vom Brandenburger Tor aus die Straße unter den Linden hoch, da kommt vor dem Schlossplatz zunächst dieses klassizistische Ensemble. Man sieht die Säulen der Staatsoper, des alten Museums, Museumsinsel, Humboldt-Uni, und dann plötzlich die Betonarchitektur des Alexander-Platzes mit dem Fernsehturm. Könnten da nicht Touristen auf die Idee kommen, die Grenze verlief direkt hinterm Berliner Dom in der Spree, oder wie lässt sich das erklären, dass im Sozialismus einerseits auf Klassizismus gesetzt wurde, andererseits aber auf diese typische sozialistische Bauweise?

Schlusche: Ich denke schon, dass auch ein nicht vorinformierter außenstehender Berlin-Besucher merkt, dass er unter den Linden das alte Berlin betritt. Das ist ja so in dieser Form am Kurfürstendamm oder an anderen westlichen Straßen gar nicht so manifest, allenfalls auf der Schlossstraße, die zum Schloss Charlottenburg führt. Aber da auch in einem kleineren Maßstab. Also, das würde ich sagen, diese Gefahr besteht nicht, aber in gewisser Weise haben Sie recht. Denn was am Ende der Linden Platz gegriffen hat, war ja wieder die Moderne!

Das war auch in Ostberlin wieder die Reaktivierung dieses Ideals der Stadt der Moderne, allerdings mit zehn oder 15 Jahren Verspätung, nachdem dann von der politischen Führung ja als Irrweg abgetanen Versuch der Stalinallee. Man hat ja dieses dann aufgegeben und ist dann – und zwar hauptsächlich als Folge dieses großen ökonomischen Drucks, dieses Zwangs zur Industrialisierung des Bauwesens – ist man ja zurückgekehrt zu den Bauauffassungen der Moderne, und die haben sich dann gerade auch in der Stadtmitte hinter den Linden, um den Alexanderplatz da konkretisiert, da manifestiert – dort stand ja auch das hauptstädtische Zentrum von Ostberlin, von dem ja heute fast nichts mehr übrig ist, wenn man von dem Staatsratsgebäude der DDR absieht. Das ist ja das einzige, was noch steht.

Aber ansonsten ist natürlich das Zentrum um den Alex ist eine klar moderne Stadtauffassung, die sehr viel zu tun hat mit dem, was also auch im Westen hochgehalten wurde, allerdings könnte man in einigen Punkten auch die architektonische Qualität, wenn man die sich mal genauer untersucht, dann gibt es da schon noch Differenzierungen, aber wichtig ist, auch hier hat sich dann wieder die architektonische Moderne durchgesetzt. Und das meine ich nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinne. Denn die Moderne bedeutete ja auch dieses Leitbild der autogerechten Stadt.

Karkowsky: Eins sollten wir noch klären: Uns sind zahlreiche durch die Mauer getrennte Verbindungswege nach der Wende wiederhergestellt worden. Manche Berliner Doppelstrukturen sind bis heute noch da – die Opernhäuser zum Beispiel –, und manches wartet sogar noch auf Bebauung, wie die Brachflächen rund um den Hauptbahnhof. Wagen Sie doch mal eine Prognose: Werden die Spuren der Teilung Berlins irgendwann verwischt sein, oder werden Architekten und Städteplaner auch zum 100. Mauergedenktag in 50 Jahren noch auf Anhieb erkennen können, ob sie sich im ehemaligen West- oder Ostteil befinden?

Schlusche: Ich glaube, sie werden es schwieriger schaffen, auszumachen, wo die Mauer verläuft – aber es wird möglich sein. Für den aufmerksamen Betrachter wird es auch in 50 Jahren noch möglich sein. Was der Betrachter aber mit Sicherheit nach meiner Meinung auch in 50 Jahren noch mitbekommen wird ist das Unfertige an Berlin. Berlin ist einfach so heterogen durch diese ganzen Zäsuren, die Teilung, die ganzen Hauptstadtplanungen, die ja auch unter den Nationalsozialisten angegangen wurden, und die in Preußen schon angegangen worden sind – dieses Unfertige dieser Stadtstruktur von Berlin, das wird sicherlich auch noch in 50 Jahren erkennbar sein.

Und man muss auch klipp und klar sagen: Die riesigen Brachflächen, die Berlin im Zentrum hat, aufgrund dieser Zäsuren, aufgrund der Teilung, unmittelbar neben dem Hauptbahnhof, entlang des Spreeufers, diese Riesen-Brachflächen werden in der einen oder anderen Form auch noch in 50 Jahren irgendwo sichtbar sein.

Karkowsky: … im Zentrum?

Schlusche: Vielleicht nicht in dieser Größenordnung, aber ich glaube nicht, dass die ökonomische Kraft von Berlin, die wir jetzt wieder haben, dass die ausreichen wird, das alles wieder voll zu machen. Denn dann ist Berlin nicht so eine ausentwickelte und hochverdichtete Stadt wie es meinetwegen London oder im deutschen Maßstab vielleicht Frankfurt ist. Es gibt hier einfach viel zu viel Entwicklungspotenzial, was auch in 50 Jahren noch Chancen bietet für eine weitere Entwicklung.

Karkowsky: Wie die Teilung Berlins zwei städtebaulich unterschiedliche Stadthälften zur Folge hatte, danke dafür an Doktor Günter Schlusche, den Chefplaner der Gedenkstätte Berliner Mauer!


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