Donnerstag, 28. März 2024

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Ruhrgebiet
Arbeitslosigkeit, Armut und Tristesse

Deutschland ist ein reiches Land, mit einer boomenden Wirtschaft. Davon kommt allerdings im Ruhrgebiet - der ehemals wichtigen Stahl- und Kohleregion - nichts an. Hier gibt es viele bedürftige Menschen, vor allem so viele bedürftige Kinder, wie sonst nirgendwo in Deutschland. Und es geht seit Jahren immer mehr bergab.

Von Wolfram Goetz | 07.08.2016
    NRW, Ruhrgebiet, Dortmund, Nordstadt, Der Stadtbezirk Innenstadt-Nord gilt mit 53.000 Einwohnern und einer Bevölkerungsdichte von 36,7 Einwohnern pro Hektar als größtes und dicht besiedelstes, zusammenhängendes Altbaugebietes im Ruhrgebiet.
    Ein Straßenzug im Stadtteil Nordstadt von Dortmund. (imago/Ralph Lueger)
    Lied: "Eins und zwei und drei und vier, Montags demonstrieren wir, fünf und sechs und sieben und acht, das Hartz-Gesetz wird plattgemacht. Das Hartz-Gesetz wird platt gemacht."
    Montagsdemonstration gegen Hartz IV in Dortmund, wie jeden Montag, seit nun schon fast zwölf Jahren.
    "Dass es völlig berechtigt ist, auf die Straße zu gehen, gegen die Hartz-Gesetze, zeigen die Pläne, die die Bundesregierung vor hat."
    Unter anderem nämlich eine Verschärfung von Sanktionen. Nach Meinung der Montagsdemonstranten sind die Hartz-Gesetze eine Zumutung für die Armen im Ruhrgebiet. Das ist auch am sogenannten offenen Mikrofon zu hören, an dem sich eine kleine Frau mit Brille zu Wort meldet:
    "Für mich waren die Hartz-Gesetze immer schon schlimm, weil die Kinder von Hartz-IV-Empfängern von ihrem Kindergeld leben müssen, was also jeder normale Bürger als Extra dazubekommt. In Dortmund sind es 21.000, man muss diese Zahl wirklich mal wirken lassen, 21.000 Kinder, die von Hartz IV leben."
    Dass Dortmund keine reiche Stadt ist, ist schon hier auf der Einkaufsmeile zu sehen: Die meisten Geschäfte gehören zu großen Filialketten, Discounter verkaufen billige und billigste Kleidung.
    "Wenn die Sozialgesetzgebung sich nicht kurzfristig, und zwar ganz kurzfristig ändert, sodass die Leute wieder ein vernünftiges Auskommen haben, gerade auch die Rentner, wenn das nicht ganz schnell geändert wird, dass Leute, die ihr Leben lang gearbeitet haben, mit einer vernünftigen finanziellen Ausstattung versehen werden, dann wird denen die Bundesrepublik um die Ohren fliegen."
    Klaus Milchau, ein kräftiger Mann mit Sonnenbrille und Lederweste, ist selbst Rentner, hat 48 Jahre in der Industrie gearbeitet, zuletzt Spezialmaschinen für die Metallverarbeitung gebaut.
    "Es wird immer so getan, als wenn wir jetzt hier das Wunderland der Schaffung von Arbeitsplätzen wären. Die ganzen neuen Arbeitsplätze liegen im Prekären, in Zeitarbeit. Dass also Leute, ich sage mal, mehr oder weniger mit 'nem Appel und 'nem Ei abgespeist werden, anstatt den Leuten für ihre vernünftige Arbeit ein ordentliches Entgelt zu zahlen, damit eben auch davon mal eine Familie gegründet werden kann."
    Arbeitslosigkeit als Hauptursache für die Armut
    Arbeitslosigkeit ist die Hauptursache für die Armut im Ruhrgebiet. Und von Billigjobs und Zeitverträgen bis zur Arbeitslosigkeit ist es nicht weit. Auch Jutta Reiter, DGB-Chefin im östlichen Ruhrgebiet, meint, das Jobwunder in Deutschland gehe an den vielen Langzeitarbeitslosen der Region vorbei:
    "In Dortmund sind seit den 80er-Jahren 13.000 Stellen entstanden im akademischen Bereich. Aber qualifizieren Sie doch mal jemanden, der in SGB II ist dahin, wo dann tatsächlich so eine Stellenerwartung ist. Und das macht dann die Problemlage, die wir hier in Dortmund und ich denke, auch im ganzen Ruhrgebiet haben, ziemlich deutlich: Dass wir nämlich auf der einen Seite wirklich einen wachsenden Arbeitsmarkt haben, aber überhaupt keinen Arbeitsmarkt mehr haben für gering- und niedrigqualifizierte Menschen. Und damit eben halt wir eine Situation haben, wo wir richtig verfestigte Strukturen haben. Und die Menschen lange in Arbeitslosigkeit sind und damit dann auch wirklich arm sind."
    Hartz IV und Armut
    Hartz IV: Viele Menschen leben im Ruhrgebiet in relativer Armut. (picture alliance / dpa)
    In einem Vorort von Bochum, einer älteren Reihenhaussiedlung in einer ruhigen Nebenstraße. Hoch in eine Wohnung im 1. Stock. Nur knapp über 40 Quadratmeter, aber lichtdurchflutet und gut geschnitten. Die Einrichtung sieht auf den ersten Blick durchaus nicht nach Armut aus. Doch die hellen Holzmöbel kommen vom Sperrmüll. Susanne Klein, die in Wirklichkeit anders heißt, lebt schon scheint einigen Jahren vom Arbeitslosengeld II, derzeit 404 Euro im Monat.
    "Man muss also schon bei allem, was man einkauft, überlegen. Das heißt also, wenn ich zum Beispiel im Supermarkt einkaufe, dann immer das Preiswerteste."
    Nach einem abgebrochen Ingenieurstudium hatte die Mittvierzigerin bis heute immer nur gelegentliche Jobs - und landete immer wieder im Hartz-IV-System.
    "Der Knackpunkt bei mir ist, dass ich keine abgeschlossene Berufsausbildung habe. Und in meinem Alter jetzt eine Umschulung zu machen, würde jetzt auch nicht unbedingt meine Jobaussichten fördern."
    Nur Rauchen ist ein kleiner Luxus, den sich Susanne gönnt. Mal einen Abend auszugehen ist dagegen für sie normalerweise nicht drin.
    "Weil weder Kino, noch Essen gehen, noch Konzerte eigentlich mit diesem Geld möglich sind. Das führt auch dazu, dass man sich doch etwas ausgeschlossen fühlt."
    Und so sitzt Susanne eben viel daheim vor dem Computer. Das Internet ist noch die günstigste Unterhaltungsmöglichkeit. Allein gelassen fühlt sich Susanne Klein auch von der Arbeitsvermittlung. Doch Jobs für Menschen ohne Berufsausbildung gibt es auch im Ruhrgebiet kaum noch:
    "Also, vom Arbeitsamt selbst habe ich, glaube ich, bisher nur ein Jobangebot bekommen. Das war als LKW-Fahrer. Und ich habe also, ich habe nur einen PKW-Führerschein. Und ansonsten muss man sich eben selbst bewerben."
    Dafür hat sie schon auch diverse Bewerbungstrainings absolviert. Gebracht hat das ebenso wenig wie andere Qualifizierungsmaßnahmen, zu den sie das Jobcenter geschickt hat:
    "Ich habe also sowohl Word-, Excel-Kurse an der Volkshochschule belegt, die einem allerdings überhaupt nichts bringen, wenn man nicht das Geld hat, sich die Programme zu kaufen."
    Also schlägt sich Susanne Klein mit ihrem wenigen Geld durch. Hilfsangebote wie die der Tafeln, die überall im Ruhrgebiet Lebensmittelspenden verteilen, lehnt sie für sich ab. Das brauche sie nicht, anderen gehe es schlechter. Auch Armutsforscher unterscheiden zwischen absoluter Armut, also Menschen, die hungern und kein Dach über dem Kopf haben, und relativer Armut. Relativ arm ist demnach, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in Deutschland zur Verfügung hat. Das ist auch die Grundlage für den jährlichen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
    Starke Zunahme der Armut
    In keinem anderen Bundesland ist demnach die Armut in den vergangenen zehn Jahren auch nur annähernd so stark gewachsen wie in Nordrhein-Westfalen. Im Ruhrgebiet gilt mittlerweile jeder Fünfte als arm, das sind eine Million Menschen. Viele von ihnen sammeln sich in bestimmten Stadtvierteln, die Ruhrgebietsstädte teilen sich meist in einen armen Norden und einen wohlhabenden Süden. Die Bessergestellten meiden die nördlichen Stadtteile, in denen viele Hartz-IV-Bezieher leben und viele arme Zuwanderer. Diese treffen im Grunde die gleichen Armutsrisiken wie Deutsche, nur in verschärfter Form. Besonders gefährdet sind Arbeitslose, Alleinerziehende oder kinderreiche Familien. Ein Sonderfall sind die Zuwanderer aus Südosteuropa. Nachdem Bulgarien und Rumänien 2007 in die Europäische Union aufgenommen wurden, sind sehr viele arme Menschen aus diesen Ländern ins Ruhrgebiet gekommen.
    Menschen stehen am Dienstag (01.02.2011) Schlange im "Integrationscenter für Arbeit Gelsenkirchen - das jobcenter" in Gelsenkirchen
    Menschen stehen Schlange im "Integrationscenter für Arbeit Gelsenkirchen - das jobcenter" in Gelsenkirchen (pa/dpa/Stratenschulte)
    Besuch im Dortmunder Rathaus, ein schnelles Interview zwischen Tür und Angel. Denn Sozialdezernentin Birgit Zoerner hat nur wenig Zeit. Die unauffällige, kleine Frau mit der schmalen Brille und den kurzen Haaren ist bundesweit gefragt: Sie leitet eine Arbeitsgruppe des Deutschen Städtetages zum Thema Armutszuwanderung:
    "Man kann sagen, dass die Ruhrgebietsstädte Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund, auch Hamm, ähnliche Probleme haben. Die beziehen sich auf die Qualifikationsstruktur, die beziehen sich auf die anderen Problemlagen auch. Es gibt Städte, ich sage mal, im Süden wie München zum Beispiel, da kommen sehr viele qualifizierte Menschen an. Die haben allerdings auch eine Tradition in der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien, anders als wir hier im Ruhrgebiet. Und die haben das Thema Arbeitsmarktintegration nicht in dem Maße wie wir."
    Armutszuwanderung ist eine Generationenaufgabe
    Ins Ruhrgebiet sind dagegen sehr viele Südosteuropäer gekommen, die nicht einmal lesen und schreiben können, geschweige denn einen Schulabschluss haben. Diese Familien zu integrieren, sei eine Generationenaufgabe, sagt die Sozialdezernentin:
    "Wenn Kinder eine ununterbrochene Schulbiografie haben, anschließend eine Ausbildung hier in Deutschland machen, die Sprache gelernt haben, dann haben sie die Perspektive, sich hier am Arbeitsmarkt zu integrieren. Für die meisten Eltern wird das ganz schwierig werden."
    Und auch die Flüchtlinge kosten die Kommunen im Ruhrgebiet viel Geld: Denn Nordrhein-Westfalen erstattet die Kosten für die Unterbringung nur pauschal, die Städte bleiben auf einem Teil sitzen. Anders als zum Beispiel in Bayern, wo das Land die Kosten nach Abrechnung voll übernimmt.
    - "1,2,3,4,5,6 ..."
    - "Das lernen wir aber auch noch."
    - "Ja, ok."
    - "Das üben wir aber auch noch."
    - "Was müssen Sie denn jetzt zählen?"
    - "Die Stückzahl. Dass das Gemüse zum Brot passt. Dass es die gleiche Stückzahl ist wie die Brote."
    - "Dass jedes Kind dann auch ein gesundes Teil hat."
    Sieben Uhr morgens in Gelsenkirchen. Fünf Frauen und ein Mann machen in einer großen Küche Frühstück. Für arme und vernachlässigte Schulkinder, die sonst ohne Pausenbrot durch den Tag kommen müssten.
    - "525 sind es im Moment."
    - "Schulbrote mit Käse und mit Wurst und Gemüse heute. Mal gibt es Obst und mal gibt es Gemüse. Es ist ganz verschieden."
    - "Wir haben halt gesundes Brot und kaufen auch gute Wurst und guten Käse ein, also das sind nicht aus Spenden, sondern das wird von den Tafeln eingekauft, dass wir auf die Qualität auch achten können, dass die Kinder wirklich gut versorgt sind."
    In Gelsenkirchen leben 40 Prozent aller Kinder in Hartz-IV-Haushalten. Auch in Duisburg, Dortmund oder Essen sind es mehr als 30 Prozent. Manche gehen mit Currywurst oder Pommes Frites vom Vortag in die Schule. Andere müssten den Tag mit leerem Magen durchstehen, wenn es nicht die Kindertafel in Gelsenkirchen gäbe:
    - "Wenn wir so bis acht Uhr fertig sind, sind wir gut in der Zeit. Die müssen ja weg, die Brote."
    - "Die sollen ja auch nicht pappig werden, die sollen ja frisch bleiben."
    - "Der Fahrer muss die ja noch an den Schulen verteilen."
    - "Jetzt packe ich erst mal ein bisschen die Brote mit ein, dass das schneller geht. Und dann fahre ich meine Tour. Die dauert so etwas über zwei Stunden dann."-.
    - "Wie viele Schulen klappern Sie dann ab?"
    - "Nur 15 Stück. Aber die sind über das ganze Stadtgebiet verteilt."
    Rund 100 Kilometer macht Fahrer Friedhelm Fischer am Tag. Wenn er mit der Versorgung der Schulkinder fertig ist, stehen bei der Tafel in Gelsenkirchen die Erwachsenen an. Antonia Matjas und Edwina Fischer helfen dann weiter mit, ehrenamtlich:
    - "Ich mache nachher mit die Lebensmittelausgabe vorne. Da wird Gemüse gebracht, Obst, Brot, Käse, Wurst und so was alles. Und da helfe ich dann auch mit. Das geht dann noch bis halb zwei."
    - "Und gibt's dann hier auch lange Schlangen?"
    - "Ja. Ja."
    - "Sehr lange Schlangen. Ganz um das Haus rum, bis hier vorne hin. Immer sehr voll."
    - "Wird das denn mehr oder wird es weniger?"
    - "Also im Moment haben wir so um die 230 Kunden pro Tag. Und es wird mehr. Leider."
    Tafel-Helferin Jutta Klingbeil kennt die Sorgen der Betroffenen nur zu gut, denn sie hat selbst zu wenig Geld:
    "Wenn man nicht mehr ein und aus weiß und die Kosten einen übersteigen, und zum Leben nichts mehr übrig bleibt, dann bleibt einem nichts anderes übrig. Wie viele sieht man Flaschen sammeln? Rentner. Habe selbst einer alten Dame vor Kurzem, hier bei Rewe, die hat gezählt und gezählt, da hat nur eine Kleinigkeit gefehlt, mein Gott, was soll die alte Oma mit fast 90, die hat mir so leid getan. Habe ich den Rest noch bezahlt, von ein paar Cent. Die kommen nicht, die armen Rentner, die sind sich zu schade, zu stolz, oder haben die Kraft einfach nicht mehr."
    Oberhausen: Tristes in der Innenstadt
    Die Marktstraße in Oberhausen, Einkaufsmeile in der Innenstadt. Hier sieht es noch einmal deutlich schlechter aus als in Dortmund. Dort gibt es wenigstens noch große Kaufhäuser und Markenbegleitungsgeschäfte, in Oberhausen dagegen nur noch Textil-Discounter und Ein-Euro-Shops. "Rabatt-Outlet – bis zu 70 Prozent reduziert" ist in den Schaufenstern zu lesen, "Lecker, lecker!" verspricht ein Laden mit Billig-Lebensmitteln. Inhabergeführte Geschäfte gibt es nur noch wenige, in den Seitenstraßen, wie das von Barbara Konrad. Sie verkauft seit 26 Jahren hochwertige Damenunterwäsche.
    "Diese Ein-Euro-Geschäfte bekommen es irgendwo schon hin, weil es gibt ja immer mehr Menschen, die Ein-Euro kaufen müssen. Aber je mehr wir Ein-Euro haben, je schlechter wird die Innenstadt."
    Die besseren Geschäfte sind alle in das Centro gezogen – das größte Einkaufs- und Freizeitzentrum in Europa. Vor 20 Jahren wurde es außerhalb der Oberhausener Innenstadt eröffnet, auf einem alten Industriegelände, das die Stadt Neue Mitte getauft hat.
    "Am Wochenende kommen also auch die Busse, und, aus Holland kommen viele. Ich weiß noch nicht mal, ob die alle viel einkaufen. Weil diese Geschäfte gibt es auf der ganzen Welt. Ich brauche das nicht mehr."
    Aber die alte Stadtmitte bräuchte diese Geschäfte, meint die Händlerin. Oberhausen vernachlässige die Innenstadt. Im Rathaus ist die Klage durchaus bekannt:
    Abendlicher Blick über die Stadt Gelsenkirchen. 
    Ein Blick über die Stadt Gelsenkirchen. (Imago / Jochen Tack )
    "Wir brauchen attraktive Freizeitmöglichkeiten in den Innenstädten, wir können mit Kultur eine ganze Menge bewegen in der Innenstadt, wir brauchen Parkplätze, wir brauchen Einkaufsmöglichkeiten, wir brauchen auch Arbeitsgelegenheiten in den Innenstädten. Die Innenstädte müssen sauber und attraktiv sein. Das versuchen wir, aber bei den beschränkten Mitteln, die wir haben, ist das natürlich sehr, sehr schwierig."
    Apostolos Zalastras – 51, kurze Haare, blaues Hemd und gedeckte Krawatte – lächelt und lehnt sich zurück. Zum Dramatisieren oder Beschönigen neigt er nicht. Seit fünf Jahren ist Zalastras hier Kämmerer. In der einst am stärksten verschuldeten Stadt Deutschlands konnte er immerhin die Neuverschuldung fast stoppen. Oberhausen bekommt aber immer noch Geld aus einem sogenannten Stärkungspakt des Landes für verschuldete Städte, in diesem Jahr mehr als 50 Millionen Euro. Und Oberhausen sitzt immer noch auf einem Berg von Alt-Schulden von fast zwei Milliarden. Der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland gehe am Ruhrgebiet vorbei, meint Kämmerer Tsalastras:
    "Wir haben im Ruhrgebiet, was unsere Wirtschaftsstruktur angeht, nicht die Wachstumsimpulse, die woanders sind, das muss man einfach sagen. Die große Industrie - und insbesondere die Energiewirtschaft - ist in der Krise, das wirkt sich sofort aufs gesamte Ruhrgebiet aus. Und wir haben nicht diese mittelständischen Strukturen, die eigentlich die Wirtschaft im Augenblick in der ganzen Bundesrepublik stützen."
    Oberhausen spart überall
    In Oberhausen hat der Kämmerer in den vergangenen Jahren mit Unterstützung der Politik überall gespart: Bei Kultur, Sport, Jugendarbeit oder in der Organisation der Verwaltung. Schwimmbäder wurden geschlossen, Grundsteuer und Gewerbesteuer erhöht. Aber das habe Grenzen, sagt der Kämmerer:
    "Was wir unbedingt vermeiden müssen, ist eine Entwicklung wie in Frankreich, wo in den Banlieues die Leute nur noch wohnen. Und zwar nur noch die, die von der Sozialhilfe leben. Wenn wir uns im Ruhrgebiet in so eine Richtung entwickeln, dann kriegen wir Verhältnisse wie dort.
    In anderen Städten des Ruhrgebiets haben die Sparzwänge bizarre Blüten hervorgebracht. Zum Beispiel in Hagen:
    "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" – ein Stummfilm-Klassiker. Hier neu vertont vom Komponisten Bernd Wilden, unter seiner Leitung gespielt vom Philharmonischen Orchester der Stadt Hagen. Die Stadt am Rand des Ruhrgebiets leistet sich neben dem Musiktheater auch ein Ballett und ein Schauspiel – noch. Wegen der desaströsen Haushaltslage soll das Theater ab 2018 drastisch sparen, 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Zur Rettung des Hagener Theaters hat der Autor und Kabarettist Christoph Rösner eine Onlinepetition auf den Weg gebracht. Spartenschließungen oder nur noch Gastspiele, ein Theater ohne eigenes Ensemble. Horrorvorstellungen für Christoph Rösner:
    "Die Hagener Geschäftsleute, mit denen ich kommuniziere, bei denen laufe ich wirklich offene Türen ein. Weil denen offensichtlich im Vergleich zur Politik sehr klar ist, was es bedeuten würde, wenn nicht nur das Theater und das Haus, sondern die Menschen, die knapp 300 Menschen, die da arbeiten und deren Familien, mehr oder weniger zwangsläufig diese Stadt verlassen würden. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die einfach in Hagen blieben, weil es so schön ist, obwohl das Theater nicht mehr da ist."
    Manche unnütze Großausgabe
    Dass man die hoch verschuldeten Städte nicht kaputtsparen dürfe, ist im Ruhrgebiet überall zu hören. Zum Beispiel in Essen:
    26. Juni 1955. Rot-Weiss Essen wird deutscher Fußballmeister. Jahrzehnte später ist der Traditionsverein von der Erstklassigkeit weit entfernt. Und das Stadion ist baufällig. Die Stadt beschließt einen Neubau, den sich der Verein nicht leisten könnte. Gesamtkosten 43 Millionen Euro, für den Betrieb schießt die Stadt pro Jahr eine halbe Million zu. Der damalige Oberbürgermeister Reinhard Paß verteidigte die Ausgabe, die der Stadtrat beschlossen hatte:
    "Wir sind natürlich als Stadt jetzt etwas gebeutet finanziell, das wissen wir alles. Aber es geht ja auch darum, Zukunft zu gestalten. Und jetzt nicht nur auf der aktuellen Sparsituation aufzusetzen. Und deshalb ist das hier eine wichtige Investition, die auch in der Zukunft unserer Stadt gut tun wird."
    Aber müssen sich hoch verschuldete Städte wirklich solche Ausgaben aufladen? Essen ist kein Einzelfall. In Dortmund beschloss der Stadtrat vor einigen Jahren den Kauf eines alten Brauereihochhauses, um es vor dem Abriss zu bewahren und zu einem Kunst- und Kulturzentrum auszubauen. Gesamtkosten für das "Dortmunder U": Rund 100 Millionen Euro, der Betrieb kostet rund zehn Millionen pro Jahr. Überflüssige Ausgaben? Für den Kämmerer der Stadt Oberhausen jedenfalls nicht der Kern des Problems:
    "Ich mag jetzt nicht ausschließen, dass jede Stadt an irgendeiner Stelle mal eine Fehlentscheidung getroffen hat. Aber das ist nicht unser Hauptproblem. Das sind nicht die großen Lasten, die wir tragen, sondern das sind die Soziallasten eindeutig. Wenn ich allein die Kosten der Unterkunft bei uns nehme, da kriege ich zwar auch ein bisschen was erstattet, aber das sind mittlerweile 65 Millionen Euro in einer 210.000-Einwohner-Stadt. Das ist Wahnsinn. Also das ist schon unsere größte Last. Wenn wir die nicht hätten, dann könnten wir auch investieren in die Zukunft der Stadt, könnten wir auch viel mehr Entwicklungsarbeit leisten. Das ist dann schlichtweg nicht möglich, weil das Geld fehlt."
    40 Prozent für die Sozialausgaben
    40 Prozent der Oberhausener Ausgaben sind Sozialausgaben, rund 300 Millionen Euro. Ähnlich sieht es überall im Ruhrgebiet aus. Die Armut der Menschen führt zur Armut der Städte. Doch für Apostolos Tsalastras wäre es mit Geld allein nicht getan:
    "Bei uns sind 85 Prozent der Hartz-IV-Bezieher Langzeitarbeitslose. Die kriegen wir nicht durch die Maßnahmen, die die Bundesagentur vorhält, in den Arbeitsmarkt integriert, das heißt, wir brauchen für die Beschäftigung, die von uns als Kommunen organisiert wird, oder gemeinsam mit der Bundesagentur, aber die Leute müssen wieder in Arbeit."
    Das meint auch Jutter Reiter vom DGB in Dortmund. In den 80er-Jahren habe es in der Stadt noch 30.000 Stellen mehr als heute für geringqualifizierte Menschen gegeben:
    "Es gibt Arbeit. Es gibt Arbeit, die auch gemacht werden muss und die für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt dringend erforderlich ist, die aber niemand mehr bezahlen will."
    Und natürlich: Weg mit Hartz IV, jedenfalls, soweit das Gesetz die Armut von Menschen wie Kommunen im Ruhrgebiet verschärfe. Und so lange wird auch weiter demonstriert, bei den wöchentlichen Montagsdemos, in Duisburg, Hagen, Essen, Herne, Bottrop, Bochum, Witten und Recklinghausen.
    Zurück nach Dortmund, wo sich die Montagsdemonstration dem Ende zuneigt:
    "Und deshalb fordern wir: keine Verschärfung der Sanktionspolitik, sondern Abschaffung der Sanktionen. Weg mit den Hartz-Gesetzen, für ein Arbeitslosen- und Sozialgeld, von dem man auch menschenwürdig leben kann. Hiermit beende ich heute offiziell die Montagsdemo. Nächste Woche sehen wir uns wieder. Tschüss!"