Unerhörte Klänge

Von Jan Tengeler · 20.05.2013
Das Moers Festival hat sich als wichtiges Ereignis für avancierten Jazz und improvisierte Musik etabliert - seit über 40 Jahren. Denn: Hier wird Musik ermöglicht, die sonst wenig Beachtung findet. Highlight in diesem Jahr war der Auftritt von John Zorn.
Rainer Michalke: "Ich habe mich in die Halle verliebt, es ist eine neue Positionierung, man kann sich noch mal neu erfinden, alte Gewohnheiten auf null stellen, dafür andere Dinge, nämlich den Inhalt, noch erweitern - in der Risikobereitschaft können wir noch weiter gehen, die neue Halle hat noch mehr Möglichkeiten."

Noch mehr Möglichkeiten bedeuten für Rainer Michalke noch mehr musikalische Überraschungen und mehr leise Töne. Denn ein Problem im Zelt sei immer der relativ hohe Lärmpegel gewesen, so Michalke. Was nicht bedeutet, dass es nicht auch in diesem Jahr viele fragile Töne gegeben hat beim Moers Festival. Zum Beispiel vom Arditti Streichquartett. Dass mit diesem Ensemble eines der besten für Neue Musik in Moers zu Gast war, ist dem Komponisten John Zorn zu verdanken. Zorn durfte einen ganzen Abend gestalten, ein Novum, das mit einem ausverkauften Zelt am Eröffnungsabend überaus erfolgreich war. Das Programm ließ an Facettenreichtum nicht zu wünschen übrig. Zorn präsentierte sieben seiner Projekte: von anspruchsvollem Easy Listening über sphärischen Gesang nach Texten von Hildegard von Bingen bis hin zu Kraftexzessen zwischen Hardcore und Free Jazz.

Michalke: "Ich wusste, dass er allem simultan arbeitet, wie ein Schachspieler, der simultan spielt. Dass das alles hier an einem Tag, am Pfingstfreitag, ohne große Probe, punktgenau auf die Bühne zu setzen, in der Perfektion, ist eine ganz große Leistung. Keine Ahnung, wie er das macht. Dass ist eine Künstlerleistung, da denke ich an Wagner. Das ist in dieser Liga."

John Zorn ist eine Lichtgestalt der New Yorker Musikszene, und zwar seit Jahrzehnten. Aber was ist mit dem Nachwuchs in dieser Stadt, die für Reiner Michalke nach wie vor der Gradmesser für die neuesten Entwicklungen in der zeitgenössischen, improvisierten Musik ist? Dass man sich darum keine Sorgen machen muss, zeigte das Trio um den Schlagzeuger Dafnis Prieto, das mit seinen Anklängen an moderne Pop und Hip-Hop-Kultur zu den großen Entdeckungen des Festivals gehörte.

Jan Klare: "Ich bin auch schon früher hier gewesen, habe von dem Flair der Musik einiges mitbekommen, das ist, wenn man aus der Region kommt und sich für Musik interessiert, da fährt man hin, da manifestiert sich total viel, wovon man sonst nur träumt. Man kann Platten hören, im der Zeitung Rezensionen lesen oder Bilder im Netz sehen. Aber man braucht auch die konkrete Erfahrung, dass Leute das vor einem wirklich hinkriegen. Dass Leute das beklatschen, das ist ein elementarer Kick."

Für Jan Klare sind Auftritte in Moers wie ein Heimspiel. Der Musiker aus dem Ruhrgebiet ist in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge zum Festival eingeladen worden, das ist fast schon ein Ritterschlag. Die Erfahrung, von der er selbst als Musiker und als Zuhörer berichtet, ist die der geglückten Improvisation – dass man Teil hat an einem Prozess, der aus dem Nichts entsteht und auf einmal den ganzen Raum ergreift. Das Besondere an seinem Ensemble "The Dorf" ist nun, dass er diesen Prozess nicht mit einem kleinen eingeschworenen Team gestaltet, sondern mit einer 30 Kopf starken Großformation.

"The Dorf", eine improvisierende Großformation aus dem Ruhrgebiet, hatten in diesem Jahr beim Moers Festival nicht ihren stärksten Auftritt, aber immer noch war der Klangreichtum dieser Band beeindruckend.
Früher einmal hieß das Musikfest am Niederrhein New Jazz Festival. Dass es sich inzwischen nur noch Moers Festival nennt, ist Programm: Denn hier soll alles möglich sein, nicht nur Jazz, Improvisation oder Avantgarde. Auch in anderen Musikkulturen gibt es viel zu entdecken.

Lenine: "”Die populäre Musik und auch die Folklore in Brasilien hat viel Improvisation. Das ist für mich also nichts Ungewöhnliches. Ich schreibe zwar Songs, aber die müssen ja nicht immer gleich klingen. Ich bin wie ein Fotograf und es ist ja durchaus möglich, viele Fotos von einem Song aufzunehmen. Ob man das Jazz nennt oder Pop – für mich ist es einfach nur Musik.""

In Brasilien ist der Gitarrist und Sänger Lenine ein großer Star. In Moers wurde seine Musik in einen jazzig-kammermusikalischen Kontext gestellt. Der Brasilianer hatte sichtlich Freude daran, seine Musik in diesem ungewöhnlichen Kontext zu erleben.

Von Brasilien über New York, Frankreich und Norwegen bis ins Ruhrgebiet – das waren einige der wichtigsten Stationen des diesjährigen Moers Festivals. Aber auch die Geographien geben nur einen kleinen Hinweis darauf, wie die Musik klingt, wie sie klingen kann. Moers ist in diesem Sinne nicht ein konkreter, sondern ein utopischer Ort, an dem für vier Tage, jedes Jahr zu Pfingsten, Musik ermöglicht wird, die sonst wenig Beachtung findet. Unerhörte Klänge, fragil und manchmal nervenzehrend, wagemutig und tröstend und immer wieder ganz anders als das, was man sowieso nicht erwarten konnte.