Unerbittlicher Kreislauf des Falschen

Von Ulrike Gondorf |
Im Sommer hatte es geteilte Reaktionen gegeben auf die Horvath-Inszenierung von Johan Simons beim Festival in Avignon. Die traurige Jahrmarktsballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Verlobten Karoline, denen auf einem Bummel über das Münchner Oktoberfest ihr ganzes vermeintlich gut geordnetes Leben entgleitet, blieb vielen französischen Zuschauern fremd. Ganz anders bei der Premiere einer neuen deutschen Version der Simons-Inszenierung am Schauspiel Köln. Ein paar zaghafte Buhs gingen unter in stürmischer Begeisterung für den Regisseur und das ganze große Ensemble.
Und das zu Recht, denn Simons und seinen Schauspielern gelingt, was das Wichtigste – und das Schwerste ist bei Horvath. Sie treffen genau den Ton der seltsam verfremdeten Kunstsprache, aus der dieser große Theaterautor seine Figuren erschafft. Sie sind fremd in ihrer eigenen Sprache, ihr Bewusstsein holt niemals ein, was unbewusst aus ihnen spricht. Unter jedem Satz lauert ein Abgrund, in jeder verqueren Floskel, in jeder schief zitierten Redensart offenbart sich ihr Konflikt mit sich selbst. Wie ferngesteuert und gegen den Willen der beiden eskaliert der Konflikt zwischen Kasimir und Karoline. Er verliert sein Selbstwertgefühl, weil er "abgebaut" ist, und versinkt in Larmoyanz, sie spürt intuitiv, dass der ersehnte Weg nach oben nur durch die Betten erfolgreicher Männer führen kann. Wie unter Zwang verletzen und quälen sie sich, bis Karoline Grund hat zu gehen, und Kasimir recht bekommt mit seinem Verdacht, dass die Liebe am sozialen Status hängt.

Die Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre, die im Hintergrund von Horvaths Stück steht, betont Johan Simons kaum - die Parallelen sind ohnehin auffällig genug. Sein Augenmerk gilt den Menschen, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen, gegen ihre eigenen Interessen, Gefühle und Wünsche handeln, einem unerbittlichen Kreislauf des Falschen nicht entrinnen können. Vielleicht ist das tatsächlich so eng an die Sprache gebunden, dass es nur im Originaltext funktioniert, wenn er denn so sensibel ausgehört und vielschichtig durchleuchtet wird, wie Johan Simons und seine Darsteller das tun. Und zwar ausnahmslos, ob sie nun eine Hauptrolle oder wenige Sätze zu gestalten haben. Überragend ist Markus John als Kasimir: ein großer, massiger Kerl, der förmlich zu explodieren scheint am Ungesagten, dem Verstehen Entgleitenden, und bisweilen fassungslos mitanhört, was er gerade gesagt hat, während der Zuschauer genau sieht, was er eigentlich denkt und will.

In einigen Versatzstücken ist die Freilichtbühne von Bert Neumann mit ins Theater gewandert. Ein Baugerüst, auf dem in verschiedenen Ebenen gespielt werden kann, beherrscht von dem unerfüllbaren Motto ENJOY, das in riesigen, spiegelnden Buchstaben in der Mitte prangt. Ein karger Rahmen, der die Figuren ganz nach vorn transportiert. Die Kirmes mit ihren trivialen Vergnügungen, ihren nostalgischen Sehnsüchten aber auch ihren unvermittelten Ausbrüchen von Aggression und Gewalt wird in dieser Inszenierung auf der musikalischen Ebene erlebbar.

Simons' langjähriger künstlerischer Partner und Co-Regisseur Paul Koek hat für vier Live-Musiker eine Musik komponiert, die auch die filmische, sprunghafte Dramaturgie von Horvaths Stück unterstützt. Man folgt Kasimir und Karoline zu den verschiedenen Schauplätzen des Jahrmarkts, bis sie am Ende auf getrennten Wegen verschwinden. Aber nicht allein. Beide haben neue Partner gefunden, und in der Inszenierung von Johan Simons liegt nicht nur der schale Geschmack des schnellen Kompromisses in diesem Schluss, sondern sogar das schwache Aufleuchten einer neuen Chance. Frei nach Ödon von Horvaths Bekenntnis "Das Leben ist doch kitschig."