Unendlichkeit

Ein Schwingen des Pfeils im Blauen

Galaxie im Weltall
Der Weltraum - unendliche Weiten? Darüber sind sich selbst die Physiker uneins - und ändern alle paar Jahre ihre Meinung. © picture alliance/dpa/Zoonar/Irina Dmitrienko
Moderation: Sybille Hoffmann · 22.08.2020
Sind Raum und Zeit unendlich? Gibt es eine oder viele Unendlichkeiten? Wie kann man sie mit endlichen Mitteln greifbar machen? Und warum befassen sich Menschen überhaupt mit dem Unendlichen? Ein Trialog zwischen Mathematik, Physik und Philosophie.
"… die auf die Wand gekritzelten Symbole stellten einen der seltenen Fälle dar, in denen eine sinnvolle und fassbare Aussage über das Unendliche mit präzisen endlichen Mitteln erreicht wird", erinnert sich der Schriftsteller und Spanienkämpfer Arthur Koestler. Im Spanischen Bürgerkrieg war er von Francos Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt worden. Während er auf seine Hinrichtung wartete, versuchte er, an der Zellenwand Euklids Beweis für die Unendlichkeit der Primzahlen nachzuvollziehen:
Arthur Koestler, 1948 in Rom
Wurde zum Tode verurteilt und nahm sich später selbst das Leben: der Autor Arthur Koestler.© picture alliance/dpa/AP Images
"Das Unendliche ist wie eine mystische, in Nebel gehüllte Masse, und doch war es möglich, etwas darüber zu erfahren, ohne sich in verschwommenen Unklarheiten zu verlieren. Die Bedeutung dieser Erkenntnis schlug über mir zusammen wie eine Welle, und sie ließ einen wortlosen Niederschlag zurück, einen Hauch von Ewigkeit, ein Schwingen des Pfeils im Blauen."

Streben nach Unendlichkeit: ein fast religiöses Bedürfnis

Unendliches und Endlichkeit, beide sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, wie diese Anekdote zeigt. Und so schwingt auch dieses (2006 aufgezeichnete) Gespräch zwischen Mathematik, Physik und Philosophie zwischen beiden Polen hin und her – und führt immer wieder zurück zu der Frage, wie sich Unfassbares fassbar machen lässt.
Dass uns das Unendliche oft gerade in der Endlichkeit bewusst wird, das weiß Burkhard Kümmerer, Mathematik-Professor an der Universität Darmstadt, auch aus der persönlichen Erfahrung: "Unendlichkeit hat viel zu tun mit Einmaligkeit und das habe ich, wenn immer ich mich von guten Freunden oder einem schönen Tag verabschiedet habe, immer gemeint: So, das ist jetzt für immer vorbei."
Für den Philosophen Klaus-Jürgen Grün von der Universität Frankfurt ist unsere eigene Endlichkeit der Hauptantrieb dafür, dass Menschen sich seit jeher mit dem Unendlichen befassen: "Wir finden darin etwas, das wir selber nicht haben. Dieses Bedürfnis, etwas ganz Großes zu tun, die Beschäftigung mit dem ganz Weiten, das Überschreiten der Grenzen, die uns als Menschen gesetzt sind, das ist vielleicht auch ein Bedürfnis nach Religion."

Newton und der unendliche Raum

Ein Beispiel dafür, wie Religion unser Denken des Unendlichen – auch das wissenschaftliche – beeinflusst, bietet der Begründer der modernen Physik, Isaac Newton. Dessen These, dass der Weltraum unendlich sei, verdankte sich wesentlich seinem frommen Christentum und seiner Beschäftigung mit der Kabbala, wie der (inzwischen emeritierte) Physik-Didaktiker Fritz Siemsen von der Universität Frankfurt weiß: Weil der Raum uns – etwa über die Trägheit – beeinflusse, wir ihn aber nicht beeinflussen könnten, dachte Newton den Weltraum als "Sensorium Gottes". Und weil Gott unendlich sei, sollte auch der Raum unendlich sein.
Denkmal für Isaac Newton in Westminster Abbey.
Verdankte seine Idee der Unendlichkeit seinem Glauben: Sir Isaac Newton.© picture alliance/dpa/Heritage Images/Werner Forman Archive
Allerdings gab es schon unter Newtons Zeitgenossen und Nachfolgern heftigen Widerspruch, so Siemsen: Denn "wenn der Weltraum unendlich wäre, überall mit Sternen gefüllt, dann müsste man in jeder Richtung einen Stern sehen – das heißt, der Nachthimmel wäre so hell wie die Sonne …" Lösbar sei dieses Dilemma nur, indem man annimmt, dass die Sterne irgendwann einmal zu leuchten angefangen haben. Das sei typisch für die Physik: "Wenn unendlich rauskommt, ist meist irgendeine Kleinigkeit, wie die Brenndauer der Sterne, vergessen worden."

Die Griechen mieden die Unendlichkeit

Das Unendliche wurde im Laufe der Geschichte also immer wieder neu und anders zu denken versucht: Und die antiken griechischen Philosophen hätten sich, in ihrem Versuch, die Wirklichkeit geistig zu fassen, eher dagegen gewehrt, das Unendliche zu erschließen, betont Burkhard Kümmerer – eben weil es unfassbar sei.
Anaximander auf einem Mosaik
Am Anfang war der Grundstoff - dachte sich der griechische Philosoph Anaximander.© picture alliance/dpa/Prisma Archivo
Grün wiederum ergänzt, es habe zwar auch im antiken Denken ein "Unbegrenztes" gegeben, das aber nicht als leerer Raum gedacht worden sei, sondern – bei Anaximander – als eine Art allgemeiner "Grundstoff", der "keine Bestimmung" zeige und aus dem heraus sich alle bestimmten Wesenheiten und Substanzen erst entwickelten. Und für Aristoteles sei das Unendliche eine "Katastrophe" gewesen, führt Grün aus, denn "wenn wir alles auf ein anderes zurückführen, kommen wir in den unendlichen Regress."

Unendlicher Regress: Aristoteles und die Schildkröte

Ein Beispiel für solch einen "unendlichen Regress", das Kümmerer anführt, stammt von einem anderen Griechen, Xenon von Elea, und beweist, dass die antiken Philosophen auch ein Bewusstsein für die Fallstricke der "Unendlichkeit im Kleinen" hatten: Achilles und eine Schildkröte laufen um die Wette – da Achilles aber von seiner Überlegenheit überzeugt ist, gibt er der Schildkröte zehn Meter Vorsprung. In der Zeit, in der Achilles diese zehn Meter zurückgelegt hat, ist die Schildkröte aber nun selbst einen Meter weiter gekrochen. Und nachdem Aristoteles diesen Meter überwunden hat, ist die Schildkröte wiederum zehn Zentimeter weitergekommen, und so weiter – wann also holt Achilles die Schildkröte ein?
Achilles und die Schildkröte - veranschaulicht von der HAW Hamburg:
"Die immer kürzeren Zeiten summieren sich zu einer unendlichen Reihe, die einen endlichen Wert haben kann", erklärt Mathematiker Kümmerer. Mathematisch scheint die Lösung also "nie" zu sein, obwohl unsere Erfahrung uns das Gegenteil sagt. Erst mit der Einführung der Infinitesimalrechnung wurden solche Paradoxa auflösbar.

Gibt es unendlich viele Unendlichkeiten?

Für die Physik wiederum ist das Unendliche von jeher ein wichtiger Antrieb, sagt Fritz Siemsen: "Der Motor für die meisten Physik-Fragen ist schon immer die Unendlichkeit gewesen." Und auch die Mathematik sei, nachdem sie sich lange vor dem Unendlichen gedrückt habe, enorm dadurch beflügelt worden, als sie die Herausforderung des Unendlichen endlich annahm – inspiriert, wie Kümmerer im Gespräch ausführt, unter anderem durch die Einführung der Perspektive in der Kunst.
Seither haben sich etliche kluge Köpfe daran abgearbeitet, was Arthur Koestler schon beim Euklidischen Primzahlenbeweis begeisterte (in dem auch Kümmerer ein "Geschenk an die Menschheit" erkennt): mit endlichen Mitteln das Unendliche denken, das Unbegreifliche greifbar machen. Einer der Meilensteine dabei ist der Mathematiker Georg Cantor, der mit seiner Mengenlehre auch für die Physik wegweisend gewesen ist.
Zur "Mächtigkeit unendlicher Mengen" nach Cantor:
Ausgehend von dem Problem, wie sich unendlich große Mengen miteinander vergleichen lassen – etwa die (jeweils unendlich große) Anzahl der Punkte auf einer Gerade und der Punkte auf einer Ebene –, kommt Cantor zu dem Schluss, dass es "unendlich viele Unendlichkeiten" gibt. Zwischen manchen dieser Unendlichkeiten – etwa der Menge der natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4, 5 …) und der der Brüche könne man Äquivalenzen herstellen, sie seien "gleichmächtig".
Andere dieser Unendlichkeiten hingegen seien so verschieden, "dass es keine wie auch immer geartete Möglichkeit gibt, eine Entsprechung zwischen den Elementen der einen und der anderen Menge herzustellen, die so eineindeutig ist wie die zwischen uns und den Mikrofonen". Das gelte nach Cantor etwa für das Verhältnis zwischen natürlichen und reellen Zahlen – letztere umfassen neben den natürlichen und negativen auch die irrationalen Zahlen, etwa die Wurzel aus zwei, und bilden ein Kontinuum. Das heißt: Zwischen zwei beliebig nah aneinander liegenden Zahlen liegen unendlich viele weitere Zahlen.

Unendlichkeit in Grenzen

Allerdings seien solche "unendlichen Unendlichkeiten" ein Problem, das nur innerhalb der mathematischen Systematik auftrete, gibt Grün zu bedenken und unterscheidet mit Kant zwischen "Natur-" und "Denkgesetzen". Die Mathematik mache es richtig, wenn sie solche Probleme im "Denkraum" belasse – die Philosophie hingegen sei da oft unvorsichtiger gewesen: "Gefährlich wird es, wenn man von 'dem Unendlichen' spricht und durch diesen Artikel dann so ein Ding daraus macht, das wirklich irgendwo existiert, mit dem man Erfahrungen und über das man Aussagen machen könnte."
Demgegenüber hält Grün es mit Goethe, der schreibt: "Willst du das Unendliche durchschreiten, so gehe nur im Endlichen nach allen Seiten". Darin liest Grün eine "moralische Aufforderung, sich im Diesseits zu bewegen", im Endlichen, und dass "der Mensch sich vor der Beschäftigung mit dem Unendlichen besser hüten sollte" – auch, weil sonst das Bestimmte, Konkrete aus dem Blick zu geraten droht.

Leben wir in einer gewaltigen Explosion?

Für die heutigen Vorstellungen von Unendlichkeit sei insbesondere Albert Einsteins Relativitätstheorie wegweisend gewesen, die einen unendlichen Weltraums auch physikalisch nahelegt, wie Siemsen erklärt: Nachdem Einstein das Gewicht als Krümmung von Zeit und Raum beschrieben und "für den gesamten Kosmos angewendet" hatte, "kam eine Gleichung heraus, die ihn ziemlich geschockt hat, nämlich, dass sich der gesamte Weltraum entweder ausdehnen oder zusammenziehen müsste". Und Einsteins eigener Ungläubigkeit zum Trotz entdeckte man kurz darauf tatsächlich, "dass die Milchstraßen mit ungeheurer Geschwindigkeit voneinander wegfliegen, dass wir in einer gewaltigen Explosion leben – und in der Sicht von Einstein ist diese Explosion eine Explosion des Raumes selbst", so Siemsen.
Harald Lesch erklärt die Relativitätstheorie (Terra X):
Zum Zeitpunkt des Gesprächs erkennt Siemsen einen weitestgehenden Konsens unter Physikerinnen und Physikern, dass der Weltraum vermutlich unendlich sei. Allerdings könne sich das mit neuen Zahlen und Messergebnissen auch durchaus wieder ändern: "Die Mehrheit der Physiker glaubt, dass der Weltraum unendlich ist – aber das war vor fünf Jahren noch ganz anders und wer weiß, wie es in fünf Jahren ist…" (Aktuell mehren sich tatsächlich wieder Stimmen, die für ein endliches Universum plädieren.)

Der Urknall: Die ganze Welt in einem Punkt

Während also ein ‚Ende‘ des Raumes unwahrscheinlich ist, gab es vermutlich einen klaren, unhintergehbaren Anfang: Von dem gemessenen Auseinanderdriften der Milchstraßen lässt sich rückwärts rechnen und so landet man bei circa 13,7 Milliarden Jahren vor unserer Zeit, als alles begann – mit einer Art "Feuerball", wie Siemsen veranschaulicht: dem sogenannten "Urknall". Die Umstände dieses Urknalls seien allerdings nach wie vor höchst rätselhaft. Denn je dichter man an ihn (rechnerisch und gedanklich) herankomme, desto unsicherer würden viele unserer physikalischen Konzepte: Gelten unter den damals herrschenden Extrembedingungen bereits unsere heutigen Naturgesetze? Wie kann es Zeit geben, wenn es noch keine zerfallenden Atomkerne gibt?
Galaxienhaufen im Weltraum
Blick in die früheste Vergangenheit: Diese Galaxien sind 13 Milliarden Jahre alt - also fast so alt wie das Universum selbst.© picture-alliance/dpa/ESA
Der Urknall selber sei ein "absoluter Nullpunkt, im Prinzip unerreichbar, so Siemsen: "Die ganze Welt in einem Punkt, solche Singularitäten sind Physikern nicht geheuer, weil dann die Unendlichkeit wieder voll reinkommt" – Temperatur, Energiedichte etcetera müssten dann unendlich hoch sein und "davor haben die Physiker panische Angst".

Es wird immer einfacher

Dem Eindruck, mit fortschreitender Forschung am Unendlichen werde alles immer komplizierter, widersprechen Physiker und Mathematiker jedoch gleichermaßen – im Gegenteil, es werde "immer einfacher", betont Siemsen (auch wenn vieles nicht besonders anschaulich sei). Und Kümmerer führt als Beispiel noch einmal Cantors Mengenlehre und die Einführung der reellen Zahlen an:
"Die Beschreibung der Natur wird viel einfacher, wenn wir noch ganz viele Zahlen dazunehmen, die es in der Natur überhaupt nicht gibt. Nur dadurch, dass man ein Kontinuum an Zahlen hat, kann man sicher sein, dass Achilles die Schildkröte auch zu irgendeinem Zeitpunkt überholt. In dem Augenblick, wo man nur mit rationalen Zahlen umginge, kann es ganz leicht passieren, dass es diesen Zeitpunkt nicht gibt. Aber ich sehe ihn ja! Also will ich ihn auch haben. Also arbeite ich mit diesen über-abzählbar vielen reellen Zahlen."
Zwar sei Cantors Mengenlehre "eine der schönsten Sachen in der ganzen Geistesgeschichte", stimmt Siemsen zu, allerdings stelle die Quantentheorie einige ihrer Annahmen (aus physikalischer Sicht) durchaus in Frage. Und so bleibt am Ende dieses Gesprächs über Unendlichkeit zu vermuten, dass auch ihre Erforschung womöglich immer unabgeschlossen bleiben wird.

Produktion dieser Langen Nacht:
Moderation: Sybille Hoffmann; Studiogäste: Klaus-Jürgen Grün, Burkhard Kümmerer, Fritz Siemsen; Redaktion: Monika Künzel; Webdarstellung: Constantin Hühn.

Weiterführende Lektüre:

Lutz Priese: "Aspekte des Unendlichen. Eine kleine Erzählung für Nichtmathematiker"
Springer Verlag, Berlin 2019
93 Seiten, 39,99 Euro

Christoph Böttigheimer, René Dausner (Hrsg.): "Unendlichkeit. Transdisziplinäre Annäherungen"
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2018
380 Seiten, 48 Euro

Jim Holt: "Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens"
Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
496 Seiten, 26 Euro

Brian Greene: "Bis zum Ende der Zeit. Der Mensch, das Universum und unsere Suche nach dem Sinn des Lebens"
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Siedler Verlag, München 2020
445 Seiten, 28 Euro

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