Undenkbares wird zur legitimen Position

Nicht jede Debatte bringt uns voran

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Sind Debatten über den Familiennachzug wirklich notwendig? © imago/Ikon Images
Von Fabian Köhler · 04.12.2017
Lass uns drüber reden! Der Aufforderung kann man sich nur schwer entziehen. Denn der Idee nach ist ja alles verhandelbar - wirklich alles? Natürlich nicht. Der Publizist Fabian Köhler kritisiert die gegenwärtige Agenda.
Endlich diskutieren wir wieder. Über Flüchtlinge und die Grenzen unserer Belastbarkeit. Über Parteipolitik und den Wert intakter Familien. Ergebnisoffen und ganz ohne Scheuklappen. Auch wenn unklar ist, wie es nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen mit dem Familiennachzug weiter geht: Ist unsere öffentliche Debatte darüber nicht zumindest ein kleiner Erfolg? Nein, ist sie nicht.

Debatten verraten, wo eine Gesellschaft steht

Klar, diskutieren ist gut: miteinander reden anstatt statt aufeinander einschlagen. Aushandeln statt Aussitzen. Aber Debatten sind mehr als Gewaltalternative und Partizipationsgarant. Durch ihre bloße Existenz verraten sie, wo eine Gesellschaft steht. Und oft lässt gerade das Fehlen von Debatten positive Rückschlüsse auf die Werte einer Gesellschaft zu.

Ergebnisoffen über das Frauenwahlrecht diskutieren?

Es wäre kein Schritt hin zu mehr Pluralismus und Gleichberechtigung, wenn wir mal wieder "völlig ergebnisoffen" über das Frauenwahlrecht diskutieren würden. Es spricht für die Humanität unserer Gesellschaft, dass wir keine Debatten über die "humanste" Hinrichtungsmethode für Straftäter führen. Und es wäre kein Zeichen demokratischen Fortschritts, wenn wir mal wieder "ganz ohne Scheuklappen" über die Neuverhandlung der Oder-Neiße-Grenze debattieren würden.

Worum geht es, wenn wir über Familiennachzug diskutieren?

Ich finde, Deutschland war ein besseres Land, als es noch keine Debatten über den Familiennachzug gab. Das gesellschaftliche Klima war angenehmer, als es noch völlig selbstverständlich war, dass Familien zusammengehören. Auch die, die vor Krieg oder Armut fliehen mussten. Na klar, was denn sonst! Um die Werte unserer Gesellschaft war es besser bestellt, als wir beim Begriff "Familienzusammenführung" noch an "Bitte melde dich" mit Jörg Wontorra dachten und nicht an Überfremdung und Sondierungsrunden. Als wir bei der Vorstellung von Menschen, die sich nach langer Zeit wieder in die Arme schließen, noch Gänsehaut bekamen statt Wutpickel.
Worum geht es, wenn wir über den Familiennachzug diskutieren? "Um die hohen Zahlen und die Grenzen unserer Belastbarkeit!", sagen viele Kritiker. Wenn dem so wäre, dann müsste die Zahl der Gegner eigentlich kontinuierlich abnehmen. Horrorprognosen von bis zu 24 Millionen zusätzlicher Migranten, die deutsche Kommunen zum Kollaps bringen würden, bestimmten vor zwei Jahren noch die Debatte. Nichts davon hat sich bewahrheitet.
Aktuell geht eine Berechnung vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lediglich noch von 60.000 Menschen, die über die Familienzusammenführung für Flüchtlinge mit subsidiären Schutzstatus nach Deutschland kommen könnten. Doch obwohl die Zahlen dramatisch sanken, hat die Zahl der Gegner nicht abgenommen. Im Gegenteil: Zwischen November 2015 und August 2017 stieg der Anteil der Deutschen, die sich gegen den Familiennachzug aussprechen von rund 30 auf knapp 60 Prozent.

Herzenskälte und Ahnungslosigkeit

Warum ist das so? Sind wirklich so viele Menschen zu der Erkenntnis gekommen, dass die Belastungsgrenze der Bundesrepublik nun irgendwo zwischen zwei Helene Fischer-Konzerten und dem Passagieraufkommen des Berliner Nahverkehrs pro halbe Stunde liegt? Warum scheinen statt abwägender Betrachtungen von Integrationsaussichten und Berechnungen von Kommunalfinanzen vielerorts Faktenresistenz, Stereotype und Herzenskälte die stärkste Debattenwährungen zu sein?

Undenkbares wird zur legitimen Position

Eine Antwort ist: Es sind nicht nur Argumente, die zu Debatten konstituieren. Es sind die Debatten, die mit jedem Facebook-Kommentar, jeder Talkshow und Politiker-Pressekonferenz eben noch Undenkbares für viele Menschen zu legitimen Positionen erklären. Nicht nur wir führen die Debatte um den Familiennachzug. Die Debatte führt uns. Sie führt viele von uns weg von Werten, die wir eben noch als selbstverständlich erachteten.
Dass wir es stattdessen nun als selbstverständlich erachten, darüber zu diskutieren, Ehepartnern, Eltern und Kindern ein Leben miteinander zu verwehren, ist kein Zeichen demokratischer Kultur – es ist ein Zeichen von deren Niedergang. Deshalb sollten wir wirklich einmal eine Debatte führen. Nicht darüber, was mit Flüchtlingen passieren sollen. Sondern darüber, was eigentlich mit uns passiert ist.

Fabian Köhler hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als freier Journalist schreibt er für viele Magazine und Tageszeitungen über Flüchtlinge und Islam(ophobie) und reist durch den Nahen Osten.

© Camay Sungu
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