"Und jetzt wacht man auf"

Malte Jaspersen im Gespräch mit Britta Bürger · 18.03.2011
Schon 2005 sprach Malte Jaspersen mit einem japanischen Wissenschaftler, der eine Kombination von Nuklear- und Erdbebenkatastrophe vorhersagte. Vorwürfe müssten nun alle treffen: die Regierung, die Bürokratie, die Atomindustrie.
Britta Bürger: Das Erdbeben, der Tsunami und der AKW-Unfall in Japan wurden zunächst als eine höchst unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen beurteilt, doch der GAU im Atomkraftwerk Fukushima war keineswegs unvorhersehbar. Schon 1997 wurde in einem Regierungsgutachten ein solches Szenario entworfen und auf die Risiken hingewiesen. Der Journalist Malte Jaspersen, der gleich mein Gast ist, hat das vor sechs Jahren bereits in einem Deutschlandradio-Feature publik gemacht. Darin gab es unter anderem die folgende Aussage des Seismologen Ishibashi Katsuhiko. Der Professor an der Universität Kobe beschreibt das gefährliche Desaster mit einem bis dahin unbekannten Wort:

Ishibashi Katsuhiko: Genpatsu-shinsai ein neuer japanischer Begriff, den ich 1997 geprägt habe. Er bezeichnet eine Kombination aus Nuklear- und Erdbebenkatastrophe. Hierbei handelt es sich um eine völlig neue Form, eine Mischung aus Naturkatastrophe und von Menschenhand verursachter Katastrophe, etwas, was die Menschheit noch nie erlebt hat.

Wenn das Erdbeben darüber hinaus einen schweren Unfall im Atomkraftwerk auslöst und große Mengen Radioaktivität freigesetzt werden, müssen die Menschen fliehen. Das ist jedoch wegen der Zerstörungen durch Beben und Tsunamis unmöglich. Die Radioaktivität zwingt dazu, Hilfsarbeiten einzustellen. Menschen, denen bei einem normalen Erdbeben geholfen werden könnte, müssen ihrem Schicksal überlassen werden. So erhöht sich durch einen AKW-Unfall die Zahl der Toten wahrscheinlich um 50 bis 100.000.

Bürger: Dieses gefährliche Szenario hat der japanische Seismologe Ishibashi Katsuhiko im Deutschlandradio-Feature von Malte Jaspersen aufgezeigt, eine Sendung aus dem Jahr 2005, die nun, sechs Jahre später, real wird. Herr Jaspersen, für wie bedrohlich haben Sie diese Aussagen damals gehalten?

Malte Jaspersen: Ich habe diese Aussagen absolut ernst genommen. Das hat mich völlig überzeugt, das waren einfach Faktoren, die klar auf der Hand waren, für jeden einsichtbar, wenn man es sehen wollte, und es gab für mich überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln. Und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, auch in öffentlich zugänglichen Zeitungsartikeln, desto klarer wurde, dass da einiges im Argen liegt.

Bürger: Heißt das, dass die aktuelle Katastrophe Sie überhaupt nicht überrascht hat?

Jaspersen: So traurig das ist, das stimmt, das hat mich überhaupt nicht überrascht.

Bürger: Wie haben die Japaner denn mit so einer latenten Gefahr gelebt, wenn Sie sagen, sie haben das geglaubt?

Jaspersen: Ich glaube, der größte Teil hat es einfach nicht wahrnehmen wollen und es ignoriert. Also, Ishibashi erzählte mir auch nach dem Interview – ich fragte genau das Gleiche, wie ist das denn eigentlich, die Gefahr ist latent vorhanden –, und er sagte, dass die meisten das einfach nicht wissen wollen. Und wenn man sie fragt, wo ist denn hier der nächste Atomreaktor – es gibt ja über 50 im Land –, dann wissen die meisten das gar nicht. Und jetzt wacht man auf.

Bürger: Einige Ihrer damaligen Gesprächspartner haben weitere scharfe Vorwürfe erhoben, etwa, dass sich die Betreibergesellschaften der Kernkraftwerke auf veraltete Rechenmodelle und veraltete Sicherheitsvorschriften der Regierung berufen – werden denn solche Positionen auch in den japanischen Medien diskutiert?

Jaspersen: Jein. Das heißt, es gibt hin und wieder – ich spreche jetzt von der Zeit vor dieser Katastrophe – es gibt hin und wieder Diskussionen darüber, die sind aber sehr zurückhaltend-vorsichtig, und während der Katastrophe jetzt wird es ehrlich gesagt mehr oder weniger überhaupt nicht thematisiert, weil man der Regierung und der Bürokratie wie auch der Atomindustrie schwerste Vorwürfe machen müsste. Und das stellt man jetzt zurück, weil es in allererster Linie darum geht, den Menschen zu helfen und eben das Allerschlimmste zu verhindern.

Bürger: Aber anscheinend gibt es Leute, die sich mit diesen Vorwürfen befassen. Wen oder was kritisieren die Japaner ganz konkret? Die Informationspolitik der Regierung, die AKW-Betreiber oder mögliche Verflechtungen von Politik und AKW-Industrie?

Jaspersen: Ich glaube, der erste Kritikpunkt oder der stärkste ist die Verflechtung zwischen Bürokratie und Atomindustrie. Sie müssen sich das so vorstellen: Es gibt halt die Politik, es gibt die Bürokratie und die Industrie. Die Politik, nun ja, unsere Premierminister wechseln – jetzt sag ich auch schon unsere – wechseln ständig, mit anderen Worten, da ist nicht viel von zu erwarten, weil im Prinzip die Politiker von der ihnen zuarbeitenden Bürokratie abhängig sind.

In der Bürokratie ist das nun wieder so, dass da das Rotationsprinzip herrscht, das heißt, dass also Bürokraten alle drei Jahre, als eine Größenordnung, ihre Position wechseln. Und selbst wenn es da kritische Stimmen gibt gegen die Atomindustrie, dann sagt sich ein Bürokrat natürlich, warum soll ich mich aus dem Fenster hängen, wenn ich in zwei Jahren eh woanders bin und damit nichts mehr zu tun habe. Da gibt es also eine, vorsichtig gesagt, große Zurückhaltung gegenüber einer Kritik.

Das Dritte ist die Atomindustrie, die natürlich im Prinzip gestützt und geschützt wird von der Bürokratie, weil beschlossen wurde, das Land nach dem Krieg mit Atomenergie wirtschaftlich zu versorgen, also man betrachtete die Atomenergie als die Hauptenergiequelle für das Land. Und es gibt in Japan den Begriff Amakudari, das bedeutet vom Himmel herabsteigen, und das heißt, dass Elitebürokraten nach ihrer Pensionierung mit Top-Posten in den Unternehmen, mit denen Sie – ich drück es mal so aus – zusammengearbeitet haben, versorgt werden. Und auch da arbeitet man eher Hand in Hand, als dass man von einer unabhängigen, ja, Instanz sprechen könnte.

Bürger: Gibt es denn überhaupt keine unabhängigen Kontrollinstanzen?

Jaspersen: Hm, schwierige Frage! Also es gibt innerhalb der japanischen Regierung natürlich die NSC, das ist die nukleare Sicherheitskommission. Die setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern der verschiedenen Universitäten – der Tokio-Universität, der Kyoto-Universität etc. –, aber wenn man in die Lebensläufe dieser Kommissionsmitglieder guckt, dann sieht man, dass also einer früher bei Hitachi Chefingenieur war, das ist ein Atomenergiehersteller, ein anderer ist Mitglied der Gesellschaft für Atomenergie, die sich zum Ziel gesetzt hat, die friedliche Nutzung der Atomenergie zu fördern. Mit anderen Worten, die sitzen alle irgendwo im gleichen Boot. Und in Japan herrscht eben auch im Zusammenhang mit einer großen Technikgläubigkeit oder auch einer gewissen Hybris bei den Ingenieuren. Bisher herrschte immer der Gedanke vor, da kann schon nichts passieren.

Bürger: Der Journalist Malte Jaspersen lebt im japanischen Kyoto und ist kurz vor dem Erdbeben für eine Radioproduktion nach Deutschland gekommen. Schon vor sechs Jahren hat er in einem Deutschlandradio-Feature auf den Zusammenhang von Erdbeben und der Gefahr für die Kernkraftwerke hingewiesen. Man fragt sich natürlich, warum die Japaner nicht längst auf alternative Energiequellen gesetzt haben – Sie haben das eben schon angedeutet, und man hört das in diesen Tagen ja auch immer wieder, alle setzen auf die Atomenergie und das auch noch weiter. Warum gibt es nicht so eine Art Anti-AKW-Bewegung wie in Deutschland zum Beispiel? Oder gibt es die, wir hören nur nichts davon?

Jaspersen: Sagen wir mal so, es gibt eine und man hört wenig davon, weil sie zahlenmäßig sehr gering ist. Ich hab im Zusammenhang mit meinem Feature auch über so eine Anti-AKW-Bewegung berichtet und auch mit den Leuten gesprochen. Es ging gar nicht um Fukushima, den Reaktor, der jetzt das Problem darstellt, sondern um Hamaoka. Das ist ein AKW, das in meinem Feature die Hauptrolle spielt, weil es eigentlich noch gefährdeter ist als Fukushima. Und das ist eine relativ kleine Bürgerinitiative, die jetzt vor ein oder zwei Tagen beim Gouverneur der Provinz Shizuoka auch eine Petition eingereicht haben, die Atommeiler da stillzustehen.

Warum macht man das? Dieser Atommeiler steht auf der Stelle, wo sich die philippinische Platte unter die eurasische schiebt, und das AKW steht wirklich objektiv genau auf dieser Stelle. Es gibt diese Bewegung, aber sie wird in den Medien nicht so unterstützt wie man das aus Deutschland kennen würde oder vermuten würde.

Bürger: Sie sind mit einer Japanerin verheiratet, leben seit über 20 Jahren in Kyoto, unterrichten dort Deutsch an der Universität, Sie haben Freunde, Sie haben Kollegen – was bekommen Sie jetzt im Moment ganz konkret mit? Bleiben die Menschen weiter so ruhig oder entsteht doch zunehmend Wut, Panik?

Jaspersen: Es ist ganz unterschiedlich. Also ,an redet ja hier so gern von gefassten Japanern, die alle Schicksalsschläge der Welt wirklich mit gesenktem Kopf und mit Demut hinnehmen, ich halte das also für, ich will nicht sagen Quatsch, aber die Situation sieht etwas anders aus. Die Leute sind genauso ängstlich, sie sind genauso nervös, die haben genauso eine Wut, nur sie zeigen es nicht, das ist der Unterschied. Und ich hab jetzt gerade gestern und heute zwei Mails bekommen von zwei Freunden, und man ist extrem deprimiert. Und Frage nach Wut: Natürlich gibt es Wut, aber wie ich vorhin schon sagte, jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um diese Wut zu äußern. Das können wir schwer verstehen, ich kann es auch schwer verstehen, aber es ist so.

Bürger: Was machen die Menschen ganz konkret? Geht der Alltag weiter, gehen sie zur Arbeit und sitzen vorm Fernseher, vorm Radio, lesen Zeitung, oder ist das ein Rückzug in die eigenen vier Wände, man sucht Schutz und Sicherheit und geht eigentlich eher nicht mehr seinem normalen Alltag nach?

Jaspersen: Das kommt darauf an, wo man in Japan lebt und wo man ist. Ich weiß es noch, nach dem Kobe-Erdbeben damals, das war das erste, was ich bewusst miterlebt habe, da war es so, dass in der Stadt Osaka, die 30, 40 Kilometer entfernt war, das blühende Leben absolut weiterging. Sie sind in Cafés gegangen und es waren fröhliche Gespräche über den nächsten Urlaub, während 6000 Menschen nebenan gerade zugrunde gingen.

Heute ist das ein bisschen anders. Das heißt, ich glaube schon, dass das wirklich bei vielen Menschen einfach die Gewalt und Größe der Katastrophe eine unheimliche psychische Wirkung ausübt, nur was macht man damit? Also. in Kyoto zum Beispiel, Osaka, da – soweit ich es weiß von meiner Frau – ist das Leben eigentlich mehr oder weniger business as usual, weil man ja auch gar nichts anderes machen kann. Man sieht zu, dass man halt ein bisschen Trinkwasser zu Hause hat als Reserve, dass man auch Nahrungsmittelreserven hat – das haben wir sowieso immer zu Hause, also wir haben auch Notfallgepäck bereitliegen zum Beispiel –, aber nach außen hin sieht alles eigentlich relativ normal aus. Was sich in den Menschen abspielt, ist eine andere Sache.

Bürger: Würden Sie sagen, dieses Erdbeben hat Ihr Leben in Japan verändert?

Jaspersen: Das kann ich noch nicht sagen, das tut mir leid. Das werde ich sehen, wenn ich nächste Woche zurückfliege.

Bürger: Das werden Sie tun?

Jaspersen: Das möchte ich, wenn nicht alle Stricke reißen.

Bürger: Danke für Ihren Besuch bei uns im Studio, Malte Jaspersen.

Jaspersen: Vielen Dank!
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