Und dazwischen die Neiße

    Von Patrick Wellinski · 09.05.2013
    Die Oder-Neiße-Grenze teilte das Leben in vielen Städten. Auch im deutschen Guben und im polnischen Gubin. Nach der EU-Osterweiterung näherten sich beide Seiten schnell an. Doch die anfängliche Euphorie der Kooperation ist zumindest bei einigen gewichen.
    Die Stadtbrücke im Zentrum. Über 40 Jahre konnte man wegen der Grenze nicht einfach nur drüber laufen. Jetzt ist es vom deutschen Guben ins polnische Gubin nur ein einfacher Fußmarsch ohne Hindernisse.

    "Immer war ich derjenige oder noch ein zwei Leute, die sich hinsetzten und sagten, na ja was können wir jetzt machen, wie bringen wir jetzt was in Bewegung. Da fehlt mir irgendwie so ein bisschen das Überspringen des Funkens auf ein breites Publikum."

    Klaus Pocher, Dreitagebart, dunkle Brille, wirkt müde. Den verblichenen Regenschirm in der Hand, schlurft er über die Brücke. Er geht vorbei am Akkordeonspieler, der mit verschlossenen Augen sein Instrument bearbeitet. Guben ist Pochers Geburtsstadt. Nach dem Beitritt Polens zum Schengenraum vor knapp sechs Jahren wollte der studierte Kulturwissenschaftler hier viel aufbauen. 2009 klang das bei ihm noch so:

    "Ich denke, man kann das ganz gezielt nutzen, weil es eben viele Vorteile hat und Austausch ermöglicht und das kann man hier vor Ort üben und man kann hier sozusagen Pionierarbeit leisten, die ja für die Zusammenarbeit beider Länder irgendwie wichtig ist."

    Der einstige Pionier zeigt sich heute resigniert. Sein Verein "Gubien", der symbolisch die Einheit der beiden Städte verkörpern sollte, ist kaum noch aktiv. Für Pocher ist der Alltag zwischen vielen Bürgern von Guben und Gubin ein trübes Nebeneinanderher.

    "Vielleicht ist für viele das Einkaufen auch schon der Kulturersatz. Oder die soziale Begegnung, denn wo begegnet man sich sonst sozial, hier in so einer Stadt, wenn nicht beim Einkaufen. Es klingt lächerlich und traurig aber - und Gott sei Dank - kann man zur Zeit auch in Polen, zumindest kann man das am Sonntag, nette Leute treffen, im Kaufland."

    Aber wo bei Klaus Pocher bitterer Sarkasmus aufblitzt, herrscht auf polnischer Seite beim Gubiner Bürgermeister reinster Sonnenschein:

    "Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich drüben einkaufen wollte. Das einzige auf Polnisch übersetzte Zeichen war ein ‚Klauen Verboten‘-Schild am Ladeneingang. Manchmal war da noch ein uniformierter Herr an der Kasse, der einen durchsuchte. Das ist jetzt anders. Jetzt können viele Verkäufer in Guben ein wenig Polnisch. Sie fragen, welche Schuhgröße man hat. Sie wissen um die potenzielle Kaufkraft aus Gubin."



    Bartlomiej Bartczak sitzt in seinem Amtszimmer, das Fenster zur Neiße. Mit 28 wurde er zum Bürgermeister gewählt, davor hat er in Frankfurt (Oder) deutsches und polnisches Recht studiert. Er spricht fließend deutsch. Das ist medienwirksam und gehört zum Service. Wer ein Interview auf Polnisch wünscht, blickt für einen Augenblick in ein irritiertes Gesicht. Aber der sympathische Herr Bartczak ist Profi genug, um umzuschalten. Alles kein Problem. Hauptsache, die Botschaft kommt rüber:

    "Gubin hat es geschafft in den letzten fünf bis sechs Jahren 30 Millionen Zloty an Investitionen zu bekommen. 15 Millionen davon, also die Hälfte, umgerechnet über drei Millionen Euro, nur durch die Kooperation mit Guben. Das ist viel."

    Die Museumsinsel wurde restauriert, Sportplätze für die benachbarten Schulen gebaut, ein Wanderweg ist entstanden – zu jedem Projekt hat der 35-Jährige eine Zahl parat, weiß auswendig, wie viel Fördergeld in welches Projekt geflossen ist und woher es stammt. Die Zusammenarbeit zwischen Guben und Gubin - sie entwickelt sich für Bürgermeister Bartczak prächtig. Das wichtigste gemeinsame Projekt ist der Wiederaufbau der Stadtkirche: eine rote Backsteinruine, ein Bauzaun drum herum, kein Dach, nur ein blaues breitmaschiges Netz gegen Tauben.

    Klaus Pocher, der gescheiterte Aufbauhelfer der deutsch-polnischen Kultur in Guben und Gubin, ist in der Zwischenzeit an der Ruine angekommen, neben einem Gedenkstein kurz vor der Kirche bleibt er stehen.

    "Eine Ruine der Stadt, im Rahmen der ganzen Wettbewerbe und Projekte, wo man nicht wusste, was das hier werden sollte …"

    Das Tempo und der medial perfekt einstudierte Optimismus des Gubiner Bürgermeisters Bartczak können Klaus Pocher schon lange nicht mehr anstecken. Auch nicht die Idee, dass aus der Stadtkirche ein deutsch-polnisches Begegnungszentrum werden soll. Und auch, was jetzt schon gemacht wird, gefällt dem Mann Anfang 40 nicht – die immer gleichen Ausstellungen und Märkte, organisiert von den immer gleichen Leuten, für passive Bürger. Frustrierend ist das, findet Pocher.

    "Hier werden Veranstaltungen organisiert, die allerdings nach meinem Befinden immer wieder ähnlich sind und immer mal wieder bei Punkt Null ansetzten. Zum Beispiel auf dem Weihnachtsmarkt … Für mich ist das ein alter Schuh ... Die Grenze ist seit 20 Jahren offen, da müssen wir nicht ständig wieder bei Punkt Null anfangen."

    Eine, die das nicht im Geringsten stört, ist die energische Anna Dziadek. Als Projektmanagerin ist sie für den Wiederaufbau der Stadtkirche zuständig.

    "Wollen wir hier sprechen, oder in die Kirche?"

    Sie ist jung, kennt die unüberwindbare Grenze fast nur noch aus Geschichtsbüchern. Und: Sie hat viel zu sagen. Deutsch oder Polnisch? Oder doch Englisch? Daten, Fakten, Zahlen, alles was man wissen muss, gibt sie zum Besten und rüttelt am eisernen Vorhängeschloss, bis sich die Tür zur Kirche öffnet.

    Dziadek zeigt die neue Wendeltreppe des Turms, die bald begehbar sein soll, geht dann zu einer zersprengten Grabplatte, vorbei an kleinen Hütten, vom letzten Weihnachtsmarkt. Ob sie zweifelt oder resignieren könnte? Schwer vorstellbar, bei einer Frau, die bereits so selbstverständlich hinter der Idee einer gemeinsamen Zukunft der Stadt steht, dass deutsche Worte fast natürlich die der Muttersprache ersetzen.

    "Wie sagt man nochmal ‚Musterbeispiel‘ auf Polnisch?"