"Und dann kommt da ziemlich viel Murks rein"

Jürgen Lüdeke im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 09.12.2009
Seit Wochen tobt ein Streit über die richtige Löschpraxis bei der freien Enzyklopädie Wikipedia. Da gebe es "wirklich totalen Unsinn" bei den Einträgen, rechtfertigt Jürgen Lüdeke, einer von rund 300 Administratoren des populären Lexikons, die Strategie.
Matthias Hanselmann: Es gibt keinen Tag ohne Wikipedia - so das Motto der freien Enzyklopädie, die von Millionen Menschen in aller Welt benutzt wird, um Wissen zu erwerben oder Wissen weiterzugeben. Seit Mai 2001 sind allein in Deutschland fast eine Million Artikel entstanden, die von Wikipedia-Benutzern geschrieben wurden. Andere User haben diese Artikel gelesen und korrigiert oder auch diskutiert und kritisiert, manche bis zum Löschantrag.

Wie schafft es ein Artikel letztlich in die größte Online-Enzyklopädie, wer beurteilt, ob es sich um einen qualifizierten Beitrag handelt oder im schlimmsten Fall um Schrott, der eben gelöscht werden muss? Ich habe mich vor der Sendung mit einem Mann unterhalten, der einer von circa 300 sogenannten Administratoren bei Wikipedia Deutschland ist und damit Löschrecht besitzt. Sein Name ist Jürgen Lüdeke, und da ist bei Wikipedia keine Redaktion gibt, auch keinen Personalchef, der Leute einstellt, hat mich zunächst interessiert, wie man überhaupt Administrator wird.

Jürgen Lüdeke: Um Administrator zu werden, müssen Sie sich einer Wahl stellen. Die Community wählt die Administratoren aus ihren eigenen Reihen. Und zwar gibt es ein paar Voraussetzungen, die Sie mitbringen sollten: Sie sollten so ungefähr neun Monate aktiv bei der Wikipedia dabei sein, sich an Diskussionen beteiligen, eigene Artikel geschrieben haben, und es gibt dann noch, so ungefähr 10.000 Edits müssen Sie geleistet haben.

Hanselmann: Was ist das, was ist das genauer, was sind diese Edits?

Lüdeke: Also jeder Beitrag ist ein Edit, also jede Veränderung an einem Artikel oder jede Beteiligung an einer Diskussion wird ja gespeichert bei Wikipedia, und jede dieser Aktionen nennt man Edit.

Hanselmann: Das heißt, wenn Sie eine kleine Korrektur vorgenommen haben an einem Artikel, dann ist das ein solcher Edit?

Lüdeke: Genau, also die Korrektur eines Rechtschreibfehlers ist schon ein Edit.

Hanselmann: Und dann bewerben Sie sich, wie funktioniert das?

Lüdeke: Ja, also man kann sich entweder selbst bewerben, also so eine kleine Bewerbung quasi schreiben, oder schöner ist es an und für sich, jemand anderes, ein Dritter schreibt eine Laudatio und stellt eben den Kandidaten vor.

Daran angeschlossen ist dann eine 14-tägige Diskussion, in der eben abgestimmt wird durch die Community, ob sie denjenigen als Administrator haben möchte oder lieber nicht.

Hanselmann: Jetzt sind Sie in der Rolle des Administrators, und es kommen täglich wie viele Artikel bei Wikipedia in Deutschland an?

Lüdeke: 1000 etwa.

Hanselmann: 1000 etwa, und es gibt rund 300 Administratoren, wir haben das vorhin schon gesagt. Wie sieht Ihr Beruf ganz konkret aus oder Ihr Job, mit was werden Sie da so konfrontiert?

Lüdeke: Begonnen wird immer damit, dass ich meine Beobachtungsliste durchgehe, also ich kann Artikel oder Diskussionen beobachten und schaue dann eben, was ist auf für mich wichtigen Seiten passiert in der Zeit, wo ich nicht online war.

Hanselmann: Haben Sie da vielleicht ein gutes Beispiel aus jüngster Zeit, was kommt da so an? Mich interessieren natürlich ganz besonders die Artikel, von denen Sie dann sagen – und Sie haben das Recht dazu –, von denen Sie dann sagen, den lösche ich, den haue ich jetzt ganz schnell weg. Was kommt da so?

Lüdeke: Oh, da kommt ganz viel. Sie können die Uhr danach stellen, pünktlich um acht Uhr morgens geht es los, dann sind die Schüler aktiv. Jede Schule hat heute anscheinend WLAN, und dann kommt da ziemlich viel Murks rein.

Hanselmann: Zum Beispiel?

Lüdeke: Oh, das reicht von "Mein Nachbar stinkt", "Wikipedia ist doof", "Deine Mutter" ist ganz beliebt – also das ist wirklich totaler Unsinn.

Hanselmann: Gut, lassen Sie uns vielleicht reden über die etwas ernsteren Inhalte. Es gibt wissenschaftliche Artikel, es gibt Artikel aus allen Bereichen des Lebens und auch der Kultur zum Beispiel. Welche Kriterien haben Sie, nach welchen Kriterien sagen Sie, der soll bestehen und der soll eventuell gelöscht werden oder muss umgearbeitet werden?

Lüdeke: Gut, es gibt ja sogenannte Relevanzkriterien bei der Wikipedia, weil Wikipedia einfach eine Enzyklopädie werden soll und nicht beispielsweise eine Sammlung von Daten oder ein Forum. Das heißt, es werden einfach wichtige Sachen behalten, und da ist es natürlich, diese Relevanzkriterien sind auch immer im Fluss, also die sind nicht in Stein gemeißelt und unveränderbar, sondern die Gemeinschaft diskutiert natürlich auch darüber, was ist denn relevant, weil sich diese Relevanz ja auch ändert im Laufe der Zeit. Dann, was eben auch noch sehr wichtig ist, ist, dass der Artikel auch gesichertes Wissen darstellt, also Theoriefindung hat eben keinen Platz in der Wikipedia.

Hanselmann: Aber es gibt ja nun diverse Gebiete, von denen Sie persönlich wahrscheinlich keine Ahnung haben, trotzdem kommen die Artikel zu Ihnen und Sie sollen beurteilen, bewerten, ob sie bei Wikipedia bleiben oder nicht. Wie geht das vor sich, wie wird so ein Artikel dann letztlich zu einem wirklichen Qualitätsprodukt?

Lüdeke: Ja, das Tolle ist ja, dass wir sehr, sehr viele Autoren haben und dass darunter eigentlich auch immer einer oder zwei sind, die Wissen über dieses Gebiet besitzen. Also meins ist die Chemie, ich bin Diplom-Chemiker von Hause aus und kenne mich da eben so ein bisschen aus und habe aber beispielsweise mit Geisteswissenschaften oder von Eisenbahnen keine Ahnung und überlasse das dann einfach einem Kollegen.

Hanselmann: Was ist in dieser Hinsicht die zurzeit härteste Diskussion innerhalb von Wikipedia, über das Vorgehen mit den Artikeln, über die Sicherung der Qualität der Enzyklopädie?

Lüdeke: Die härteste Diskussion ist sicherlich die, warum überhaupt irgendwas gelöscht wird, warum nicht einfach alles behalten wird, was irgendjemand als neutralen Artikel einstellt. Prinzipiell theoretisch wäre es möglich, dass jeder Artikel erhalten bleibt, das Problem ist, dass diese Artikel ja verwaltet werden müssen, und dazu fehlt einfach die Manpower.

Also wir sind jetzt bei knapp einer Million Artikel, die eine Million wird vielleicht dieses Jahr noch überschritten, und wir sind etwa 4000 aktive Autoren, die diese eine Million verwalten müssen. Also gerade bei Personenartikeln beispielsweise, es muss ja auch kontrolliert werden, ist jemand gestorben, dann muss dieses Sterbedatum eingetragen werden. Und diese Arbeit, die könnte nicht geleistet werden, wenn nicht gelöscht wird.

Hanselmann: Jürgen Lüdeke, bei Wikipedia wird ja nicht immer so ganz sanft miteinander umgegangen, was die User betrifft, sondern da wird zum Teil richtig mit harten Bandagen gekämpft. Der eine möchte, dass der Artikel in dieser Form erhalten bleibt, der andere sagt, das ist völliger Unsinn, der muss raus. Wie läuft das ab, wie geht Wikipedia damit um?

Lüdeke: Ja, man bezeichnet es nicht umsonst als Löschhölle. Dort, wo diskutiert wird, dort wird tatsächlich mit harten Bandagen gekämpft. Vorgehensweise ganz einfach: Jeder Artikel, der neu reinkommt, wird sicher von irgendjemand gelesen.

Wenn er findet, der Artikel sei ungenügend belegt, entspräche nicht den Relevanzkriterien oder sei aus sonst irgendwelchen Gründen zu löschen, stellt er einen Löschantrag, muss diesen begründen, und diesem Löschantrag folgt eine siebentägige Diskussion, an der sich jeder beteiligen kann. Und am Ende der sieben Tage kommt nun die Aufgabe des Administrators: Er entscheidet, wird der Artikel gelöscht oder wird er behalten. Häufig ist es so, dass nach diesen sieben Tagen der Artikel so weit verbessert ist, dass er einfach behalten werden kann.

Hanselmann: Wer beurteilt das?

Lüdeke: Der Administrator.

Hanselmann: Also Sie sitzen am Drücker?

Lüdeke: Genau.

Hanselmann: Sie haben also die Macht, am Schluss über Sein oder Nichtsein eines Artikels zu bestimmen?

Lüdeke: Also, Sie können nicht einfach irgendetwas löschen, weil es Ihnen nicht gefällt. Es gibt 300 Administratoren, die sich alle gegenseitig kontrollieren. Sie müssen dann natürlich auch begründen, warum haben Sie gelöscht, oder Sie müssen auch begründen, warum haben Sie etwas behalten.

Hanselmann: Gibt es auch den Fall, dass Administratoren wegen permanenter Fehlentscheidungen wieder rausgeschmissen werden vom Rest?

Lüdeke: Ja, die gibt es auch.

Hanselmann: Gibt es auch?

Lüdeke: Ja.

Hanselmann: Ist all das für Sie persönlich eine möglichst demokratische Umgehensweise mit dem Wissen, was wir haben und was wir verbreiten sollten?

Lüdeke: Ich finde ja, weil ja jeder die Möglichkeit hat, a) den Artikel zu verbessern, wo die Gefahr besteht, dass er gelöscht wird, oder dass er eben einen guten Grund findet, warum der Artikel behalten werden sollte.

Hanselmann: Es gibt diese schönen Fremdwörter, glaube ich, in Ihrer Branche, die Exklusionisten und die Inklusionisten. Sie sind also, entnehme ich dem, ein Exklusionist?

Lüdeke: Nein, ich bin da gemischt. Also ich hätte auch gerne manche Sachen lieber noch in der Wikipedia drin, die nicht drin sind. Also mich hat das immer sehr gestört, dass die Episodenlisten von Fernsehserien keinen Platz in der Wikipedia finden, habe mich aber mittlerweile damit zufriedengegeben, dass es ja auch noch andere Internetseiten sind, wo dann die Episoden wunderbar beschrieben sind.

Hanselmann: Was glauben Sie, wird der Trend der Zukunft sein bei einer Enzyklopädie wie Wikipedia, wo geht’s lang, wo geht’s hin?

Lüdeke: Ich denke, es geht dahin, dass verstärkt Quellen eingefordert werden. Also, es sind noch sehr viele Artikel ohne Sekundärliteratur, und ich denke mal, es wird tatsächlich dahin gehen, dass nur noch mit Literatur belegte Artikel in der Wikipedia Bestand haben werden.

Hanselmann: Wäre es nicht doch sinnvoll, ein großes Team von wirklich qualifizierten Redakteuren einzusetzen bei Wikipedia, die in den einzelnen Fachrichtungen dann auch wirklich das Know-how haben?

Lüdeke: Die dann wer bezahlt?

Hanselmann: Weiß ich nicht, vielleicht die User, die eine kleine Gebühr bezahlen. Ich weiß es nicht.

Lüdeke: Nein, ich glaube nicht, weil das würde ja das sehr Spannende an der Wikipedia, nämlich das gemeinschaftliche Arbeiten verhindern. Also denkbar ist bestimmt, dass vielleicht externe Autoren dann im Rahmen der geprüften Versionen irgendwie eingebunden werden. Ob das aber tatsächlich dann der Fall ist …

Hanselmann: Was Sie auf der sicheren Seite sein lässt als Wikipedia-Mitarbeiter, das sind ja die Besserwisser. Es gibt zu jedem Thema immer einen, der es besser weiß, der diesen Artikel vielleicht liest und dann protestiert, den und den Lebensweg ist diese Person gar nicht gegangen, die und die Entwicklung hat es in diesem wissenschaftlichen Bereich gar nicht gegeben, und das sichert ja letztlich auch die Qualität von Wikipedia. Wie viel Stunden am Tag verwenden Sie als Administrator?

Lüdeke: Ja, so ungefähr zwei Stunden bin ich schon bei Wikipedia aktiv jeden Tag.

Hanselmann: Und das nach wie vor, ohne etwas daran zu verdienen?

Lüdeke: Ja.

Hanselmann: Mit der Freude, dass Sie etwas beeinflussen können?

Lüdeke: Ja, es macht wirklich Spaß.

Hanselmann: Vielen Dank, Jürgen Lüdeke, Administrator bei Wikipedia. Dankeschön!

Lüdeke: Gerne, danke!