Unbildung erwünscht

Von Andreas Boueke · 08.09.2010
Guatemala hat eine der höchsten Analphabetenraten in Lateinamerika. Dieser Zustand war jahrzehntelang von Militärdiktatoren und Oligarchen politisch gewollt. Auch heute profitieren noch einige Wenige von den ungebildeten Bevölkerungsschichten.
Regenzeit in Guatemala-Stadt. In der Hauptstadt gibt es viele Schluchten, die aussehen wie Risse in der Landschaft. Die Straßen enden oft plötzlich, weil ein steiler Abhang beginnt, auf den nicht selten Hunderte Familien einfache Hütten aus Holz und Wellblech gebaut haben. Diese Menschen leben gefährlich. Von Mai bis November weicht der Regen die Erde auf, sodass immer wieder Schlammlawinen entstehen, die ganze Siedlungen unter sich begraben.

In einer solchen Siedlung wohnt die 27-jährige Paulina. Der blanke Erdboden ihrer Hütte ist feucht und schlammig. Ihre kleine Tochter Sandra macht erste Gehversuche. Sie rutscht aus. Paulina setzt das Mädchen auf ihren Schoß und streicht ihr fürsorglich die Tränen aus dem Gesicht. Für die Hütte zahlt sie 200 Quetzales Miete, etwa 20 Euro. Das ist billig, auch in Guatemala.

"Dem Vermieter habe ich schon oft gesagt, dass Wasser in die Hütte kommt. Ich glaube auch, dass von den Hütten oben Abwasser herunter fließt. Zudem werfen die Leute Tüten voller Müll auf unser Dach. Das alles müssen wir aushalten."

Paulina ist Analphabetin. Sie kann nicht einmal eine Zahl entziffern. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gab es zwar eine Schule, sie ist auch hingegangen ... hat es aber nicht lange ausgehalten.

"Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht mehr, wieviele Monate ich zur Schule gegangen bin. Aber ich weiß noch gut, dass ich nicht mehr hingehen wollte, als ich noch sehr klein war. Deshalb kann ich jetzt nicht lesen und auch nicht schreiben. Ich kann nur meinen Namen schreiben, sonst nichts. "

Der UNESCO zufolge können weltweit 776 Millionen Erwachsene weder lesen noch schreiben. In Guatemala schließt nur rund die Hälfte der Kinder das sechste Schuljahr und damit die Grundschule ab. Auf dem Papier hat sich die Regierung verpflichtet, bis 2015 die UN-Milleniumsziele umzusetzen. Dann müssten alle Kinder zumindest einen Grundschulabschluss erreichen. In der Praxis aber wird das nicht gelingen. Das Kinderhilfswerk UNICEF steht seit Langem im Dialog mit dem guatemaltekischen Bildungsministerium und unterstützt Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungsangebots. Die Organisation residiert im fünften Stock eines modernen Bürogebäudes, von dem aus man durch große Fenster über eine exklusive Siedlung der guatemaltekischen Hauptstadt blicken kann. In keinem anderen Land Lateinamerikas ist das Vermögen der Gesellschaft so ungleich verteilt wie in Guatemala. Zum Beispiel verfügen zwei Prozent der Bevölkerung über vier Fünftel der fruchtbaren Anbaufläche. Die wichtigsten Industriebereiche gehören wenigen Familien, den Boshs, den Gutierrez, den Novelas, den Botráns. Diese Clans bilden eine Oligarchie, die einen Großteil der guatemaltekischen Wirtschaftsleistung kontrolliert. Die Bildungsreferentin von UNICEF, Ana Maria Sanchez, macht diese Leute dafür verantwortlich, dass das Bildungsniveau der Bevölkerung in Guatemala deutlich niedriger liegt als in allen anderen Ländern Mittelamerikas.
"Die Kinder bleiben nicht lange in der Schule, wegen der Armut. Oft wohnen sie weit entfernt von der Schule. Oder sie müssen während der Erntezeit an die Küste ziehen, um dort auf den Plantagen der Reichen zu arbeiten. Viele Eltern haben nicht genug Geld, um die Schulmaterialien zu kaufen. Auch der Staat verfügt nicht über ausreichend Mittel, weil es ihm nicht gelingt, genügend Steuern einzusammeln. Die Besitzer der großen Firmen haben wenig Interesse daran, dass sich das ändert, weil sich eine ungebildete Bevölkerung leichter manipulieren lässt. Je weniger Informationen die Leute haben, desto besser kann man sie ausbeuten."

Darunter leiden vor allem die Frauen. In Guatemala gibt es sehr viele Fälle von verantwortungslosen Vätern. Eine analphabete Frau hat nahezu keine Möglichkeit, ihre Rechte einzuklagen.

Eine der wenigen Organisationen, die versucht, den Kreislauf von Analphabetismus und Armut zu durchbrechen, ist AMES, die Vereinigung solidarischer Frauen.

Rund zehn Kilometer entfernt von dem Bürohaus von UNICEF sitzt Jennifer Coguox vor einem alten Computer in der juristischen Abteilung von AMES. Eine ihrer Aufgaben ist es, die Frauen über ihre Rechte aufzuklären. Sie haben das Recht, darüber zu entscheiden, wieviele Kinder sie haben möchten. Über ihren Körper und ihre Sexualität können sie selbst bestimmen. Niemand hat das Recht, sie zu schlagen, auch nicht ihr Vater oder ihr Lebensgefährte. Ihre Töchter haben dasselbe Recht auf Bildung wie ihre Söhne. All das ist neu für viele Frauen in Guatemala.

" Die meisten alleinerziehenden Mütter haben keine Ahnung, dass sie in einem Familiengericht verlangen könnten, dass ihnen der Vater der Kinder finanzielle Unterstützung zahlt. Viele leben in extremer Armut, umgeben von Gewalt. Alleinstehende Mütter haben zwar keinen Mann mehr, der sie schlägt, aber sie sind doch Opfer der allgemeinen Gewalt. Die Gewalt, die von kriminellen Banden ausgeht. Sie werden Opfer des Femizids. Aber es ist auch bekannt, dass die Mörder in vielen Fällen die Partner oder ehemaligen Partner von Frauen sind, die sich entschieden haben, ihn zu verlassen."

Frauenrechtlerinnen in Guatemala sprechen von einem Femizid, weil sich das Justizsystem für diese Toten nicht zu interessieren scheint. Seit Jahren bemühen sich internationale Organisationen der Frauenrechtsbewegung um Aufmerksamkeit für die enorm hohe Zahl an Frauenmorden in Guatemala. In dem kleinen Land leben etwa 13 Millionen Menschen. Im Schnitt werden zwei Frauen ermordet - pro Tag. Wenn das Opfer eine Analphabetin war, kommt es fast nie zu einer kriminalistischen Untersuchung des Verbrechens.

Auch die kommunale Verwaltung von Guatemala-Stadt ist wenig motiviert, die Frauen in den Armenvierteln zu unterstützen. Ihr Analphabetismus war jahrzehntelang politisch gewollt. Während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde die Bildungspolitik der mittelamerikanischen Staaten gerade von den USA vorrangig im Zusammenhang des Kalten Kriegs bewertet. Entscheidend war, ob ein Bildungsprogramm dazu beitrug, das angebliche Vordringen des Kommunismus abzuwehren.
Die guatemaltekische Sozialwissenschaftlerin Irene Piedrasanta betreibt einen der wenigen erfolgreichen Schulbuchverlage in Guatemala. An ihrem Schreibtisch im alten Zentrum der Hauptstadt sitzt sie umgeben von Regalen voller Kinderbücher aus Lateinamerika.

"Warum ist Guatemala so rückständig in Sachen Alphabetisierung, obwohl die Volkswirtschaft des Landes die größte in Mittelamerika ist? Warum haben wir den schlechtesten Bildungsstand? Es sind die Machtstrukturen in diesem Land, die eine Verbesserung verhindert haben. Seit der Zeit des Kalten Kriegs wird unsere Bildung instrumentalisiert."

In den achtziger Jahren - zu der Zeit der Aufstandsbekämpfung der Armee gegen linksgerichtete Guerillagruppen - hat die guatemaltekische Regierung die Funktionen des Bildungsministeriums dem Verteidigungsministerium zugeordnet.
"Im Jahr 1980 habe ich mit Leuten der militärischen Führung gesprochen, weil die Armee angeblich sehr interessiert war an der Alphabetisierung. Doch in einem Gespräch offenbarte mir ein hochrangiger Militär: 'Irene - mal im Ernst: Wir wollen keine Alphabetisierung.'
Ich war konsterniert. Wieso nicht?
'Ich sehe das so,' sagte er. 'Nach der Alphabetisierung kommt der Kommunismus.'
Gleichzeitig aber machte die Armee im Fernsehen, in den Zeitungen und im Radio Werbung für ihre Alphabetisierungskampagnen."

Trotz dieser Propaganda tat die Armee in der Praxis so gut wie nichts für die Alphabetisierung. So gesehen kann man die außergewöhnlich hohe Analphabetismusrate in Guatemala auch als ein Erbe des Kalten Kriegs bezeichnen. Doch auch heute noch kommt der Alphabetisierungsprozess nur sehr langsam voran. Zurzeit regiert in Guatemala eine Partei, die sich sozialdemokratisch gibt. Die UNE stellt die seit Jahrzehnten erste Regierung, die breit angelegte Sozialprogramme durchführt. Eine ihrer Prioritäten ist es, allen Kinder die Möglichkeit zu geben, kostenlos eine Grundschule zu besuchen. Trotzdem ist Jennifer Coguox von der Vereinigung solidarischer Frauen, AMES, überzeugt davon, dass es auch in dieser Regierung einflussreiche Gruppen gibt, die versuchen, effektive Bildungsprogramme für breite Bevölkerungsteile zu verhindern. Der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften ist groß. Nicht nur in der Landwirtschaft - auch in den Fabriken, im Handel und in den Haushalten wohlhabenderer Familien, die sich oft mehrere Hausangestellte leisten. Keine dieser Tätigkeiten erfordert die Fertigkeit des Schreibens oder Lesens. Viele Arbeitgeber haben ein Interesse daran, dass eine große Zahl ungelernter, billiger Arbeitskräfte zur Verfügung steht.

"Wenn sie nicht lesen und schreiben können, kennen sie höchstwahrscheinlich auch nicht ihre Rechte. Sie wissen nicht, dass es eine Arbeitsgesetzgebung gibt, die ihre Tätigkeit in den Firmen reguliert, dass sie ein Recht auf Gesundheitsvorsorge haben, auf Zugang zu Bildung. Wenn diese Frauen andere Optionen kennenlernen würden, würden sie nicht mehr in den Fabriken arbeiten wollen."

Aber es gibt einflussreiche Leute, die weiterhin billige Arbeitskraft wollen. Sie interessieren sich nicht für die Qualifikation der Arbeiter.

Paulina muss jeden Morgen vor sechs Uhr aus der Schlucht über zweihundert Treppenstufen nach oben steigen. Dutzende streunende Hunde wühlen durch die Abfallhaufen am Wegrand. Die hageren Tiere achten nicht auf die genauso hagere Frau.

Paulina läuft bis zur Calzada Roosevelt, eine der Haupteinfahrtstraßen von Guatemala-Stadt. Sie arbeitet in einer der Textilfabriken hinter den hohen Mauern eines abgeschotteten Viertels.

Hinter einem Kontrollposten stehen einige ehemalige Wohnhäuser, die Platz für etwa zwanzig, dreißig Nähmaschinen bieten. Es gibt aber auch Anlagen mit riesigen Werkshallen, in denen Hunderte Frauen arbeiten. Neben den Eingangstoren steht noch mehr bewaffnetes Sicherheitspersonal. Die uniformierten Männer schützen die Mauern, hinter denen ausländische Investoren regieren.

Paulina muss sich sputen. Wenn sie ein paar Minuten zu spät kommt, wird ihr das Gehalt für einen ganzen Tag abgezogen.

"Der Druck ist groß. Du musst bis sieben, acht Uhr abends arbeiten. Wenn du nicht bleibst, wird dir der Tag nicht anerkannt. Aber es werden immer nur die normalen Arbeitsstunden gezählt.
Sie behandeln die Leute schlecht. Sie sagen, wenn wir uns beschweren, würden sie die Fabrik einfach schließen. Und es gibt keine andere Arbeit. Du suchst und suchst aber findest keine Anstellung. Deshalb hältst du das alles aus."

Paulina arbeitet in einer der über zweihundert Weltmarktfabriken in Guatemala, die im Besitz von Investoren aus Südkorea sind. Nachdem die Regierung die Importzölle für Rohstoffe, Halbfertigwaren und Maschinen abgeschafft hat, ist das Land zu einer Werkbank der internationalen Textilverarbeitung geworden.

Im Eingangsbereich der Produktionshalle des südkoreanischen Textilunternehmens DAE MYONG hängt ein vergilbter Zettel, auf dem die Betriebsleitung den aktuellen Tageslohn für einfache Arbeiterinnen bekannt gibt: 47,75 Quetzales, weniger als 5 Euro. Das entspricht dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Auch der Stundenlohn ist aufgeführt: 5,97 Quetzales, beziehungsweise 8,95 Quetzales für jede Überstunde.

Der koreanische Besitzer der Maquila Dae Myung muss eine Treppe hinaufsteigen, um in sein Büro zu kommen. Durch verspiegelte Fenster kann er über die gesamte Produktionshalle blicken und so die Arbeitsleistung seiner Angestellten kontrollieren.

"Ich denke, es ist nicht wichtig, ob Hilfsarbeiter schreiben und lesen können. Mir ist das egal. Auch wer nicht schreiben kann, kann trotzdem arbeiten. Viel wichtiger ist es, dass sie hart und gut arbeiten. Meine Arbeiter in der Fabrik sind glücklich."

So gesehen ist die hohe Analphabetenrate ein Standortvorteil Guatemalas. Textilien sind das Wichtigste industriell hergestellte Ausfuhrgut. Zehntausende junge Frauen konkurrieren um die Arbeitsplätze an den Nähmaschinen. Außerhalb des Textilsektors haben junge, analphabete Männer und Frauen nahezu keine Chance, auf dem geregelten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Weltmarktfabriken sind einer der wenigen Bereiche, in dem sie zumindest theoretisch Vorteile wie Sozialversicherung und geregelte Arbeitszeiten genießen können.

"Am Tag der Lohnauszahlung wird uns immer eine Menge für die Sozialversicherung abgezogen. Aber wenn Du dann mal zum Arzt gehen willst und nach deinen Unterlagen fragst, dann sagen sie dir, du sollst warten. Letztlich geben sie dir die Papiere nie. Natürlich gibt es Inspektionen vom Arbeitsministerium. Einmal habe ich mich beschwert, weil ich schlecht behandelt wurde. Danach ist es noch schlimmer geworden. Als mich die Inspekteure noch einmal befragt haben, habe ich nichts mehr gesagt. Ich habe gelogen, weil ich meine Arbeit nicht verlieren will. Ich bin schon 27 Jahre alt. Da ist es schwer, eine andere Arbeit zu finden. Ich halte das alles nur aus, weil ich für meine Kinder sorgen muss."