Unbekannte Ukraine

15.10.2007
Zuneigung, Spott und Bedauern schwingen mit, wenn Juri Andruchowytsch über das Verhältnis der Ukraine zur EU oder die abflauende Begeisterung nach der Orangenen Revolution schreibt. In seinem Essayband "Engel und Dämonen der Peripherie" leistet der Autor, dessen Romane mittlerweile als Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur gelten, einen wichtigen Beitrag zur Entdeckung einer nahezu unbekannten Region im erweiterten Europa.
Ein besonderes Merkmal seiner Sprache sieht Juri Andruchowytsch in ihrer Verborgenheit. Die langjährige Übermacht des sowjetrussischen Imperiums und der daraus folgende postkoloniale Status seines Landes hätten dem Ukrainischen, gesprochen von mehr als 35 Millionen Menschen, eine unbeachtete Nischenexistenz beschert. Und Schriftsteller im Westen seien, so Andruchowytsch, zumeist davon überzeugt, dass es diese Sprache gar nicht gebe oder dass sie nur als politisch aufgewertete Variante des Russischen ihr Dasein friste.
In dieser Verborgenheit, die man nicht mit Verschlossenheit verwechseln dürfe, sieht der hierzulande bekannteste ukrainische Gegenwartsautor keinen Nachteil sondern eine Chance: Schließlich seien es die Schriftsteller, die heute die Möglichkeit besäßen, die ukrainische Sprache der Zukunft zu formen. Dieser selbstbewusste, glücklicherweise von Selbstironie überlagerte Grundton durchzieht den neuen Essayband von Juri Andruchowytsch, der unter dem Titel "Engel und Dämonen der Peripherie" bei Suhrkamp erschienen ist. 20 Texte aus den Jahren 2003 bis 2007, darunter Vorträge und Zeitungsaufsätze, die der Autor für die Buchausgabe bearbeitet und ergänzt hat, kreisen um die Lage der Ukraine - je nach Gesichtspunkt innerhalb oder außerhalb Europas.

Andruchowytsch stellt sich die Frage, inwieweit Ostmitteleuropa, diese Pufferzone zwischen Russland und dem Westen, durch die EU-Osterweiterung und die Abschottung der EU-Außengrenzen nun in die Ukraine verlagert wurde. Mit einer Mischung von Zuneigung, Spott und Bedauern entwirft er das Porträt seiner Landsleute, beschreibt ihre politikferne Passivität, derer sich die Mächtigen nach Belieben bedienen. Er widmet sich den Mythen und Realitäten der polnisch-ukrainischen Nachbarschaft, spricht über seine Lieblingslektüren, und er liefert gleichsam nebenbei einen Abriß der Kulturgeschichte seiner westukrainischen Heimat, die zwischen den Weltkriegen zum polnischen Staat gehörte und vor 1918 die östliche Peripherie der Habsbuger Monarchie gebildet hatte.

Den politisch stärksten Akzent allerdings setzt Andruchowytsch mit seiner Begeisterung für die Orangene Revolution von 2004 und mit seiner Enttäuschung über deren fragwürdigen Ergebnisse. Die Rückkehr der einheimischen politischen Elite zu Selbstherrlichkeit und Willkür ist ihm ebenso zuwider wie die fragwürdige Solidarität der Europäer, die sich vor der Ukraine durch die neue EU-Ostgrenze abschotten, und sei es auch nur, um den mächtigen Partner Russland nicht zu verärgern.

Andruchowytschs "Engel und Dämonen der Peripherie" liefern eine ebenso anspruchsvolle wie leicht geschriebene, kongenial ins Deutsche übertragene Landeskunde der Ukraine. Sie richten sich nicht zuletzt an die Leser in Deutschland und Österreich, wo sich der 1960 im westukranischen Stanislawiw geborene Andruchowytsch häufig aufhält, wenn er außerhalb der derzeit wieder besonders undurchlässigen Landesgrenzen weilt.

Es sei allerdings, erklärt der für eine europäische und freie Ukraine kämpfende Autor 2007 im Rückblick, eine gute Sache, in seinem Bemühen immer wieder von vorne zu beginnen. Diese Mischung aus Sisyphos und Sacher-Masoch biete sogar eine außergewöhnlich süße und fesselnde Perspektive. Der Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch, dem der Begriff des Masochismus zu verdanken ist, lebte übrigens in der damals österreichischen Landeshauptstadt Lemberg - dem heute westukrainischen Lwiw.

Rezensiert von Martin Sander

Juri Andruchowytsch: Engel und Dämonen der Peripherie
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
Suhrkamp Verlag 2007
217 Seiten, 10 Euro