Umstrittenes Bahnprojekt

Drunter und drüber bei Stuttgart 21

"S21 Fahr zur Hölle", steht bei der 300. Montagsdemo vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart auf einem Plakat
"S21 Fahr zur Hölle!" - Das Bahnprojekt Stuttgart 21 ist nach wie vor umstritten. © dpa/ picture-alliance/ Christoph Schmidt
Von Uschi Götz · 14.01.2016
Im Stuttgarter Norden können Anwohner manchmal nachts nicht mehr schlafen. Schuld sind die Bauarbeiten an Stuttgart 21. Aber auch die Kosten sorgen weiter für Ärger. Wird das Bahnprojekt tatsächlich 2021 fertig sein?
"Das, was Sie hier vor sich sehen, ist ein Achtel Segment einer solchen Kelchstütze. Und noch dazu nicht in voller Höhe. Dieses Exponat hier ist neun Meter hoch, die Kelchstützen nachher im Original werden bis zu zwölf Meter hoch sein."
Ein Achtel einer Kelchstütze, ein Modell, steht seit Kurzem auf dem Baugelände in der Stuttgarter Innenstadt. Die Kelchstützen-Konstruktion gilt als weltweit einzigartig, das gilt auch für die Ansprüche des Architekten an das Material erklärt Jörg Hamann, Projektsprecher des Bahnprojektes Stuttgart-Ulm bei einem Ortstermin.
"Der Beton ist ein Weißbeton. Dieser Weißbeton ist eigens gefertigt worden für diese künftigen Kelchstützen, nach einer besonderen Rezeptur. Der Architekt Ingenhoven hat höchste, allerhöchste Ansprüche und bestand und besteht auf Weißbeton. Inzwischen ist ein Vertrag geschlossen worden über die Betonrezeptur."
Es sei das Komplizierteste, was man im Bereich Bauen mit Stahlbeton je gemacht habe, heißt es in Expertenkreisen.
Bislang blickte halb Stuttgart auf ein Bauloch
Mit dem kleinen Teil einer künftigen Kelchstütze ist zum ersten Mal etwas Wachsendes zu erkennen, an der Stelle wo künftig der unterirdische Durchgangsbahnhof in Stuttgart stehen wird. Bislang blickte halb Stuttgart auf ein riesiges Bauloch.
"Bei der Kelchstütze ist es ganz besonders eine Freude, weil die ja neben all den technischen und tunnelbautechnischen und sonstigen Dingen, die ja auch irgendwann auch mal nicht mehr sichtbar sein werden, repräsentiert diese Kelchstütze ja das eine Element, aus dem alle sichtbaren Teile des Bahnhofs hinterher bestehen werden."
Christoph Ingenhoven, weltweit einer der bekanntesten und renommiertesten Architekten, sitzt in seinem Düsseldorfer Büro. Von ihm stammt der Entwurf für den Stuttgarter Durchgangsbahnhof. Als er 1997 den Wettbewerb für das Großprojekt gewann, ging er noch von einer zügigen Umsetzung aus. Es kam anders, eine nie gekannte Protestwelle sorgte für einen jahrelangen Verzug.
Doch jetzt wird gebaut, die Stuttgarter Innenstadt verändert sich nahezu täglich. Am Ende werden 28 Kelchstützen das luftige Bahnhofsdach tragen.
"Und dazu hat es einen langen, einen sehr langen Anlauf gegeben, nicht nur der politischen Verzögerungen wegen, auch jetzt zuletzt noch einmal einen langen Anlauf, weil es technisch eine große Herausforderung ist, diese Kelchstützen zu bauen. Und sie vor allem in dieser schönen und qualitativ überzeugenden Form zu bauen."
"Der Prozess ist noch nicht zu Ende"
"Man muss sagen, wir waren sehr unsicher auch ein bisschen kritisch mit der Baufirma, das hat sich nicht alles in Luft aufgelöst, aber es hat sich vieles davon am Ende doch als gut erwiesen. Und man sieht das jetzt mal physisch vor sich. Allerdings muss ich auch dazu sagen, der Prozess ist noch nicht zu Ende, es dauert noch ein bisschen, bis das ganz zu unserer Zufriedenheit ist."
Um die Kelchstützen zu bauen, bedarf es ein Fundament, eine riesige Betonplatte. Für eine Baufreigabe fehlten dem Eisenbahn-Bundesamt im vergangenen Jahr noch statische Nachweise. Mittlerweile liegt eine Teilfreigabe der Behörde vor und in diesen Tagen wird ein erster Abschnitt der Grundplatte gegossen.
Viel länger hätte es nicht mehr dauern dürfen, dann wäre der Zeitplan für das Bahnprojekt Stuttgart 21 gekippt. Die ersten Züge sollen mit dem Fahrplanwechsel 2021 unterirdisch in Stuttgart angekommen. Man sei zuversichtlich, heißt es von Seiten der Bahn, dass es so auch kommen wird.
Vor allem der unterirdische Durchgangsbahnhof werde dem Gesamtprojekt weitere Mehrkosten bescheren. Zu diesem Ergebnis kommt das Münchner Büro Vieregg-Rössler in einem Gutachten. Auch ist das Büro sicher, das Projekt wird nicht 2021 fertig gebaut sein, sondern drei Jahre später.
Die Kostenschätzung des Münchner Büros für das gesamte Bahnprojekt: 9, 8 Milliarden Euro. Die Bahn gibt bislang Baukosten in Höhe von rund 6, 5 Milliarden Euro an.
Bahn weist drohende Kostensteigerung zurück
"Jetzt stehen zehn Milliarden im Raum. Wir wissen ja schon seit längerem, im Übrigen von Toni Hofreiter von den Grünen verbreitet, dass bahninterne Unterlagen von elf Milliarden Euro für Stuttgart 21 ausgehen. Selbst unser Gutachten ist offensichtlich noch konservativ gerechnet, zeigt aber sehr deutlich die Tendenz, dass Stuttgart 21 extrem viel teurer wird, als es sich die Politik weiß machen will."
Bereits 2008 gab es ein Gutachten des Münchner Büros, damals im Auftrag der Grünen und dem Bund für Umwelt und Naturschutz.
"Damals, 2008, hat die Bahn genau diese Voraussage von Vieregg und Rössler als Hirngespinst hingestellt, inzwischen gibt es die Bahn selber zu. Vieregg und Rössler hat auch die extremen Kostensteigerungen des Transrapid von München zum Münchner Flughafen vorhergesagt. Der Transrapid ist genau an diesen Kostenvorhersagen gescheitert."
Die Bahn weist die drohende Kostensteigerung als nicht haltbare Spekulation zurück. Etwa 70 Prozent der Bauaufträge seien bereits vergeben, teilte das Unternehmen mit. Man sei davon überzeugt, den Finanzierungsrahmen in Höhe von rund 6,5 Milliarden Euro halten zu können.
Sehr gründlich wurde das Gutachten im baden-württembergischen Ministerium für Verkehr und Infrastruktur geprüft. Der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann betont, man nehme das Gutachten sehr ernst. Hermann forderte die Bahn zu einer Stellungnahme auf.
"Wahr ist, dass die Bahn uns regelmäßig im Lenkungskreis unterrichtet, wir regelmäßig nachfragen, was die Kostenentwicklung anlangt, wahr ist auch, dass ein Teil der Kostenpuffer zum Teil verbraucht ist. Aber das ist bisher wie geplant, dafür sind die Puffer da, dass sie allmählich abgebaut werden."
Das Risiko liegt allein bei der Bahn
Bislang gibt es laut Minister Hermann von Seiten der Bahn keine Hinweise darauf, dass das Bahnprojekt zeitlich und finanziell aus dem Ruder laufe:
"Trotzdem steht im krassen Gegensatz eben jetzt das neue Gutachten und wir müssen das aufklären, daran hat die Öffentlichkeit ein großes Interesse, rechtzeitig zu erfahren, ob es erneut Kostensteigerungen gibt."
In einem Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009 ist geregelt, dass sich das Land Baden-Württemberg, egal wie viel das Bahnprojekt kostet, am Ende mit 931 Millionen Euro beteiligt. Kommt es tatsächlich zu einer Kostensteigerung liegt das Risiko allein bei der Bahn.
Der Tunnelbau im Großraum Stuttgart läuft schneller als geplant. Statt wie vorgesehen zehn Kilometer Tunnel, sind bereits elf Kilometer gebohrt. Eine Tunnelbohrmaschine ist Tag und Nacht im Einsatz. In 24 Stunden können so bis zu 30 Meter Gesteinsschichten abgetragen werden.
"Und zwar komplett im Rohbau, da tropft nichts mehr von der Decke, da kann man praktisch die Oberleitungen von der Decke schrauben und damit sozusagen schon einen Großteil der Bautätigkeit erfolgreich abgeschlossen."
Schwärmt Georg Brunnhuber vom Verein Bahnprojekt Stuttgart-Ulm. Der Verein hat eine wichtige Funktion vor allem bei der Außendarstellung des gesamten Projekts. Der frühere CDU Bundestagsabgebordnete Brunnhuber war bis Ende 2014 Sonderbeauftragter für Politik in der Führungsetage der Bahn.
Einstimmig wurde Brunnhuber vor knapp einem Jahr in den Verein gewählt, dem auch das Land und die Stadt angehören. Land und Stadt unterstützen den Verein auch finanziell. Die grün-rote Landesregierung zahlt 600.000 Euro für die Mitgliedschaft, die Stadt Stuttgart ist mit 300 000 Euro als Mitglied dabei.
Viele Anwohner ertragen den Lärm nicht mehr
Ein Ende der Kampfrhetorik versprach sich vor allem das grüne Verkehrsministerium mit dem als moderat geltenden Brunnhuber.
Und Brunnhuber hält, was man von ihm erwartet:
"An allen Projekten egal, wo sie in Europa oder in Deutschland entstehen, gibt es Kritik, das ist in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Aber diese Kritik kann man eben auch dadurch aufnehmen, indem man den Leuten zeigt, was konkret geschieht. Transparenz ist etwas, was sich der Verein zwangsläufig durch seine Mitgliederzusammenstellung auf die Fahnen geschrieben hat, und diese Transparenz, die möchten wir auch auf jeden Fall auch für das Jahr 2016 bieten."
Ein regelrechter Baustellentourismus ist entstanden.
"Baustellenbesichtigungen, Tunnelbesichtigungen, wir können das fast nicht mehr abbilden, was täglich eingeht. Wir haben jetzt schon, wenn man keine Möglichkeiten gefunden hätte, wie wir mit den Baufirmen entsprechend verfahren, könnten wir jetzt schon keine Führungen auf Baustellen von Ulm bis Stuttgart annehmen. Wir sind ausgebucht bis Ende 2016."
Die einen kommen zum Staunen, die anderen gehen, weil sie den Lärm nicht mehr aushalten.
In Stuttgart- Wangen werden von einem Schacht aus zwei Tunnelröhren zum Durchgangsbahnhof in der Innenstadt gebaut. Die Bauarbeiten finden in einer Tiefe von 20 bis 30 Metern statt, rund um die Uhr, auch nachts. Viele Anwohner ertragen den Lärm nicht mehr.
"Völlig unerwartet, entgegen allen Gutachten, die im Vorfeld gemacht wurden, tritt sehr heftiger Lärm auf. Tagsüber durch Sprengungen, nachts durch Meißelarbeiten, da nicht gesprengt werden kann, die derart laut sind, dass man gar nicht schlafen kann und das dann völlig unzumutbar ist, dann Zuhause zu sein."
Die Nerven liegen blank
Erich Wolf, Mitinhaber eines Stuttgarter Büros für Visualisierungen, wohnt mit seiner Familie in einem Haus im Stuttgarter Ortsteil Wangen. Die Nerven liegen blank, nicht nur bei seiner Familie.
Ein von der Bahn beauftragter Gutachter bescheinigte den Bewohnern im Herbst vergangenen Jahres, die Klagen über den Lärm seien berechtigt. Seitdem können besonders vom Lärm betroffene Menschen die Nächte im Hotel verbringen.
"Was das einzige Angebot der Bahn ist, indem sie wortwörtlich sozusagen die Nachtruhe herstellt, indem sie Hotelgutscheine vergibt."
Die Familie mit vier Kindern stellt das vor große, bisweilen vor kaum lösbare logistische Herausforderungen. Die Kinder müssen zur Schule, dann gibt es noch einen Hund.
"Ich selbst bin auch wochenlang mit einer Tochter ins Hotel gegangen, teilweise auch noch mit anderen Familienangehörigen, aber über einen längeren Zeitraum ist so etwas nicht machbar. Da die Bahn nochmal ein gutes halbes Jahr so einen Krach macht, wissen wir auch nicht, wie es weiter geht."
Seit Oktober 2015 hat die Bahn 50.000 Euro Hotelkosten ausgegeben. Pro Person werden bis zu 180 Euro für eine Nacht bezahlt. Das Angebot für lärmgeschädigte Anwohner gilt auch für die kommenden Monate.
Doch die Hotels liegen weit außerhalb der betroffenen Bereiche, so können vor allem Familien das Angebot kaum bis gar nicht nutzen.
Auch der Stuttgarter Norden leidet unter dem Baulärm. Eine Anwohnerin berichtet, sie habe sehr lange für eine Verbesserung in Sachen Lärmschutz gekämpft, allerdings ohne Erfolg. Weder bei der Bahn noch bei der Stadt Stuttgart nehme man die Beschwerden der Bewohner wirklich ernst. Die Frau aus dem Norden schluckt nun Schlafmittel, um überhaupt zur Ruhe zu kommen. Manche werden richtig krank vom Baulärm, weiß auch Erich Wolf:
"Eine Nachbarin ist schon seit Wochen krankgeschrieben, sie ist nervlich derart belastet, dass sie nicht mehr arbeiten kann, auch andere verkraften es halt schwerer, es wird immer heftiger in der Familie, man ist leicht reizbar, das sind alles Auswirkungen, die da mitkommen."
"Heute zum 300. Mal. Was für ein Jubiläum!"
Bis zum heutigen Tag gehen Projektgegner auf die Straße. Anfang Dezember fand vor dem Hauptgebäude des Stuttgarter Bahnhofs die 300. Montagsdemo statt.
"Noch einmal herzlich willkommen! Seit November 2009, sechs Jahre jetzt, gibt es die Stuttgarter Montagsdemos. Heute zum 300. Mal. Was für ein Jubiläum!"
Bei der 300. Montagsdemonstration spricht zum Auftakt der ehemalige Grünen-Politiker Jürgen Rochlitz. Rochlitz, Professor für Chemie, saß bis 1998 für die Grünen im Bundestag und trat dann aus der Partei aus. Heute kritisiert er vor allem die Grünen in Baden-Württemberg für ihre Bahnpolitik.
Noch 50 Kilometer Tunnel seien noch zu bauen, sagt er in seiner Rede:
"Damit zeichnet sich ab, dass Stuttgarts Bürger noch über Jahre eine Stadt im ständigen Baumodus erleben werden, immer mit der Gefahr von Hangrutschen und der Gefahr von Verunreinigung des Grundwassers bzw. der Quellen von Bad-Cannstatt. Und der OB, dieser grüner OB lässt alles geschehen, ohne auch nur einzuschreiten."
Auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, einst selbst Gegner des Bahnprojekts habe "seinen grünen Mantel in den Wind gehängt" und glänze nun durch Untätigkeit. Das Projekt sei noch zu stoppen und das müsse im Landtagswahlkampf vermittelt werden.
Eine Dame mittleren Alters steht am Rande der Demo. Wo sie ihr Kreuz bei der Landtagswahl in wenigen Wochen machen wird, sagt sie nicht. Nur so viel:
"Ich misstraue den Grünen zutiefst. Kretschmann war ein absoluter Gegner des Projekts. Sobald er gewonnen hatte, ist er umgeschwenkt, auf die andere Seite. Das werde ich ihm nie vergessen."
"Das ist wie ein Panzer, die fährt einfach durch"
Auch Dietrich Wagner ist zur 300. Montagsdemonstration in den Stuttgarter Talkessel gekommen. Der heute 70-jährige Ingenieur trug durch den Strahl eines Wasserwerfers bei dem Polizeieinsatz am 30. September 2010 schwere Augenverletzungen davon. Heute sieht er fast nichts mehr. Hat sich der Widerstand gelohnt?
"Auf die ganze Gesellschaft bezogen, hat sich dieser Widerstand von S 21 - glaube ich - gelohnt, weil er gewisse sinnvolle, kritische Kräfte in halb Deutschland aktiviert hat."
Anders als viele Demonstranten an diesem Montag glaubt der Ingenieur allerdings nicht mehr daran, das Bahnprojekt ließe sich jetzt noch stoppen.
"Diese korrupte, perverse Gesamtmannschaft, die baut einfach weiter. Das ist wie ein Panzer, die fährt einfach durch."
"Stuttgart 21 ist durch. Das Volk hat entschieden. Es wird gebaut. Die Milliarden sind weg. Aber wir achten darauf, dass das Land nicht noch mehr zahlen muss. Der Kostendeckel gilt."
Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann ließ kurz nach seinem Amtsantritt die Baden-Württemberger über das Projekt abstimmen. Die Mehrheit der Baden-Württemberger sprach sich in einem Volksentscheid für den Bau von Stuttgart 21 aus.
Einige Projektgegner haben dabei persönlich einen hohen Preis bezahlt, sie wurden bei dem Polizeieinsatz im September 2010, beim sogenannten Schwarzen Donnerstag, zum Teil erheblich verletzt.
Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte Mitte November 2015 in Urteilen verkündet: Der Platzverweis sowie der Einsatz von Pfefferspray und Wasserwerfern seien rechtswidrig gewesen.
"Meine Damen und Herren, es war mir ein persönliches Anliegen heute den Geschädigten des Polizeieinsatzes vom 30 September ..."
"Ich hatte wirklich den Eindruck, dass er das ernst meint"
Kurz vor Weihnachten empfing Ministerpräsident Winfried Kretschmann einige Betroffene im Stuttgarter Staatsministerium, um sich bei Ihnen im Namen der Landesregierung zu entschuldigen.
"Wir können die Ereignisse vom 30. September 2010 nicht ungeschehen machen. Wir können die körperlichen Wunden nicht heilen. Wir können uns nur für das Geschehen aufrichtig entschuldigen."
Auch der bei dem Einsatz schwer verletzte Dietrich Wagner ist der Einladung des grünen Ministerpräsidenten gefolgt.
"Ich bin angenehm überrascht, ich glaube dem Herrn Kretschmann diese Entschuldigung. Ich hatte zuerst, als ich hierher kam auch zuerst ein bisschen manchmal den Gedanken: na, was macht er denn jetzt, ein bisschen Wahlkampf? Sich beim Volk einschmusen, in Absicht von mehr Stimmen. Aber nein, ich hatte wirklich den Eindruck, dass er das ernst meint."
Dietrich Wagner spricht den wohl verwundbarsten Punkt der grün-roten Landesregierung an. Seit fünf Jahren müssen vor allem die Grünen an einem Projekt mitwirken, dass sie verhindern wollten.
Eine Weile versuchte die Regierung, das Thema klein zu halten, doch je größer die Baugruben in der Innenstadt und im ganzen Land werden, umso mehr ist das Thema vor der Landtagswahl wieder auf dem Tisch.
Völlig unpassend, vor allem für die Grünen im Land, äußerte sich der Architekt des Bahnprojekts, Christoph Ingenhoven vor einigen Wochen, in einer Diskussionsveranstaltung zu Wort.
Angst vor neuen Auseinandersetzungen
Wenn Stuttgart nicht vor einem Loch stehen möchte, dann müsse endlich mit den Planungen für das neue Stadtquartier begonnen werden, sagte er mit Blick auf die freie Fläche, die sich durch die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde über der Erde hinter dem Bahnhof ergibt. Der grüne Stuttgarter Rathauschef Fritz Kuhn wies die Kritik Ingenhovens mit scharfen Worten zurück. Mittlerweile ist der Konflikt beigelegt, sagt Architekt Ingenhoven:
"Das war etwas unglücklich, der zeitliche Zusammenhang. Das hat er mir dann auch mal versucht zu erklären, er hat mich dann angerufen und gesagt, Mensch, musst Du so einen Scheiß erzählen auf Deutsch gesagt. Ich habe dann gesagt, das tut mir wirklich furchtbar leid, ich habe diese Wirkung nicht bedacht."
Wohlgemerkt die Wirkung der Worte, aber es bleibt bei der Aufforderung, die Stadt brauche eine Vision. Denn durch den Bau des Bahnprojekts ergeben sich wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten für die Innenstadt, so Architekt Christoph Ingenhoven:
"Eigentlich reden wir über den Projekterfolg, ansonsten bauen wir einen Bahnhof. Aber was wir ja in Wirklichkeit tun ist ja, wir bauen einen Bahnhof, der es ja ermöglicht, dass die Innenstadt jetzt zunächst einmal den Bahnhof um vieles näher rückt und viel leichter und weniger unwürdig erreichbar wird. Und b) bauen wir einen Bahnhof, der es ermöglicht, dass dahinterliegende Stadtgebiet völlig neu zu bebauen, in einer lärmgeschützten Situation, mit Blick auf den Park, das sind alles Dinge, die eine hohe Chance beinhalten."
Das beste und fortgeschrittenste an städtischer Architektur das sich denken lässt, müsse nun für die nächste Generation entworfen werden. Geht es nach den Plänen von Ingenhoven soll der gesamte Bereich rund um den neuen Bahnhof künftig sehr grün werden. Ingenhoven denkt an den Rückbau von Straßen, ihm schwebt eine Stuttgarter Innenstadt vor, in der Fußgänger und Radfahrer die Vorfahrt haben. Das könnte allerdings in einer Region, die vor allem vom Autobau lebt für neuen Zündstoff sorgen.
Im Stuttgarter Rathaus ist man vorsichtig, wenn es um weitere städtebauliche Veränderungen geht. Man werde die Antwort auf diese Frage zusammen mit den Bürgern der Stadt suchen, sagt Oberbürgermeister Fritz Kuhn.
Ein Berliner Büro wird den Prozess der Bürgerbeteiligung entwickeln und begleiten. Am Ende gebe es dann Szenarien die als Grundlage für Entscheidungen und Wettbewerbe dienen. Die Angst vor neuen Auseinandersetzungen in Stuttgart ist groß.
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