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Sardinien
Die schöne unbekannte Hauptstadt

Cagliari, die Hauptstadt Sardiniens, sah anderen Gegenden auf der Insel bei der touristischen Erschließung lange völlig unbeteiligt zu. Doch langsam weicht die selbstgenügsame Verschlafenheit der Erkenntnis, ein Potenzial zu besitzen, das im Mittelmeer seinesgleichen sucht.

Von Ulf Lüdeke | 15.02.2015
    Smaragdfarbenes Wasser vor der Haustür, eine mittelalterliche Altstadt, die selbst sommers stets verträumt statt überlaufen ist sowie eine schnelle Anbindung zum europäischen Festland samt Flughafen, der zehn Busminuten vom centro storico entfernt ist: Das können nicht viele Mittelmeermetropolen von sich behaupten. Auch nicht, abends von Flamingos überflogen zu werden. Und zwar so tief, dass viele der Tänzer, die an einem der Tango-Abende auf der Bastion des Castello-Viertels hoch über dem Hafen im warmen Dunkel schmachtend schwofen, sich für einen Augenblick von der Magie der Milonga lösen und nach oben schauen, um das rosafarbene Spektakel zu genießen.
    Wenn eine solche Stadt dann auch noch von einem acht Kilometer langen Strand flankiert wird, der selbst im Winter bei Muschel-Pasta und Vermentino in milder Sonne wie eine Mischung aus Copacabana und Karibik wirkt, sollte man meinen, dass ihr Name in aller Munde ist. Doch Cagliari ist bis heute das Aschenputtel jenes Meeres zwischen Europa und Afrika geblieben, in dem sich so viele und verschiedene Sehnsüchte kreuzen.
    Auf der Bastion San Remy im Castello-Viertel, nur einen Steinwurf von Hafenkais und Bahnhof entfernt, hebt sich Cagliari für jedermann schnell von anderen Orten ab. Einer Festung gleich thront der obere Teil der mittelalterlichen Altstadt auf einer kleinen Gruppe Kalksteinhügel – an der Nahtstelle zwischen dem breitem Golf der Engel im Süden und der weitläufigen Campidano-Tiefebene im Norden. Cagliari ist von drei Seiten von Wasser umgeben: In Süden vom Meer, im Osten und Westen von Salinen und Lagunen, in denen Europas größte Flamingokolonie lebt und Miesmuschelbänke unter Bojen baumeln. Doch es gibt ein Problem:
    "Um die Stadt herum liegen mehrere Parks, deren Potenzial einfach nicht genutzt wird. In der Lagune leben bis zu 200 Vogelarten. Ein riesiges Naturschutzgebiet, dass in Cagliari noch immer nur von ganz wenigen als etwas Besonderes wahrgenommen wird."
    Womit Marco Cadinu, Dozent für Architekturgeschichte des Mittelalters an der Universität Cagliari, auch gleich beim größtem Problem seiner Stadt wäre: Sie hat am meisten von allen 377 sardischen Gemeinden zu bieten und es lange Zeit am wenigsten verstanden, das richtig zu nutzen. Kopfschüttelnd erinnert sich der 53-Jährige an ein Plakat der 80er-Jahre, mit dem für den Poetto geworben werden sollte, Cagliaris einzigartigem Stadtstrand. Auf dem Werbefoto ist er unter einer geschlossenen Schneedecke verschwunden.
    Der Elefantenturm, einer der zwei mittelalterlichen Haupteingänge der oberen Altstadt, dem Castello-Viertel, im Hintergrund der Hafen und der Golf der Engel.
    Der Elefantenturm, einer der zwei mittelalterlichen Haupteingänge der oberen Altstadt, dem Castello-Viertel, im Hintergrund der Hafen und der Golf der Engel. (Ulf Lüdeke)
    "Selbst die ersten Meter Fußgängerzone, die hier im Marina-Viertel vor gerade mal sieben Jahren entstanden, gehen auf eine Bürgerinitiative zurück. Es war eine Petition und viel Lärm notwendig, um Cagliaris Politiker zu etwas zu bewegen, was Tausende andere Städte in Europa längst hatten."
    Das kleine Hafen-Viertel, in dem inzwischen viel saniert wurde, ist zum beliebtesten Ausflugsziel des centro storico geworden. Etwa die Hälfte der Straßen ist heute autofrei – und verwandelt sich fast täglich in ein nach Fisch, Fleisch und Pasta duftendes, vielfotografiertes Freilicht-Lokal. Festivals wie Marina Café Noir, zwischen dem Hafenkiez und den steilen Wänden des Castello-Viertels veranstaltet, zieht Zuschauer sogar vom Festland an. Die Kulturszene blüht auf, das Kunsthandwerk sortiert sich neu. "Und endlich kommen auch die Touristen", freut sich Marco Cadinu, der selbst in der Marina wohnt. "Ein großer Moment für die Stadt", sagt der Architekt, der auch als externer Berater für die Stadtplanung arbeitet. Doch dieser Erfolg sei keinesfalls hausgemacht:
    "Cagliari hat Glück gehabt, dass es überhaupt zu einem Fortschritt gekommen ist. Zu einem positiven Wandel, der wohl vor allem den vielen Low-Cost-Flügen geschuldet ist. Dafür kann Cagliari dem Himmel danken."
    Die Hauptstadt, in deren Großraum mit einer halben Million Menschen knapp ein Drittel der Inselbevölkerung lebt, leidet bis heute an chronischem Mangel kompetenter Stadtentwicklung, klagt Cadinu. Und habe zudem zu lange im Überfluss gelebt: Paradiesisches Meer, ewige Sonne, exquisite, genuine Lebensmittel – das alles habe die Menschen hier zu sehr zerstreut, um urbane Visionen für eine baugeschichtlich und landschaftlich extrem reiche Stadt zu entwerfen, die über eine Straße hinausgehen und länger als eine Wahlperiode halten – die oft versteckten, nichtsdestotrotz unübersehbaren Schönheiten dieses Aschenputtels stur ignorierend.
    "Cagliari ist ein Geschichtsdepot. Die Stadt quillt über vor Spuren aus mehreren Jahrtausenden. Es reicht schon, irgendwo mit einer Kinderschaufel in der Erde zu buddeln. Und schon stößt du auf Geschichte. Man muss nur das Laken wegziehen, das über ihr liegt."
    An der Kirche Sant'Eulalia im Marina-Viertel hängt das Laken in Form einer haushohen Plastikbahn an einer Wand. Zwar prangen darauf das Wort Museum und eine dorische Säule. Doch dass sich tief unter der katalanischen Kirche aus dem 14. Jahrhundert eine turnhallengroße Freilegung Cagliaris zu Zeiten der römischen Regentschaft vor 2000 Jahren samt Straßen, Häusern und Brunnen befindet, bleibt ein Geheimnis für den, der es nicht weiß.
    Bisweilen wird kulturelles Erbe mit Füße getreten
    Bisweilen wird kulturelles Erbe hier sogar mit Füßen getreten – geschehen in Tuvixeddu, der größten Phönizier-Nekropole des Mittelmeerraums. Ein Teil der 1100 Gräber, die die Stadtgründer ab dem 6. Jahrhundert vor Christus in ein Kalkplateau oberhalb der Lagune von Santa Gilla trieben, konnte ein Bauinvestor noch mit Zement für Hausfundamente zerstören – tatsächlich abgesegnet von der Denkmalschutzbehörde, bevor die Region dazwischen fuhr. Erst im vergangenen Frühjahr wurde Tuvixeddu endlich unter dem Jubel Tausender Besucher als archäologischer Park eingeweiht.
    "Ich bin nach Cagliari mit fliegenden Fahnen gezogen, weil die Lebensqualität hier unglaublich hoch ist. Als Bologneser ist mir aber gleich vieles aufgefallen, was ich nicht verstanden habe."
    Richtig platt war Roberto Mambrini, als er die Cagliaritani im Winter 2009 fragte, wo er denn am besten seine Eisdiele eröffnen sollte.
    "Die meisten rieten mir, einen Ort zu suchen, den man mit dem Auto erreichen kann. Das fehlte mir gerade noch, an einem Parkplatz arbeiten, völlig daneben."
    Mambrini, 47, entschied sich damals mit seinem Kompagnon für einen kleinen Laden nahe der Piazza Savoia in der Marina. "Stefino" wurde schnell zum Renner: Die Eisdiele brummt bis spät in den Herbst, wenn sich abends bei tropisch schwüler Luft Kundschaft unter schwer mit Orangen behangene Zitrusbäume stellt und Schoko-Zartbitter-Chili oder Zabaione schleckt. Es ist noch nicht so lange her, da schlossen Cagliaris Eisdielen im August, weil die Besitzer ans Meer fuhren.
    "Hier könnte man zehn Monate im Jahr wie Brasilianer leben. Stattdessen folgt der Rhythmus hier dem Leben der Trentiner. Um acht machen alle Läden dicht, weil die Leute essen wollen. Eine Meerstadt, die wie eine Bergstadt lebt. Da haben die Geschäftsleute noch eine Menge nachzuholen."
    Die Cagliartiani haben ein komisches Verhältnis zu ihrer Stadt, sagt Mambrini, während er gerade mit einem Freund auf einem Segelboot die prächtige Küste von Cagliari abschippert.
    "Sie mögen sie, lassen aber keine Gelegenheit aus, sie schlecht zu machen. Vielleicht tun sie sich deshalb so schwer, die Potenziale zu nutzen."
    Der Eiskönig der Marina segelt vorbei am Poetto, von dem ein erster Abschnitt gerade für zwölf Millionen Euro mit einem neuen Fuß-, Radweg- und Grünflächensystem erschlossen wird. Das Sozialwohnungsviertel Sant'Elia, auf halber Strecke Richtung City am Meer liegend, wird erstmals mit einer Uferpromenade direkt an Hafen und Altstadt angeschlossen. Neben Sant'Elia sollte auch das Betile entstehen – ein Museum für nuraghische und zeitgenössische Kunst. Zaha Hadid gewann den Architektenwettbewerb mit ihrem futuristischen, schneeweißen Bau, einer Mischung aus Schwamm und Auster im Jahr 2006. Doch das Projekt, das ein linker Ministerpräsident aus der Taufe hob, passte der rechten Stadtregierung nicht. Und so versandete ein Traumprojekt, das Cagliari zweifellos Besucherströme aus der ganzen Welt beschert hätte.
    "In allen anderen Städten hätte es all das schon längst gegeben. Es wäre hübsch, voll von Bars, Restaurants, Spielplätzen – jedenfalls in irgendeiner Form aktiv und intelligent genutzt. Ein Mysterium, warum die Promenade schon längst einer der meist besuchten Orte ist."
    Auch Rossella Faa hält Cagliari für eine Stadt der verschenkten Möglichkeiten. Doch die 53-Jährige, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Sängerinnen Sardiniens, nimmt lieber die Nachteile einer langsamen Entwicklung in Kauf, statt fremde Konzepte zu kopieren.
    "Wenn Wachstum bedeuten soll, viele Leute anzulocken, die viele Sachen kaufen und uns alle reich machen und am Ende ruinieren, wie das in Rimini oder in Olbia passiert ist, dann ziehe ich es vor, dass Cagliari lieber ein ganz großes Dorf bleibt."
    Voller Kunsthandwerker, herrlichen Plätzen
    Cagliari, sagt Rossella Faa, sei voll von Kunsthandwerkern, herrlichen Plätzen, besitze eine Traumküste und zahllose, prächtige Gebäude, die nur herausgeputzt werden müssten. So wie Villanova. Kaum wurden die ersten Straßen dieses Altstadtviertels gesperrt, verwandelten sich die schmalen, aber langen, Straßen historischer Zwei- und Dreigeschosser in ein Potpourri von Pasteltönen, flankiert von Tausenden Blumentöpfen, die einst graue Fluchten in grüne Tunnel verwandeln, zur Mittagszeit verwirrend vom Duft frisch frittierter Meeresfrüchte durchzogen. Völlig fremd, sagt sie, sei ihr hingegen die Arroganz einiger Landsleute, die lieber New Yorker sein wollten, anstatt eigene Traditionen zu pflegen.
    "Jemand, der kreativ ist und wachsen will, kann nicht den Schwerpunkt auf das legen, was die anderen machen, so wächst man nicht. Du musst dir etwas suchen, was dich aufwertet – und deine eignen Wege gehen."
    Wie Rossella Faa ist auch Marco Cadino fest davon überzeugt, dass Cagliaris Zukunft vor allem in der Neubewertung des Alten liegt. Sowohl im Stadtzentrum als auch in der Peripherie gebe es eine Unzahl öffentlicher, historischer Gebäude oft militärischen Ursprungs, die der Größe der gesamten Altstadt entspräche, ausgedient haben und bald komplett zur Verfügung stünden. Doch niemand kümmere sich darum, was daraus würde.
    "Der junge Bürgermeister und sein Dezernenten arbeiten gerade an der Profilierung einer Stadt, in der sich mit Verspätung von 20, 30 Jahren die Dinge mit einer Geschwindigkeit ändern, die es hier nie gegeben hat. Es ist viel passiert. Im Augenblick sieht es so aus, als wenn alles, was gemacht wird, richtig ist. Aber es mangelt nach wie vor an Visionen."
    In Italien wird im Schnitt jede Sekunde ein weiterer Quadratmeter des Landes verbaut, sagt der Architekt, dieser Trend müsse gestoppt werden. Spezielle Neubauten könnten aber auch eine Initialzündung für die Entwicklung einer ganzen Stadt geben – wie das Guggenheim-Museum von Bilbao zum Beispiel. Als "Bilbao-Effekt" ist es längst zum Synonym für die starke Aufwertung strukturschwacher Orte durch architektonisch spektakuläre Projekt geworden. Genau das, was das Museum Betile bewirken sollte, das vor allem für die Kunst der Nuraghier gedacht war, den Vorfahren der Sarden vor 3000 Jahren.
    "Das Museum sollte sich als Scharnier von großen urbanen Projekten der Stadt und dem Meer direkt am Ufer zwischen den Hügeln einfügen. Zaha Hadid hat das sehr eindrucksvoll gelöst, ein großartiger Vorschlag der Avantgarde, der sicher ein voller Erfolg geworden wäre. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Projekt wieder aus der Schublade zu holen.