Ultra-Orthodoxe gegen den Staat Israel

"Die Idee des Zionismus ist ein Angriff auf unsere Religion"

Ultra-orthodoxe Juden protestieren in Jerusalem gegen die Wehrpflicht.
Ultra-orthodoxe Juden protestieren in Jerusalem gegen die Wehrpflicht. © MENAHEM KAHANA / AFP
Von Stefanie Oswalt · 06.05.2018
Weltweit wird in diesen Tagen an die Gründung des Staates Israel am 14. Mai vor 70 Jahren erinnert. Und doch gibt es gerade unter ultra-orthodoxen Juden viele, die einen weltlichen Staat Israel aus theologischer Sicht konsequent ablehnen.
Ein Sonntag im April in Antwerpen, unweit des Stadtparks in einem koscheren Supermarkt. Für die meisten der Kunden beginnt nach dem Schabbat heute eine neue Woche. Junge Mütter in langen Röcken schieben Kinderwagen durch die engen Reihen. Zwei Ladenangestellte im traditionellem Outfit – schwarzer Anzug, weißes Hemd, Schläfenlocken, Kippa – kontrollieren die Warenbestände.
In Antwerpen gibt es 22 Synagogen und eine der größten ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels. Nach Israel überzusiedeln – das käme hier kaum jemandem in den Sinn. Vor allem aber nicht Rabbiner Yisroel. Seinen Nachnamen möchte er aus Sicherheitsgründen nicht im Radio hören.
"Israel inszeniert sich selbst als Nationalstaat des jüdischen Volkes. Das ist einfach falsch. 1948 kommen ein paar Leute zusammen, gründen einen Staat im Nahen Osten und behaupten dann, das sei der Staat von Millionen Menschen in Polen, England, Amerika und Frankreich. Das ist mehr als Betrug, das ist verrückt!"

"Sie sollen sich nicht gegen die Völker der Welt erheben"

Rabbiner Yisroel ist aus den USA nach Belgien gekommen. Der Mittvierziger arbeitet in einem Unternehmen, das die Produktion koscherer Lebensmittel kontrolliert. Seine Antwerpener Gemeinde steht in der Tradition der Satmarer Chassiden, einer besonders orthodoxen, nach außen streng abgegrenzten Community, in der die Einhaltung der 613 Mizwot der Halacha – der Ge-und Verbote der des jüdischen Gesetzes oberste Priorität genießt.
"An einer Stelle in der Tora heißt es: Wenn die Juden im Exil Reue zeigen und die Gebote wieder mit ihrem ganzen Herzen befolgen, wird der Allmächtige sie in das Land Israel zurückführen, aus dem sie vertrieben wurden. Das bedeutet nach der Erklärung der Propheten: Wenn der Messias erscheint. Im Talmud heißt es im Traktat Ketubot in Anlehnung an einen Vers aus dem Hohelied, dass der Allmächtige den Juden einen Eid abverlangt habe: Erstens - sie sollen sich nicht selbst aus dem Exil zu einem eigenen Staat aufmachen vor der Ankunft des Messias. Und zweitens: Sie sollen sich nicht gegen die Völker der Welt erheben.

Judentum und Zionismus strikt voneinander trennen

Rabbiner Yisroel möchte darüber aufklären, dass Judentum und Zionismus strikt voneinander zu trennende Dinge sind. Deshalb gibt er Interviews und betreibt auch die Internetplattform natruna.eu. Rabbiner Yisroel lehnt einen weltlichen Staat Israel, dessen Selbstverteidigung und dessen Siedlungspolitik auf Kosten der Palästinenser ab. Auch der Terminus "jüdischer Nationalismus" überzeugt ihn nicht.
"Der Begriff 'jüdischer Nationalismus' ist ein Widerspruch in sich. Es ist eine Neudefinition jüdischer Identität, indem man Judentum von einer Religion in eine Nationalität umdefiniert. Judentum ist keine Nationalität im modernen Wortsinn. Juden sind nur deshalb Juden, weil sie Gottes Gesetze akzeptieren, nicht weil sie ein gemeinsames Land oder eine gemeinsame Sprache haben. Die Idee des Zionismus ist ein Angriff auf unsere Religion und aus jüdischer Sicht eine Art Götzenanbetung."

"Ich trage eine Kippa, Netanjahu nicht."

Mit dieser Haltung steht Rabbiner Yisroel in der Welt der Ultra-Orthodoxie nicht allein. Natruna.eu ist eine europäische Schwesterorganisation der in den USA beheimateten TrueTorahJews. Dort ist es Rabbiner Yakoov Shapiro aus Queens/New York, der in Videobotschaften seinen Unmut über die israelische Regierung zum Ausdruck bringt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spricht er wahres Judentum ab.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einer Kabinettssitzung vor Flaggen seines Landes in Jerusalem.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: Er trage keine Kippa, kritisieren Ultra-Orthodoxe.© AFP / Ronen Zvulun / Pool
"Netanjahu hat keinerlei Recht zu behaupten, Israel sei mein Staat. Ich wurde in Amerika geboren, mein Vater wurde in Polen geboren, die Familie meiner Mutter ist aus England. Wir haben nichts mit Israel zu tun. Wir sind fromme Juden, wir sind religiös. Ich trage eine Kippa, Netanjahu nicht. Ich halte den Schabbat. Netanjahu nicht. Und Israel ist nicht im geringsten mein Staat."
Wir haben mit Israel nichts zu tun - diesem Satz stimmt auch Rabbiner Yisroel zu. Dass der Staat Israel für Tausende von jüdischen Überlebenden nach der Schoah zur Zufluchtstätte geworden ist, spielt für ihn keine Rolle.
"Erst mal benennen wir den Holocaust nicht mit zionistischen Begriffen, die dazu erfunden wurden, die Besetzung des Landes zu rechtfertigen und einen Staat auszurufen. Unsere Sicht auf die Dinge ist einfach: Im Verlauf unseres 2000 jährigen Exils haben wir viel Leid und Tod ertragen. Trotzdem erfreuten wir uns im Allgemeinen der Gastfreundschaft unserer Gastgeber, für die wir dankbar sind. Als religiöse Juden erkennen wir die Gebote des Allmächtigen in jeder Situation an."

Auch in Israel selbst leben antizionistische Juden

Micha Brumlik: "Die Satmarer Chassidim sind gegründet worden schon vor dem Holocaust - von Rabbi Yoel Teitelbaum, der die geschichtsphilosophische These vertreten hat, dass der Holocaust, also die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden Gottes Strafe für Zionismus und Assimilation gewesen sei."
Die Publizist und Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille Micha Brumlik folgt am 06.03.2016 in Hannover (Niedersachsen) dem Festakt zur Eröffnung der diesjährigen christlich-jüdischen Woche der Brüderlichkeit.
Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler im "Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg".© dpa / Hauke-Christian Dittrich
Micha Brumlik lehrt und forscht am Berliner Zentrum für Jüdische Studien zur Geschichte des Judentums und der Diaspora. Als deutscher Jude kann er Rabbiner Yisroels Sicht auf die Dinge nicht nachvollziehen:
"Der Zionismus war eine zeitgemäß nationalistische Reaktion auf den Judenhass und das hat sich dann natürlich nach dem zweiten Weltkrieg durch die Erfahrung der Ermordung von sechs Millionen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland verstärkt und heute sagen viele Jüdinnen und Juden, ob sie mehr oder weniger Antisemitismus erfahren, dass das im Zweifelsfall so etwas wie eine letzte Fluchtmöglichkeit ist, weil ja der Staat Israel allen Jüdinnen und Juden sofort bei Eintritt auf das staatliche Territorium die Staatsbürgerschaft gewährt."
Dass Juden, die den Staat Israel ablehnen, in den USA oder Antwerpen leben, klingt logisch. Aber auch in Israel gibt es sie. Micha Brumlik zeigt ein breites Spektrum unterschiedlicher ultra-orthoxer Positionen auf:
"Es gibt in Jerusalem die Gruppe Neturei Karta, die Wächter der Stadt, die strikt antizionistisch sind und an jedem Unabhängigkeitstag mit schwarzen Fahnen durch Jerusalem ziehen. Dann gibt es diese neueren Lubawitscher Chassidim, die den Staat grundsätzlich unterstützen, allerdings nicht so sehr aus theologischen, als, sagen wir, aus realpolitischen Gründen und dann gibt es die nationalreligiösen und die in der Tat zum Teil rechtsradikalen nationalreligiösen Siedler im Westjordanland, die glauben, dass die messianische Zeit in dieser Hinsicht bereits angebrochen hat – mit der Machtübernahme Israels im Westjordanland nach dem Krieg '67."

Die meisten Israelis definieren Judentum kulturell

Im Gegensatz zu diesen verschiedenen extremen religiösen Strömungen definiert gut die Hälfte aller jüdischen Israelis ihr Judentum vornehmlich kulturell: Durch die Herkunft, über die gemeinsame Geschichte, die hebräische Sprache und die gemeinsame Kultur. Das zeigt etwa eine Studie der Bertelsmannstiftung aus dem Jahr 2015.
Zugleich ist Israel bereits in vielem von den Vorstellungen orthodoxer und ultra-orthodoxer Parteien geprägt: So regeln religiöse Gerichte Ehe- und Scheidungsangelegenheiten. Am Schabbat ruht der öffentliche Nahverkehr fast vollständig. Öffentliche Kantinen bieten ausschließlich koschere Speisen an. Der Potsdamer Judaist Eik Dödtmann erforscht, welche Spannungen durch die wachsende Zahl ultra-orthoxer Juden, genannt Haredim, in Israel entstehen. Derzeit stellen sie etwa zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung, Tendenz steigend. Je religiöser der Staat werde, desto heftiger die Auseinandersetzungen, beispielsweise um die Wehrpflicht:
"Ist klar, weil die ultraorthodoxen Juden sagen: Soldat sein ist nicht jüdisch. Ich kann als junger Mann meine Religion nicht voll ausleben, wenn ich beim Militär bin und außerdem ist das Umfeld für mich schädlich. Das Umfeld garantiert mir zum Beispiel nicht, dass ich keinen direkten Kontakt mit Frauen haben muss, das Umfeld garantiert mir nicht, dass ich den Shabbat halten kann... dass ich immer die perfekt koschere Küche dort anfinde."

Gendergerechtigkeit mit Halacha schwer vereinbar

Auch moderne Vorstellungen von Gendergerechtigkeit seien mit der Halacha schwer vereinbar, sagt Dödtmann, denn nach traditionellen Vorstellungen sollen Frauen früh heiraten, viele Kinder bekommen und sich um einen streng nach den Glaubensregeln geführten Haushalt kümmern:
"Gerade die Ultraorthodoxen würden es unterstützen, wenn die Halacha, quasi vergleichbar mit der Scharia im Islam Staatsgesetz wird, nach dem man sich zu richten hat."
Aber nicht einmal ein Staat Israel, dessen Gesetz die Halacha ist, würde vermutlich Rabbiner Yisroel und seine Anhänger ins gelobte Land locken. Dazu muss für ihn der Messias erscheinen. Deswegen heißt seine Webseite auch natruna.eu
Rabbiner Yisroel: "Es ist ein aramäisches Wort und basiert auf einem Satz aus dem Talmud, in dem es heißt: ‚Erlösung gibt es für die Juden nur als Belohnung für das Warten.’"
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