Ulrike Ulrich: "Während wir feiern"

Die einen amüsieren sich, die anderen sterben

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Ulrike Ulrich: "Während wir feiern"
Ein Buch, das Unbehagen verursacht: "Während wir feiern" von Ulrike Ulrich. © Piper / Deutschlandradio Kultur
Von Carsten Hueck · 16.07.2020
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Während auf einer Züricher Dachterrasse eine Party steigt, kämpft ein Geflüchteter im Fluß um sein Leben. Der neue Roman von Ulrike Ulrich zeichnet ein Gesellschaftspanorama, das jedes selbstzufriedene Wir-Gefühl als Lüge entlarvt.
Größer könnten die Gegensätze kaum sein: Da ist auf der einen Seite die erfolgreiche Sängerin Alexa, die am Morgen des Schweizer Nationalfeiertags vor der Aufgabe steht, für den Abend eine Party zu organisieren. Und auf der anderen Seite ist Kamal, ein junger Tunesier, der gerade den endgültigen Bescheid zum Verlassen der Schweiz erhalten hat.
Während Kamal fieberhaft überlegt, wie er der drohenden "Ausschaffung" entgehen kann, denkt Alexa an die Gestaltung der Dachterrasse, an Lichterketten, Bierbänke und die richtige Anzahl von Ananasstückchen für die Hawaii-Bowle. Und sie muss noch das Guggisberglied proben – ein populäres Schweizer Volkslied, das sie mit sozialkritischem Text versehen am Abend vortragen will.

Vielstimmiger Bewusstseinsstrom

Ulrike Ulrich versammelt eine Vielzahl an Figuren in ihrem neuen Roman, der sich als vielstimmiger Bewußtseinsstrom über knapp 270 Seiten erstreckt - zeitlich jedoch nur über einen Tag.
Es ist ein bisschen wie in den Filmen "Short Cuts" oder "Magnolia" - die Figuren begegnen einander, ihre Leben berühren sich an diesem einen Tag auf erwartbare oder überraschende Weise. Manche sind ohnehin verbunden, andere bekommen eine gemeinsame Geschichte, lösen einander ab, oder sich auf.
Fließend sind die Übergänge einzelner Abschnitte, jede Person bringt eine jeweils eigene Perspektive auf Vergangenes oder gerade Geschehendes mit.

Nette Menschen mittleren Alters

Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" liefert erkennbar die formale Vorlage für diesen Roman. Ulrike Ulrich übernimmt, fast einhundert Jahre nach Erscheinen des damals "experimentellen" Romans von Woolf, dessen Struktur. Sie variiert die Figurenkonstellation und transponiert die Londoner Nachkriegsgesellschaft in die Schweizer Wohlstandsgesellschaft unserer Tage.
Hier wie dort ist Anspannung und Verdrängung, Nervosität und Desorientierung spürbar. Bei Woolf aufgrund eines zurückliegenden Traumas, hier mit feinem Gespür für bevorstehende Katastrophen.
Der Leser erfährt etwas über Krisen, Sehnsüchte, akute Lebenssituationen einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Es sind meist nette Menschen im mittleren Alter: Alexas Lebenspartner ist Arzt, ein plötzlich hereinplatzender Ex-Lover ist Schauspieler und Fotomodell, eine prominente Schriftstellerin ist dabei, eine Dramatikerin, ein schwules Paar, ein verliebter Halbwüchsiger, ein in der Flüchtlingshilfe engagierter Lehrer.

Luxusprobleme versus Lebensgefahr

Und doch: "Während wir feiern" verursacht Unbehagen. Wer solche Bücher liest, kennt die dort abgebildeten Menschen. Die Luxusprobleme wohlstandssatter Scheidungskinder, das selbstgefällige Engagement gegen Rechts, die Luxusprobleme mit dem Styling, Gedanken über Wechseljahre und Beziehungen, das Gelaber über Kultfilme. Alles Deko.
Denn direkt daneben geht es Menschen an den Kragen. Kamal ist in Lebensgefahr, seine Existenz ist definitiv eine andere als die der versammelten Partygäste und ihrer Gastgeberin, die als Deutsche zwar noch nicht eingebürgert ist, aber garantiert nicht "ausgeschafft" wird und in ihrem Herkunftsland mit Gefängnis und Tod bedroht ist.
Und das macht diesen intelligenten, gut geschriebenen Roman problematisch – auch wenn er kritisch die westliche Partygesellschaft zeichnet, steht sie in ihrer lampionilluminierten Erbärmlichkeit doch im Mittelpunkt. Wer dort zuhause ist, kann die Geschichte des anderen, der nur einen Rucksack und seine Angst besitzt, nicht erzählen.

Ulrike Ulrich: "Während wir feiern"
Berlin Verlag, Berlin 2020
269 Seiten, 22 Euro

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