Samstag, 20. April 2024

Archiv

US-Präsidentschaftswahl
"Trump wäre in einer zweiten Amtszeit völlig ungehemmt"

Bei der US-Präsidentschaftswahl gehe es nicht nur um die amerikanische Demokratie, sagte der langjährige Harvard-Politikwissenschaftler Karl Kaiser im Dlf. Es gehe auch um die Zukunft Westens - bei einer Wiederwahl Trumps drohe die Zerstörung der Nachkriegsarchitektur.

Karl Kaiser im Gespräch mit Klaus Remme | 01.11.2020
Wahlveranstaltung mit US-Präsident Donald Trump am 30. Oktober 2020 in Rochester, Minnesota
Der Politologe Karl Kaiser hält im Falle einer Wiederwahl des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump die Gefahr von Unruhen für real (AFP / Getty Images North America)
Vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl am Dienstag spricht Karl Kaiser, ehemaliger Politikberater sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen und langjähriger Politikwissenschaftler an der Harvard Universität, von einer "Entscheidungsschlacht".
Noch nie habe so viel von einer Entscheidung der amerikanischen Wähler abgehangen, wie dieses Mal, so Kaiser, noch nie habe er eine solche Mobilisierung gesehen, der alle Präsidentschaftswahlen seit der Entscheidung für John F. Kennedy, 1960, beobachtet hat.
Wiederwahl Trumps könnte tiefgreifende Folgen haben
Für den Fall einer zweiten Amtszeit von Donald Trump befürchtet Kaiser eine Zerstörung der politischen Nachkriegsarchitektur. "Ein Trump in einer zweiten Amtszeit wäre völlig ungehemmt und würde Dinge tun, die er jetzt nicht zu tun wagt obwohl er sie gern tun würde".
Als Beispiel nannte Kaiser einen möglichen Austritt aus der NATO. Die schlichte Tatsache, dass er diesen Schritt unter Umständen ergreift, würde im transatlantischen Verhältnis "tiefgreifende" Folgen haben, so Kaiser weiter.
Das Bild zeigt die amerikanische Flagge, Dossier zur US-Wahl 2020 
Kaiser: Gefahr von Unruhen ist real
Kaiser rechnet allerdings mit einer "relativ klaren Mehrheit" für Joe Biden. "Was leider nicht bedeutet, dass er notwendigerweise im Januar im Weißen Haus sein wird". Trump habe bisher alles getan, um die Legitimität dieser Wahl in Frage zu stellen. "Es bleibt nur zu hoffen, dass die amerikanischen Institutionen funktionieren", warnte Kaiser.
Die Gefahr von Unruhen im Falle einer Niederlage Trumps sei real. Es bestehe auch die Gefahr, dass einige die bewaffneten Pro-Trump Gruppen versuchen, Wähler von der Wahl abzuhalten. Es gebe auf der anderen Seite aber auch eine gewaltige Gegenbewegung, so Kaiser - "im ganzen Land werden gewaltlose Demonstrationen vorbereitet."
US-Präsident Donald Trump von den republikanern und sein Herausforderer, der frühere US-Vize-Präsident Joe Biden während der ersten TV-Debate auf einem Smartphone-Bildschirm. Im Hintergrund eine Karte der USA.
US-Präsidentschaftswahl: Der Kampf um die Swing States
Swing States spielen seit jeher eine große Rolle bei den US-Präsidentschaftswahlen: Sie sind Hauptaustrageorte der Wahlkämpfe und können Wahlen entscheiden.

Das Interview im Wortlaut:
Klaus Remme: Übermorgen entscheiden Millionen von Wählern über den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Unsicherheiten sind gewaltig. Weder steht fest, wer das Rennen macht, noch ob die Entscheidung darüber, wer am 20. Januar als Präsident vereidigt wird, am Dienstag fällt oder durch Auszählungen etwa von Briefwählern später. Es ist auch unklar, ob diese Wahl ein gerichtliches Nachspiel haben wird, ob der Amtsinhaber eine Niederlage freiwillig einräumen würde, und auch darüber, was eine zweite Amtszeit von Donald Trump oder ein Machtwechsel im Weißen Haus nach sich ziehen würde, gibt es völlig unterschiedliche Ansichten.
Karl Kaiser ist Politikwissenschaftler und ehemaliger Politikberater, der seit weit über 50 Jahren Erfahrungen hat mit den transatlantischen Beziehungen. Als er zum ersten Mal als Wissenschaftler an der Harvard Universität arbeitete, war beispielsweise der amtierende Bundesaußenminister noch gar nicht geboren. Heute unterrichtet Karl Kaiser, Jahrgang 1934, immer noch in Harvard. Gelegenheit also, jenseits des tagesaktuellen Geschäfts auf die langen Linien der deutsch-amerikanischen Beziehungen zu schauen.
Herr Kaiser, welches ist die erste amerikanische Präsidentschaftswahl, die Sie persönlich in guter Erinnerung haben?
Karl Kaiser: In bester Erinnerung natürlich die Wahl von John F. Kennedy und dann seine Ermordung, die uns sehr bewegt hat und die ja in Deutschland damals eine riesige Reaktion erzeugt hat.
"Es geht jetzt um die Zukunft der amerikanischen Demokratie"
Remme: Und seitdem haben Sie viele amerikanische Präsidenten kommen und gehen sehen. Wie schauen Sie auf diesen Wahltag? Ist da noch Aufregung? Ist da Spannung? Ist da Neugierde oder ist da Sorge?
Kaiser: Also, bei dieser Wahl geht es um wesentlich mehr als eine Richtungsentscheidung wie in den vergangenen Wahlen. Es geht jetzt um die Zukunft der amerikanischen Demokratie, um die Zukunft des Westens, um die Zukunft der internationalen Politik und noch nie hat so viel von einer Entscheidung der amerikanischen Wähler abgehangen wie bei dieser Wahl, und das spürt man auch. Noch nie habe ich eine solche Mobilisierung gesehen wie in dieser Wahl. Das ganze Land ist geradezu aufgewühlt. Beide Parteien mobilisieren, beide mobilisieren in großem Ausmaß und offenkundig bringt dies auch zum Ausdruck, dass beide Seiten das Gefühl haben, es geht um wesentlich mehr als nur eine Richtungsentscheidung.
Remme: Das ist ja eine Floskel im Pflichtkatalog der Kandidaten, wenn sie fast bei jeder Wahl sagen: Das ist die wichtigste Wahl ihres Lebens. Das heißt, diese Floskel hat in diesem Jahr ihre Berechtigung?
Kaiser: In diesem Jahr sicherlich mehr als in der Vergangenheit. Man sieht es auch in den Umfragen. 70 Prozent aller Demokraten glauben, dass Trump zur Diktatur führt und 80 Prozent aller Republikaner glauben, dass Biden ein sozialistisches Regime errichten wird. Das Land ist also tief polarisiert und deshalb geht die Entscheidung eben um Grundsätzliches, auch im Gefühl der Wähler.
Ein Mann steht mit Maske am 24.10.2020 an einer Wahl-Station im Madison Square Garden in New York City
Wie COVID-19 die US-Wahl beeinflusst
Viele bescheinigen US-Präsident Donald Trump eine verheerende Bilanz, die sich besonders in der Corona-Krise zeigt. Die Pandemie trifft auf ein marodes Gesundheitswesen, das schon unter Normalumständen überfordert ist.
Remme: Wir haben ja in den letzten Wochen und Monaten gerade mit Blick auf Amerika auch viel über Demokratiekultur gesprochen. Die ersten Zahlen deuten darauf hin, dass die Beteiligung an dieser Wahl Rekordhöhen erreicht. Ist das dann unstrittig zunächst einmal ein gutes Zeichen?
Kaiser: Zuerst einmal ist das ein gutes Zeichen und wir, die wir europäische Geschichte im Gepäck haben, wissen, dass es manchmal um Entscheidungsschlachten geht und dies ist eine Entscheidungsschlacht, die hier geführt wird, und so gesehen ist die Wahlbeteiligung auch Ausdruck der Wahrnehmung, dass es um mehr geht, und Biden hat interessanterweise auch seine Strategie darauf eingerichtet. Er richtet in den Mittelpunkt weniger die Diskussion um irgendwelche Fragen, die hier im Kulturkampf eine große Rolle spielen, er entideologisiert sozusagen. Er stellt sich dar als derjenige, der das Wesen der amerikanischen Demokratie erhalten will, den Respekt vor dem anderen, den Dialog zwischen den Parteien. Das heißt, er ist in dieser Hinsicht der absolute Gegen-Trump, der genau auf den Unterschied hin arbeitet und Furcht schafft, den Rassismus fördert, den Antisemitismus.
Ein Präsident Biden wird große innenpolitische Probleme lösen müssen
Remme: Wenn wir auf Donald Trump schauen, Herr Kaiser, er ist jetzt fast vier Jahre Präsident. Kaum einer hatte den Wahlsieg vorausgesehen. Viele zweifelten danach, dass er eine Amtszeit durchhalten würde. Wenn wir zunächst auf die inneramerikanischen Verhältnisse schauen, welchen Schaden hat Donald Trump als Präsident verursacht?
Kaiser: Natürlich steht die Inkompetenz in der Handhabung des Corona-Virus im Vordergrund. Mittlerweile sind 220.000 Menschen gestorben, neun Millionen sind infiziert. In diesen Tagen steigt die Infektionsrate dramatisch an mit Raten, die man auch in Europa nicht gesehen hat. Das heißt, es wird noch viel schlimmer werden. Dies wird einen tiefen, tiefen Schaden verursachen in der amerikanischen Ökonomie, im Gesellschaftssystem, alles Fragen, die dann anschließend ein Biden, wenn er gewählt wird, zu lösen hat. Hinzu kommt, dass er an vielen Stellen der amerikanischen Demokratie Schaden angerichtet hat, nicht nur, indem er das Gesetz missachtet, dass er die Regeln der amerikanischen Demokratie beiseite gelegt hat, dass er die gesamte Administration mit ihm hörigen Menschen durchsetzt hat, sondern dass viele der Regeln, die in der vorherigen Administration etabliert worden waren, die hat er umgelegt, die hat er verändert, also, zum Beispiel auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wo er alte Regeln einfach aufgehoben hat. Alles dies wird ein Biden, wenn er Präsident wird, zu regeln haben, und deshalb wird ein Biden, wenn er gewählt wird, gewaltige Energien auf die Lösungen der innenpolitischen Probleme richten müssen.
Remme: So viel und so umfangreich dieses Pflichtenheft von Joe Biden dann wäre, es würde ja zumindest Hoffnung geben, wenn es eine Chance gibt, dass er diesen Schaden reparieren kann. Deshalb die Frage, ist das, was Trump auch gesellschaftlich angerichtet hat, möglicherweise schon irreparabel?
Kaiser: Schwer zu sagen, es wird in jedem Fall lange dauern, bis diese Schäden beseitigt werden. Man überlege einmal, was es bedeutet, dass Millionen von Menschen nunmehr gesundheitliche Schäden haben, dass das Erziehungssystem einen tiefen Einschnitt gehabt hat, der irgendwo dann auch langfristig sichtbar wird. Das wird Jahre dauern, bis dies beseitigt wird und die überfälligen Reformen, die er am Anfang ja auch versprochen hatte, zum Beispiel des amerikanischen Infrastruktursystem, das in einem katastrophalen Zustand ist, auch diese müssen angegriffen werden. Das wird gewaltige Ressourcen erfordern. Unmöglich ist nichts, aber es wird länger dauern.
Trumps Amtszeit: "Inneramerikanisch nirgendwo einen positiven Effekt"
Remme: Herr Kaiser, hat diese Präsidentschaft inneramerikanisch irgendetwas zum Guten hin bewegt?
Kaiser: Inneramerikanisch nichts, er hat nur Schaden angerichtet, außenpolitisch hier und dort einige Erfolge, aber inneramerikanisch sehe ich nirgendwo einen positiven Effekt.
Remme: Ein Teil der Außenpolitik sind natürlich die transatlantischen Beziehungen, aus der Sicht von Donald Trump vielleicht nicht der wichtigste Aspekt. Die Tonlage Trumps insbesondere immer wieder gegenüber Deutschland war brüsk, die Vorwürfe massiv. Sehen Sie einen Grund für die oftmals spezifisch antideutsche Tonlage des Präsidenten?
Kaiser: Er sucht natürlich Vorwände, er hat wie seine Vorgänger übrigens den relativ niedrigen deutschen Verteidigungsbeitrag zum Anlass genommen, aber darum ging es weniger. Es ist ein Anlass, es ist nicht die Ursache seines gebrochenen Verhältnisses zu Deutschland. Es hat einiges zu tun mit seiner Ablehnung der Rolle Deutschlands in der Europäischen Union, überhaupt seine Ablehnung der Europäischen Union, denn er hat nie verstanden, was die europäische Integration in der Geschichte Europas bedeutet. Er hat auch ein Problem mit der Kanzlerin, wie er mit allen starken Frauen hat. Das spiegelt sich sogar in der amerikanischen Innenpolitik wider, wo er starke Frauen bekämpft. Also, das Verhältnis zu Deutschland ist sicherlich ein wichtiges Verhältnis im Rahmen der Beziehung zu Europa, aber ihm geht es um mehr. Er hat kein Verhältnis zu den Alliierten. Er hat es nie verstanden, dass amerikanische Macht durch ein kooperatives Verhältnis mit Alliierten erhöht wird. Er zieht es vor, mit Diktatoren ein enges Verhältnis zu haben und nicht mit Verbündeten.
Keine Fehler auf europäischer Seite gegenüber Trump-Administration
Remme: Hat die Bundesregierung, Sie haben selbst vor Jahren Kanzler beraten, hat die Bundesregierung aus Ihrer Sicht im Umgang mit Donald Trump in diesen vier Jahren Fehler gemacht? Sehen Sie eine erfolgreiche Lernkurve? Man hat ja unterschiedliche Ansätze versucht im Umgang mit diesem Präsidenten.
Kaiser: Die Bundesregierung wie auch beispielsweise Macron in Frankreich haben verschiedene Wege versucht. Es war richtig von der Bundeskanzlerin, nach allem was Trump im Wahlkampf gesagt hat, dass sie gleich zu Beginn betonte, dass die transatlantischen Beziehungen auf der alten Grundlage weitergeführt werden sollen. Das ist nicht gelungen, weil es mit Trump nicht möglich war und von daher gesehen sehe ich eigentlich keine Fehler auf der deutschen oder der europäischen Seite, außer dass man vielleicht zu spät versucht hat, auf europäischer Seite stärker den Zusammenhalt zu pflegen und das zu tun, was jetzt im Rahmen der Maßnahmen gegen COVID-19 schließlich gelang, wo Deutschland endlich das Tabu brach und dazu beigetragen hat, anderen Mitgliedern der Europäischen Union zu helfen. Das hätte vielleicht früher geschehen können, aber es ist nun endlich geschehen.
Trump stellt "transatlantisches Verhältnis im Prinzip infrage"
Remme: Herr Kaiser, Sie werden sicherlich viele Höhen und Tiefen im deutsch-amerikanischen Verhältnis erinnern. In den 70ern krachte es zwischen Helmut Schmidt und Jimmy Carter. Ein Ronald Reagan galt vielen Deutschen in den 80ern als Kriegstreiber, ein George Bush in den 90ern. Sie sagen, diese Krise ist eine andere.
Kaiser: Diese Krise geht tiefer, weil wir zum ersten Mal einen amerikanischen Präsidenten haben, der das transatlantische Verhältnis im Prinzip infrage stellt, der also die Gemeinsamkeit der Interessen nicht mobilisiert. Das würde sich ändern, wenn Biden gewählt wird.
Remme: Erinnern Sie eine Periode, aus der man im Moment lernen kann oder sind wir angesichts des Aufstiegs von China, der Digitalisierung, dem Populismus nicht doch eigentlich in absolutem Neuland?
Kaiser: Das Neuland ist in der Tat vorhanden. Wir sind inmitten tektonischer Veränderungen der Geopolitik. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es schon einmal eine Phase der Neudefinition, aber was jetzt passiert, geht viel tiefer, weil wir es zu tun haben mit dem Aufstieg einer autoritären Weltmacht, nämlich Chinas, und zwar unter Bedingungen, die anders sind als in der Vergangenheit, als die Sowjetunion und die USA einander gegenüberstanden. Jetzt ist es ein China, das Gegner, Rivale und zugleich Partner in einem sehr, sehr schwierigen Verhältnis ist , wo man nicht nur der chinesischen Expansion entgegentreten muss, sich mit dem autoritären System auseinandersetzen muss, sondern wo es nötig wird, China als Partner zu gewinnen im Kampf gegen die Pandemie und vor allem in der Klimapolitik. Das sind Fragen, die sich in der Vergangenheit im Ost-West-Verhältnis so nicht gestellt haben. Hinzu kommt die gesamte Frage des Umgangs miteinander im Felde der Cyberpolitik, wo völlig neue Probleme auftauchen, die es im alten Ost-West-Verhältnis nicht gegeben hat, wo neue Regelungen gesucht werden müssen und schließlich die nukleare Frage ist ja nicht gelöst. China rüstet gewaltig auf auf diesem Gebiet und nimmt nicht teil an irgendwelchen Rüstungskontrollmaßnahmen, so wie es die Sowjetunion und die USA in der Vergangenheit getan haben. Also, hier ist ein riesiges neues Kapital der Weltpolitik der kommenden Jahre.
"Bleibt zu hoffen, dass die amerikanischen Institutionen funktionieren"
Remme: Herr Kaiser, einer aktuellen Umfrage der Atlantik-Brücke zufolge rechnen die Deutschen etwa zu gleichen Teilen mit einem Wahlsieg Donald Trumps oder Joe Bidens. Wir alle wissen ja seit 2016 um die Gefahr falscher Prognosen. Trauen Sie sich eine zu?
Kaiser: Ja, beim jetzigen Stand würde ich sagen, wird Biden eine relativ klare Mehrheit haben, was leider nicht bedeutet, dass er notwendigerweise im Januar im Weißen Haus sein wird, denn Trump hat bisher alles getan, um die Legitimität dieser Wahl infrage zu stellen, nicht nur durch die Sabotage der Post, durch einen von ihm eingesetzten "Post Master", sondern vor allem, indem er tagtäglich infrage stellt, dass die Wahl per Brief legitim ist und dass Irregularitäten auftauchen, indem er seine republikanischen Kollegen, die Gouverneure in den Bundesstaaten, veranlasst, ihm zur Seite zu treten. Also diese Frage bleibt offen und es bleibt nur zu hoffen, dass die amerikanischen Institutionen funktionieren.
Remme: Wie groß ist die Gefahr, von der wir auch hören und lesen, dass die Schockwellen in dieser Wahl bei Anhängern der einen oder der anderen Seite in den USA aus dem Ruder laufen und zu Unruhen führen?
Kaiser: Die Gefahr ist eindeutig. Trump selbst hat seine Basis aufgerufen, bereitzustehen. Es gibt eine Vielfalt von Gruppen, die bewaffnet sind. Es besteht durchaus Anlass zu befürchten, dass einige dieser Gruppen versuchen, Wähler von der Wahl abzuhalten oder unter Umständen, wenn er die Wahl verliert, dass sie auf die Straße gehen. Das wird sich zeigen. Die Gefahr ist eindeutig da. Auf der anderen Seite gibt es dann aber auch eine gewaltige Gegenbewegung praktisch im ganzen Lande, werden gewaltlose Demonstrationen vorbereitet, die dann dagegen argumentieren würden und dagegen handeln würden.
"Integration der transatlantischen Wirtschaft ist stärker"
Remme: In einer möglichen zweiten Amtszeit, wenn wir einmal auf die beiden möglichen Optionen dieser Wahl schauen, in einer zweiten Amtszeit Donald Trumps müsste ja dieser keine Rücksicht mehr auf eine Wiederwahl nehmen. Wie gefährlich wäre das für die transatlantischen Beziehungen?
Kaiser: Ein Trump in einer zweiten Amtszeit wäre völlig ungehemmt und würde Dinge tun, die er jetzt nicht zu tun wagt, obwohl er sie gerne tun würde, unter Umständen der Austritt aus der NATO. Er hat ja mit dem Gedanken gespielt, wurde aber von seinen Beratern mit Mühe davon abgehalten. Selbstverständlich wird der Kongress versuchen, dies zu verhindern, aber die schlichte Tatsache, dass er diesen Schritt unter Umständen ergreift, würde tiefgreifende Folgen haben im transatlantischen Verhältnis. Sein Umgangsstil, was die Handelspolitik angeht, wird schärfer werden, zweifellos. Die Schwierigkeiten werden auf diesem Gebiet zunehmen. Das heißt, das transatlantische Verhältnis wird dann vor Fragen stehen, die sich zwar in Ansätzen jetzt schon stellen, aber die Ausmaße annehmen werden, die sehr schwer zu handhaben sein werden und man kann nur hoffen, dass genügend Kräfte auf beiden Seiten, also im amerikanischen Kongress, in der amerikanischen Innenpolitik und in Europa, vorhanden sein werden, die darauf achten, dass nicht alles zerstört wird, was in der Nachkriegszeit aufgebaut wurde.
Remme: Aber welchen Rat haben Sie für diesen Fall für die Europäer? Ich habe den Eindruck, was immer an Resilienz da war, ist weitgehend aufgebraucht. Bald wird es keine Angela Merkel mehr geben und ein Macron wird demnächst um seine Wiederwahl kämpfen müssen.
Kaiser: Das ist alles richtig, aber die sozialen und ökonomischen Realitäten bleiben ja bestehen. Die Integration der transatlantischen Wirtschaft ist stärker als die Integration mit allen anderen Wirtschaften, ob das nun USA/China ist oder Europa/China. Dies wird erst einmal bleiben und die Verbindung der Menschen zueinander, die ja in den letzten Jahren sehr intensiv geworden ist, bleibt auch bestehen. Das heißt also, wenn diese Situation eintritt, dann müssen sich vernünftige Kräfte auf beiden Seiten des Atlantik finden, die dann versuchen, die vier Jahre, die dann kommen, zu überwintern.
"Biden wird vor einem Scheiterhaufen stehen"
Remme: Herr Kaiser, was ist das größte Risiko, das mit der Wahl von Joe Biden verbunden ist? Er ist alles andere als ein perfekter Kandidat gewesen und er wird auch kein perfekter Präsident sein.
Kaiser: Sein größtes Problem wird sein, die innenpolitischen Probleme Amerikas zu lösen. Ob das nun das Gesundheitssystem ist oder die Ökonomie oder die Infrastruktur, das wird gewaltige Ressourcen absorbieren und seine Aufmerksamkeit. Mit Recht ist gesagt worden, dass nicht zuletzt aus diesem Grunde die USA nicht mehr so präsent sein werden in der Weltpolitik wie in der Vergangenheit. Dennoch wird eine Biden-Administration eine ganz andere Außenpolitik verfolgen als eine Trump-Administration, aber Biden wird vor einem Scheiterhaufen stehen, den Trump ihm hinterlässt und den muss er aufräumen.
Remme: Wir haben ja die Vorwahlen noch in guter Erinnerung. Es war nicht ganz einfach, einen Kandidaten der Demokraten zu finden. Kann man dem, wie nenne ich das mal, Personal rund um Biden, in der demokratischen Partei, wenn es jetzt um die Aufstellung einer Mannschaft im Falle eines Wahlsiegs geht, vertrauen? Ist da ausreichend Tiefe?
Kaiser: In der Demokratischen Partei gibt es eine Vielfalt von sehr erfahrenen Persönlichkeiten, aus der letzten Administration, ein Heer von Experten, die geparkt sind in Instituten und in Universitäten, die alle nur darauf warten, in diese Administration einzusteigen. Ich sehe da eher eine positive Veränderung, die kommen wird, wenn man auf die jetzige Administration schaut, die Schwierigkeiten hat, noch qualifizierte Menschen zu finden, nachdem Trump so viele erfahrene Persönlichkeiten praktisch gefeuert hat. Also, das ist nicht das Problem der Administration. Das Problem der nächsten Administration ist einfach die Vielfalt der Probleme, die sie zu lösen hat nach dieser katastrophalen Amtsperiode von Präsident Trump.
"Die Republikanische Partei befindet sich in einer tiefen Krise"
Remme: Und wenn wir auf die Republikaner schauen, Herr Kaiser, ich erinnere, der Wahlsieg Barack Obamas verhalf den Republikanern 2010, zwei Jahre nach der Wahl, bei den Kongresswahlen ganz, ganz schnell zu neuer Stärke. Können die Republikaner im Falle einer Niederlage Trumps erneut auf einen so schnellen Pendelrückschlag hoffen?
Kaiser: Die Republikanische Partei befindet sich in einer tiefen Krise. Demographisch ist sie im Grunde genommen jetzt schon eine Minderheitspartei und nur die Überrepräsentierung der Republikaner auf der Ebene der Bundesstaaten und zum Teil auch im Senat hat dies verdeckt. Eine Niederlage Trumps würde diese Krise offenlegen. Es gibt jetzt schon in der Republikanischen Partei einen erheblichen Widerstand. Es gibt eine Gegenbewegung, auch die Geldgeber laufen weg. Eine Niederlage Trumps würde zu einer Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei führen, eine Reform einzuleiten. Wo sie enden wird, weiß ich nicht, aber die klassische Republikanische Partei gibt es nicht mehr. Sie wurde usurpiert von Trump, und vielen Kräften in der Republikanischen Partei ist klar, dass dies keine Zukunft hat und dann kommt ein Neubeginn, und sollte ein Biden gewählt werden, dann wird sich eine Bewegung wahrscheinlich bilden, die Republikanische Partei zu erneuern.
Demokaten brauchen mehr Senatssitze
Remme: Herr Kaiser, eine amerikanische Präsidentschaftswahl hat einen milliardenschweren Vorlauf. Die Umfragen und Daten stapeln sich. Man kann die politische Landkarte des Landes als Ganzes sehen. Man kann sich einzelne Bundesstaaten anschauen, einzelne Wählerschichten. Für diejenigen von uns, die an diesem Wochenende erst so richtig einsteigen und sich informieren wollen, auf welche Erhebung, welche Daten, welche Entwicklung haben Sie in den vergangenen Wochen besonders geachtet?
Kaiser: Ich schaue besonders auf den Senat und ich empfehle, dies im Auge zu behalten, denn wenn nicht im Senat eine Mehrheit der Demokraten zustande kommt, wird auch ein Biden-Sieg das Problem nicht lösen, sondern er wird dann große Schwierigkeiten haben. Also, wenn es den Demokraten gelingt, einige Senatssitze zu gewinnen, also den Republikanern abzunehmen, dann hat Biden auch die Möglichkeit, eine Reformpolitik zu implementieren und sowohl in der Außen- wie in der Innenpolitik eine vernünftige Politik umzusetzen.
Remme: Und was raten Sie den Politik-Junkies auf dieser Seite des Atlantiks in der Wahlnacht, wach bleiben bis zu den Ergebnisse an der Westküste oder kann man sich nach dem Ergebnis für Florida eine Mütze Schlaf holen?
Kaiser: Also, es wird schon einiges sichtbar werden noch in der Wahlnacht. Insofern, das Endergebnis wird offen sein, aber ein Hinweis wird schon wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale sichtbar werden.
Remme: Interpretiere ich das richtig zum Schluss, Herr Kaiser, auch nach diesen vier Jahren Trump, ich höre in Ihrer Stimme auch Optimismus?
Kaiser: Ein wenig schon.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.