Ulrike Guérot zum EU-Gipfel

"Wir brauchen ein ganz anderes Europa"

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot
Die Politologin und Publizistin Ulrike Guérot © imago stock&people
Ulrike Guérot im Gespräch mit Dieter Kassel  · 28.06.2018
Akuten Handlungsbedarf, um das Europäische Projekt zu vollenden, sieht die Politologin und Publizistin Ulrike Guérot. Vor dem EU-Gipfel in Brüssel zeigt sie sich angesichts der gleichzeitigen Krisen und der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten tief besorgt.
"Wir brauchen ein ganz anderes Europa, ganz andere Grundlagen, andere parlamentarische Demokratie", forderte die Politologin und Publizistin Ulrike Guérot angesichts des EU-Gipfels in Brüssel im Deutschlandfunk Kultur. Es gehe nicht mehr um Mitgliedsstaaten oder um bilaterale Formate oder um Deutschland und Frankreich.
Es gehe um die Vollendung des politischen Projekts. "Wenn wir das jetzt nicht vollenden, dann könnte es sein, dass wir einen hohen Preis bezahlen, nämlich dass wir auch die Währung und den Markt auf Dauer nicht erhalten, weil natürlich wir wirklich Morosität im System haben, also wirklich morsche Balken." Deshalb gebe es ganz akuten Handlungsbedarf, sagte Guérot.

EU-Gipfel in Brüssel

Am heutigen Donnerstag beginnt in Brüssel ein zweitägiger EU-Gipfel, bei dem es unter anderem um eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage gehen soll. Kommt diese Lösung nicht zustande, will Bundesinnenminister Seehofer im Alleingang Grenz-Zurückweisungen anordnen. Und das könnte Auswirkungen auf die Große Koalition haben.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Es geht zwar um mehr als nur um Asylpolitik auf dem heutigen Ratstreffen der EU, also dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, aber allein da, beim Thema Asylpolitik und Umgang mit Flüchtlingen ist überhaupt keine Einigung in Sicht. Insofern stellt sich schon die Frage, wie viel Zeit wird man für andere Themen überhaupt noch haben. Und es stellt sich die Frage, wie geht's eigentlich weiter mit der Union, die so lange schon über ein Thema diskutiert, ohne Ergebnisse zu erzielen.
Wir wollen darüber mit Ulrike Guérot reden. Sie leitet das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Universität Krems, gründete vor vier Jahren das European Democracy Lab mit Sitz in Berlin, und interessant ist auch ihre jüngste Bibliografie. Sie hat 2016 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Warum Europa eine Republik werden muss" und ein Jahr später dann ein weiteres mit dem Titel "Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde". Schönen guten Morgen, Frau Guérot!
Ulrike Guérot: Guten Morgen!
Kassel: Angesichts dessen, was uns jetzt bei diesem Gipfel bevorsteht, geben Sie mir doch mal eine präzise Antwort: Was hält im Juni 2018 die Europäische Union eigentlich noch zusammen?
Guérot: Nicht mehr viel. Wirklich nicht mehr viel, und das merken jetzt halt alle, und deswegen ist ja die Unruhe im System so groß. Und wir wissen ja noch nicht mal, ob dieses Wenige ausreicht, die deutsche Regierung zu sichern. Wir wissen ja nicht, was am Sonntagabend passiert.
Kassel: Ich habe schon vor einer ganzen Weile, es ist über ein Jahr her, ein Gespräch mit einem slowakischen Politiker geführt, den ich wirklich gefragt habe, ob das eine Wirtschaftsgemeinschaft ist für ihn – wie sie ja früher auch mal hieß, die EWG –, oder mehr als das. Und der sagte ganz klar, für mich ist es nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Haben wir anderen, die das anders gesehen haben, vielleicht manches jahrelang missverstanden?
Ein Mann greift sich verzweifelt an den Kopf, über ihm schwebt der Kranz mit den 12 EU-Sternen (Illustration).
Ein Mann greift sich verzweifelt an den Kopf, über ihm schwebt der Kranz mit den 12 EU-Sternen (Illustration).© imago stock&people / Jonathan McHugh
Guérot: Das ist ein großes Problem zwischen ich sag mal der Narration in Ost- und in Westeuropa. In Westeuropa sind wir alle angetreten mit den sechs Gründungsstaaten und der politischen Union im Maastrichter Vertrag und so weiter. Das ist tatsächlich in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU seit 2004 nie so gewesen oder nie so erzählt worden. Die sind damals, das muss man auch mal deutlich sagen, erst im Wesentlichen zur NATO gekommen, also über die Sicherheit, und dann war die EU so ein bisschen das i-Tüpfelchen. Und insofern stimmt das schon, dass dieses Bewusstsein, dass Europa mehr ist als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, das ist in Ostdeutschland nicht so zu finden.

Polykrise in Europa

Kassel: Nun muss man aber ganz ehrlich sagen, dass in mehreren mittel- und westeuropäischen Ländern, in Österreich, wo Sie ja überwiegend arbeiten, in Italien, aber zum Beispiel auch in Dänemark rechte Regierungen gewählt worden sind in demokratischen Wahlen, nicht nur wegen ihrer Einstellung in der Flüchtlingspolitik, sondern auch, weil sie überwiegend eine europakritische Einstellung haben. Da scheint also doch nicht nur im Osten irgendwo ein Problem zu liegen.
Guérot: Nein, überhaupt nicht. Und außerdem haben wir nicht ein Problem, sondern wenigstens – ich meine, drei, vier, fünf. Wir haben eine Polykrise, und das größte Problem ist, dass das ja alles heute wie so ein Rastafari-Zopf erscheint. Wir kriegen das ja nicht mehr auseinander. Bankenkrise, Eurokrise, Sparpolitik, Austeritätskrise, Populismus, Nationalismus, Vertrauensverlust. Dazu Putin, Handelskrieg mit Trump und so weiter. Das heißt, wir stellen uns wesentliche strategische und geopolitische Fragen über die Zukunft Europas, und wir kriegen die nicht miteinander verknüpft, weil am Ende des Tages wollen wir das dann alles auch noch mit 0,9 Prozent Budget vom europäischen Haushalt machen.
Da liegt wirklich ein Problem. Wir haben auch entscheidende institutionelle Fragen nicht geklärt, wer eigentlich entscheidet – immer nur der Rat – die institutionelle Legitimität. Das heißt, die Morosität der EU, die man im Moment in allen Teilen fühlen kann, hat viel damit zu tun, dass wir natürlich auch jahrzehntelang genau wie die Katze um den heißen Brei geschlichen sind, nämlich, ist das jetzt ein politisches Projekt, binden wir das irgendwie zusammen? Gibt es da mal eine europäische Regierung, ja oder nein? Und weil wir die Frage nie entschieden haben, streiten wir uns jetzt wie die Kesselflicker zu allen Themen gleichzeitig – wer entscheidet hier? Der Nationalstaat, die EU, Flüchtlingsschlüssel, Ungarn sagt nein, und so weiter, und so weiter.
Kassel: Damit haben Sie mir fast die nächste Frage kaputt gemacht. Ich stelle sie natürlich trotzdem. So, wie Sie das gerade beschrieben haben, sind Sie von Ihrer sinnvollen Zukunftsvision einer europäischen Republik, also nicht nur einem Zusammenschluss von Staaten, sondern einem EU-Staat, nicht ganz runtergekommen bisher, oder?
Guérot: Wissen Sie, das ist eine dialektische Bewegung. Ich wäre davon längst runter, wenn das Buch ein Flop gewesen wäre. Ist es aber nicht. Und insofern habe ich das Gefühl, dass die Nachfrage nach dem Buch oder nach der Idee sozusagen korrelativ steigt mit diesen Problemen der EU. Wir sehen ja, und das ist ja tragisch – ich möchte das deutlich unterstreichen, das ja tragisch. Ich meine, an der EU hängt unser Geld, da hängt der Euro dran. Das ist kein Ponyritt, was wir da jetzt gerade verhandeln. Wenn Systeme sozusagen handlungsunfähig sind, dann merken es die Bürger. Und weil sie es jetzt gerade merken, ist ja diese Krise.
Boris Johnson am Sonntag (18.3.2018) vor Medienvertretern in London.
Großbritanniens Außenminister Boris Johnson © imago / i Images
Abgesehen davon muss man ja auch sagen, dass ein Teil dieses sogenannten Rechtspopulismus ja tatsächlich, und das ist ja immer auch das, was so geleugnet wird, aber man muss es leider sagen, die Rechtspopulisten haben in vielem mit ihrer Kritik gegenüber der EU einen Punkt. Wenn Boris Johnson sagt, UKIP, Brexit, "I am not in control", "Ich kontrolliere da nichts", dann hat er leider recht. Und deswegen ist die Legitimitätskrise der EU die größte Krise. Wir wissen nicht, wer da was entscheidet, auf welchen Grundlagen. Das ist in letzter Konsequenz nur bedingt demokratisch. Natürlich alles legal, aber nicht richtig legitimiert durch Bürgerwillen, und das merken die Bürger, und wir haben die Kritik daran tatsächlich diesen sogenannten Populisten überlassen.
Das Problem ist aber, die Kritik wird von Wissenschaftlern genauso gemacht, dass das System einfach mangelhaft ist. Und wenn ein System nicht reformfähig ist, dann überlässt man die Kritik den sogenannten Anti-System-Parteien, und das ist über zu lange Zeit passiert, und wir haben das erlaubt, weil wir immer nur gesagt haben, die EU ist alternativlos, und wer nicht für die EU ist, der ist eben kein liberaler Demokrat. Und das war, glaube ich, wirklich ein Problem.
Zurück zu meiner Utopie: Ich glaube schon, dass wir jetzt nicht mehr umhinkommen, uns die zentrale Frage der Legitimität der EU zu stellen. Wenn wir die stellen, sind wir bei ganz anderen Fragen. Wollen wir eine Demokratie? Was ist die Grundlage für eine Demokratie? Wie können wir den Parlamentarismus in der Europäischen Union reformieren? Ich gebe mal ein klares Beispiel. Wir reden über den Europäischen Finanzminister, soll es den geben, ja oder nein? Die Antwort ist, den kann es gar nicht geben, solange wir kein Budget haben, für das der verantwortlich ist. Und solange dieses Budget nicht von einem Europäischen Parlament verantwortet wird, wie jeder Finanzminister sich vor einem Parlament zu verantworten hat, das auf anderem Grundlagen stehen muss als das EP, das wir heute haben.

Der europäische Souverän

Kassel: Andere Frage noch zum Schluss. Angesichts dieser 28, bald noch 27 Staaten, die doch so unterschiedliche Ideologien zum Teil auch zu haben scheinen, geht vielleicht mehr Europa am Ende doch nur mit weniger Mitgliedsstaaten?
Guérot: Ja, mehr oder weniger Europa ist schon mal die falsche Frage. Wir brauchen, wie ich sagte, ein ganz anderes Europa, ganz andere Grundlagen, andere parlamentarische Demokratie. Dann geht es auch nicht mehr um Mitgliedsstaaten oder um bilaterale Formate oder um Deutschland und Frankreich. Frei nach Kurt Tucholsky, "Legitimität geht immer vom Volke aus und kommt so schnell nicht wieder." Die europäischen Bürger sind der europäische Souverän. Wir brauchen Gewaltenteilung.
Die sonenbeschienene blaue Flagge mit dem gelben Sternenkreis flattert vor einem dunklen Himmel. 
Die EU erlebt gerade stürmische Zeiten © Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Diese Fragen liegen auch auf dem Tisch. Sie werden natürlich vom politischen Raum gemieden, und insofern kann ich nur sagen: Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie. Wenn wir das jetzt nicht vollenden – es geht hier um Vollendung eines Projektes – wir wollten ja seit '92, Maastrichter Vertrag, eine politische Union –, wenn wir das jetzt nicht vollenden, dann könnte es sein, dass wir einen hohen Preis bezahlen, nämlich dass wir auch die Währung und den Markt auf Dauer nicht erhalten, weil natürlich wir wirklich Morosität im System haben, also wirklich morsche Balken. Und deswegen ist da ganz akuter Handlungsbedarf.
Kassel: Ulrike Guérot, unter anderem Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität in Krems, über den Zustand der EU und die Zukunft, die sie nur unter gewissen Bedingungen noch haben kann.
Guérot: Frau Guérot, ich danke Ihnen recht herzlich für das offene Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss, Dietz Verlag, 2016, 18 Euro.

Ulrike Guérot, Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde, Ullstein Verlag 2017, 8 Euro.

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