Ulrike Draesner: "Schwitters"

Im Kosmos eines Ausnahmekünstlers

06:21 Minuten
Das Cover von Ulrike Draesners Roman “Schwitters” vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Ulrike Draesner erzählt mit hoher Kunstfertigkeit - im Zentrum ihres neuen Romans steht der dadaistische Künstler Kurt Schwitters. © Penguin / Deutschlandradio
Von Carsten Hueck · 12.09.2020
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Ulrike Draesner hat einen Roman über das Leben von Kurt Schwitters geschrieben. Die Autorin bringt uns einen Mann nahe, der einen nachhaltigen Einfluss auf die Kunst des 20. Jahrhunderts hatte. Das Buch "lebt und atmet", urteilt unser Kritiker. *
Im Herbst 1936 fährt bei Kurt Schwitters‘ Nachbarn in Hannover ein Lastwagen vor. Ihr Haus wird geräumt. Auch die Bewohner selbst werden verfrachtet, nach 361 Jahren in der niedersächsischen Stadt gilt die jüdische Familie nun nicht mehr als deutsch.
Wie ein Menetekel deutet die Eingangsszene des neuen Romans von Ulrike Draesner auf das Schicksal der titelgebenden Hauptfigur. Auch Kurt Schwitters, Maler, Dichter, Initiator von Dada Hannover und Erfinder der Merz-Kunst, wird bald seine Heimat verlassen müssen.

Exil in Norwegen

Obwohl Arier, gelten Schwitters‘ Collagen und Gedichte den Nazis als entartet. Seine Lust an Wortspielen und höherem Unsinn, seine humoristischen und experimentierfreudigen Kunstwerke passen nicht in eine Zeit, die statt wuchernder Lebenslust straff organisierte Kraft durch Freude propagiert.


Schwitters geht Anfang 1937 ins Exil nach Norwegen. Sein Sohn Ernst lebt bereits dort. Ehefrau Helma bleibt zurück. Sie versorgt die beiden von Hannover aus und schützt Schwitters‘ künstlerisches Werk vor dem Zugriff der Gestapo. Insbesondere den Merzbau, eine auch "Kathedrale des erotischen Elends" genannte, raumübergreifende Installation, die schließlich bei einem alliierten Bombenangriff zerstört wird.
In einer kleinen Hütte nahe Oslo beginnt Schwitters mit der Konstruktion eines neuen Merzbaus. Bis die Wehrmacht Norwegen besetzt und Schwitters in letzter Minute nach England fliehen kann.

Neuer Anlauf für Merzbau

Erst wird er interniert, dann zieht er nach London und schließlich in den dörflichen Lake District. In einer Scheune nimmt er, gesundheitlich schon angeschlagen, einen erneuten Merzbau in Angriff. Auch der bleibt unvollendet, denn Schwitters stirbt 1948 mit nur 60 Jahren.
1965 wird diese letzte Installation von Künstlern und Studenten ausgebaut und in eine Galerie transportiert. Das ist das Schlussbild des Romans: noch einmal ein Lastwagen und ein Transport.
Anhaltende Bewegung, Neuanfänge, das Leben als unvollendete Collage, Umdenken und Umwegdenken, die Kunst dabei als roten Faden, Verstrickung und Abriss, Verlust und Heimatlosigkeit sind die Themen, die Draesner in immer neuen Spiegelungen intelligent und wortmächtig, fein und lustvoll gestaltet. Nicht nur der klug verspielten Sprache von Schwitters – von der gerade heute wieder etwas ungemein Erfrischendes ausgeht –, sondern dem gesamten Kosmos des Ausnahmekünstlers, Klein- und Großbürgers, Erotikers und Exilanten begegnet man als Leser.

"Schwitters" lebt und atmet

Der Roman ist keine Biografie, keine literaturwissenschaftliche Unternehmung. Gleichwohl verarbeitet die Autorin historisches Material und bringt uns mit hoher Kunstfertigkeit eine Figur nahe, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Kunst des 20. Jahrhunderts hatte.
Draesners "Schwitters" lebt und atmet. Das gilt für alle Figuren, die vorkommen, insbesondere aber Ehefrau, Sohn und die englische Geliebte. Spürbar als Mensch und Künstler ist Kurt Schwitters, sein Denken und Sprechen plastisch wie ein Merzbau. Der sollte nicht angesehen, sondern von innen erlebt werden. Das schafft Draesner. Ihr Roman ist eine abwechslungsreiche und vielschichtige Komposition, in der Innen- und Außenräume irgendwann zum verführerischen Gesamtkunstwerk verschmelzen.

Ulrike Draesner: "Schwitters"
Penguin Verlag, München 2020
470 Seiten, 25 Euro

*) Wir hatten an dieser Stelle eine falsche Angabe zur religiösen Zugehörigkeit von Kurt Schwitters und haben das korrigiert.
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